Ausgewählt, ediert, übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Robert Hodel
Momcilo Nastasijevic ist einer der bedeutendsten serbischen Dichter des 20. Jahrhunderts und hat eine enorme Wirkung auf mehrere Generationen südosteuropäischer Schriftsteller ausgeübt. Er fesselt durch die ihm eigene Spiritualität, Sinnlichkeit und sprachliche Originalität. Seine Dichtung begibt sich auf Augenhöhe zu den französischen Symbolisten, den deutschen Expressionisten sowie den russischen Futuristen. Seine Sprache ist hochmetaphorisch, teilweise hermetisch und äußerst musikalisch. Diese Ausgabe stellt den ersten Versuch dar, Nastasijevics Texte umfassend ins Deutsche zu übertragen.
Um den Dichter in seiner ganzen Vielfalt vorzustellen, enthält dieser Band neben dem Hauptwerk "Sieben lyrische Kreise" eine Erzählung, das Manifest "Für eine muttersprachliche Melodie" sowie eine Einführung in Leben und Werk.
Momcilo Nastasijevic: 1894 – 1938, bedeutender serbischer Lyriker, Romancier, Dramatiker, Essayist sowie Gymnasiallehrer für Französisch in Belgrad, der zu seinen Lebzeiten nur in einem Kreis von Künstlern bekannt war, postum aber vor allem in Serbien hoch geschätzt wurde und wird.
Schalmei, was breitet mein froher
Atem betrübt im Tal sich aus?
Sind’s die Hirten, die verstarben,
die mit dir die Liebste riefen?
Oder setzt Trübsal in mir an:
ein Pfeil aus dem Himmel mich traf,
die finstere Erde mich stach,
dass nun mein Lied eine Träne
und ein Tropfen Blut verzieren?
Oder mein Hauch dir, der zerfließt,
Gram ums entflohne Geheimnis?
Espen
Was rauschen die weißen Espen,
die reinsten Mädchen der Berge,
wenn Pfeile nach ihnen silbern
die Morgensonne schleudert,
und Lerchen durch die Lüfte jauchzen?
Wenn kühle, wenn Tropfen, feine,
hinab ihren Körper rinnen,
wenn Nebel auf grüner Lichtung
den milchenen Reigen winden?
Was neigen sich ihre Häupter,
und mischen ihr Haar die Sanften,
was zittern die Nackten?
Nicht Kälte lässt sie erschaudern,
nicht Angst schnürt ihr Herz zusammen,
denn einsam auf Bergen sie wuchsen.
Doch aus dem Schlaf – dem heitern Finstern
erschüttert, was munter sie träumten,
nun flüstern sie Sonne, Nebel, Lichtung
frühmorgens ein weißes Geheimnis zu.
Aus der Einleitung von Robert Hodel
Die „Sieben lyrischen Kreise“ [Sedam lirskih krugova] setzen sich aus dem 1932 veröffentlichten Band „Fünf lyrische Kreise“ [Pet lirskih krugova] und den beiden später hinzu gekommenen Zyklen „Augenblicke“ [Magnovenja] und „Widerhallen“ [Odjeci] zusammen und bilden den Kern der Nastasijevi?schen Lyrik. Sieht man von den Übersetzungen ab, liegt über diesen Band hinaus nur eine sehr begrenzte Anzahl „früher Gedichte“ vor, die der Dichter in Anlehnung an die französischen Parnassisten und Symbolisten meist in strenger Vers- und Strophenform verfasste.
Der Hauptgrund dieses schmalen Opus liegt darin, dass Nastasijevic zeit seines Schaffens an einem einzigen lyrischen Text schrieb. Davon zeugen eindrücklich die Gesammelten Werke. Die „Sieben lyrischen Kreise“ umfassen hier insgesamt 430 Seiten, wovon die „Versionen“, die dazu noch im Kleindruck stehen, nicht weniger als 316 Seiten ausmachen. Allein vom Gedicht „Abendliche“ [Vecernja] sind 22 Versionen erhalten, die der Dichter in einem Zeitraum von mindestens zehn Jahren schrieb. Auch vom späteren, fünften Zyklus „Worte im Stein“ [Reci u kamenu] lässt sich nachweisen, dass er in einer Zeitspanne von sieben bis neun Jahren entstanden ist.[1]
Nastasijevi? kehrt immer wieder zu denselben Gedichten zurück, überarbeitet sie mehrfach vollständig oder fügt feinkörnige Veränderungen hinzu. Dabei löst er sie immer mehr von konkreten Bezügen und Situationen und führt sie einem Sprachraum zu, in dem sich auch die Regeln der Grammatik dem Bestreben nach Reduktion, Verdichtung und Mehrdeutigkeit beugen.
So wie die einzelnen Gedichte von Version zu Version abstrakter werden, zeigen auch die sieben „Kreise“ eine Entwicklung vom Expliziten und Konkreten zum Hermetischen und Abstrakten. Die ersten beiden Kreise „Morgendliche“ [Jutarnje] und „Abendliche“ [Vecernje], deren Titel auf die „Morgen-“ und „Abendandachten“ anspielen, sind in ihrer Thematisierung des Frühlings und des vergoldenden und den Tod ankündenden Herbsts einem traditionellen Verständnis noch weitgehend zugänglich. Auch lassen beide Kreise in Form und Inhalt deutliche Anlehnungen an die mündliche Verstradition erkennen. Dennoch weisen auch sie bereits Stellen auf, die durch gezielte grammatische Verstöße, kühne Ellipsen und vielschichtige Oxymora rätselhaft wirken. Eine solche Entautomatisierung des Wahrnehmungsvorgangs bereitet den Leser für die späteren Kreise vor, die nur mehr wenig Anhalt in erkennbaren Situationen und einschlägigen grammatischen Mustern bieten.
Der dritte Kreis „Wachen“ [Bdenja], in dessen Mitte ein Subjekt steht, das mit sich und der Welt hadert, führt im Titel die religiöse Assoziation der ersten Kreise fort. „Bdenja“ ließe sich auch mit „Vigilien“ übersetzen, mit nächtlichen Andachten also, die ein großes Ereignis ankündigen. Eine gewisse Konkretheit bewahrt dieser Zyklus auch durch die Selbstanklage des lyrischen Subjekts und seine Auseinandersetzung mit dem sozialen und familiären Umfeld. Oft jedoch kann der Leser nur ahnen, was das lyrische Ich antreibt, und auch das große Ereignis wird nicht nur nicht benannt, sondern verharrt in einem symbolischen Raum, der höchst unterschiedlich deutbar ist.
Höhepunkt der hermetischen Dichtung sind die Kreise „Taubheiten“ [Gluhote] und „Worte im Stein“ [Reci u kamenu]. Auch hier tauchen zentrale Motive der ersten Kreise wieder auf, doch wird dieses ambivalente Erleben von Freude und Schmerz, Liebe und Tod, Anmut und Wollust, Natur und Zivilisation zusehends gedankenlyrisch verarbeitet und in die Sprache selbst hineingetragen. In dieser Abstraktion steckt zugleich der Versuch, die Gegensätzlichkeit und Zerrissenheit des Lebens zu „verwinden“ [preboleti], wie sich der Dichter selbst mehrfach ausdrückt. Hierbei ist sich das lyrische Ich sehr wohl bewusst, dass dieser Prozess unabgeschlossen bleiben muss, da sein Streben nach dem Geistigen in einem ständigen Wettbewerb mit der Faszination des Sinnlichen steht.
Eine nahe liegende Deutung dieser „Verwindung“ steht im Zeichen der Transzendenz, jedoch drängt sich dieser metaphysische Zugang, der sich vor allem auf religiöse Motive stützt, keineswegs auf. Nicht minder präsent ist die Suche nach einer Existenz als Dichter. Dieses Thema, das bereits im eröffnenden Gedicht „Schalmei“ [Frula] anklingt, schält sich im Verlaufe der sieben Kreise immer mächtiger heraus.
In „Schalmei“ ist der dichterische Gesang noch in eine traditionelle Hirtenszene eingebettet und daher nur unterschwellig vorhanden. Von Beginn an geht dieses Singen jedoch mit dem Motiv der Einsamkeit und der Separierung einher. Ein bereits deutlicher Zeuge einer schmerzlichen Vereinsamung ist das dritte Gedicht „An die Quelle“ [Izvoru]: Das Schalmei spielende Ich rückt in den Schatten, damit an der Sonne die Verehrte im Kolo auftanzen kann. Diese Separierung verursacht in ihm das Gefühl einer lastenden Schuld. Nicht nur den patriarchalischen Vorstellungen seiner Umgebung kann der Sänger nicht genügen, sein Weg droht sich auch in den eigenen Sehnsüchten zu verlieren.
Ein erster Versuch der Umwertung der tradierten und weitgehend internalisierten Werte erfolgt im Gedicht „Ruhen der Bäume“ [Mirovanje drveta]. Das Ich möchte hier Anwalt der stummen Stämme sein: „schmerzt es, wenn / die Axt in euren Körper schlägt? // Und lindert es, / wenn für euch Stumme / ich Gequälter aufschrei?“ Und am Ende heißt es: „Als Gequälter da, / Gefährten, für euch stumme, // flüsternd zu den Höhen / ein mildes Wort ich sprech.“ (I, 44-45)
Eine wichtige Etappe dieser Individuation ist die Abgrenzung vom traditionsbestimmten, gewöhnlichen Leben. In aller Schärfe erfolgt sie im Gedicht „An den Vater“ [Roditelju], in dem das lyrische Subjekt, das sich als „Frucht ohne Frucht“ bezeichnet, sich offen gegen den „Gebärer“ wendet, um seinen eigenen Weg zu behaupten: „Sterbend im Leben / Streif ich das blinde Geburtsmal ab. // Und nicht wie du / Kopfüber in die Befruchtung / Blind zum Festmahl.“ Dieser Weg erweist sich jedoch nicht weniger als Entschluss denn als schicksalhafte Bestimmung: „Sondern im Willen, der mich nicht schuf, / Öffne ich den Weg, sieh, / Mir zur Vernichtung, / Den Ungeborenen zum Frieden.“ (I, 50)
Bereits versöhnlicher klingt diese Bestimmung im Gedicht „Worte aus der Einsamkeit“ [Re?i iz osame]. Zwar bezahlt das Ich seinen Weg auch hier am Ende mit dem Tod – „Ich kleide mich in Stille, / durch das Geheimnis spricht der Stoff. // Asche, mich, die Winde stieben, / es bleibt die Glut“ (I, 98) –, doch vermag es in seinen „Liedern“ [pesme] bereits auch seine Nachkommen zu erkennen: „Kinderlos, / schreite ich der Wahrheit zu. // Söhne begleiten mich / und Töchter.“ (I, 99)
Auch das Gedicht „Saite“ [Struna] spielt auf den Künstler als Sänger an. Es ist derselbe schöpferische Geist, der im Essay „Für eine Mutter-Melodie“ [Za maternju melodiju] als „Priester“ einer „absoluten Religion“ bezeichnet wird. Doch auch diese Saite erklingt nur, indem sie birst: „Gesprungen, verstummend im Tod sich / die Saite verlauten läßt.“ (I, 100) Nicht mit Lorbeer wird der Dichter bekränzt, sondern mit Dornen: „Ob es [das Herz] weinte oder sang / zur Gegengabe aus Dornen / man heimlich ihm eine Krone flocht.“ (I, 101)
So haftet der Versöhnung mit dem eigenen Schicksal ein Stachel an, der unerbittlich ins eigene Fleisch bohrt und darin die Sinnlichkeit der menschlichen Existenz stetig manifest macht. In diesen unauflöslichen Gegensatz mündet auch der letzte Kreis „Widerhallen“ [Odjeci] ein.
Dieser siebte Kreis umfasst sieben Gedichte. In den ersten fünf variiert der Autor Themen aus den ersten drei Kreisen. So hallen etwa in „Trompete“ [Truba] und „Morgen“ [Jutro] Motive und Verse der Gedichte „Begräbnis“ [Pogreb] und „Rosiger Tropfen“ [Rumena kap] wider. Mit dem sechsten Gedicht „Aus der Einsamkeit“ [Iz osame] spitzt sich der Gegensatz zwischen Geburt und Tod zu und wird an die Vorstellung zweier konträrer Lebensorte gebunden. Von einem kalten „hier“ aus erinnert sich das Ich an die schweigenden Dächer seiner Heimat. Doch gilt sein Aufruf „Bleib wo du bist, / und fließe wie ein Fluss, / und wachse wie ein Baum, / und als Sturm heule auf, / oder blühe wie eine Blume“ nur mehr einem imaginären Gegenüber. Denn nicht nur hat die Beschreibung des einstigen Heims etwas Beklemmendes („In meiner Heimat / gebückte Dächer schweigen / und Wasser rinnen / und Rauch über die Erde schleicht“, I, 119), die Heimat liegt auch in einer unwiderruflichen Vergangenheit.
Dieses Sehnen nach einem Ursprung, dessen Enge etwas Anziehendes und zugleich Imaginäres hat, erinnert an eine „Beiläufige Notiz“ [Uzgredna zabeleška] aus den frühen Zwanziger Jahren aus der Rubrik „Blicke in mich selbst“ [Pogledi u sebe]. Von der Unwiderruflichkeit der Vergangenheit spricht in dieser Aufzeichnung auch die Metapher der Entwurzelung: „Zwei Kräfte kämpfen in mir: Wo ich lebe, dringen aus mir immer neue Wurzeln in die Dinge und Wesen ein, und das Leben wird mir stetig reicher an Säften der Umgebung. Doch dann kommt ein Ruf aus der Ferne: in der Silhoutte der Berge am Horizont, im Lauf des Wassers, im Flug der Vögel. Da reiße ich die Wurzeln unbarmherzig aus; eine tiefe Trauer des Abschieds schleppt sich wie ein Schatten hinter mir her.“ (IV, 347)
Auch die „Verwindung“ im siebten lyrischen Kreis muss so unvollendet bleiben. Das lyrische Ich steckt, um in einem anderen Bild des Dichters zu sprechen, inmitten einer Furt [brod]: „Mit dem Gang da ins Ungängige, / mit dem Unweg ins Wegelose, / und Furten, um nicht zu durchfurten.“ (I, 90)
Und dennoch strahlt der Band an seinem Ende eine gewisse Ruhe aus. Indem das abschließende siebte Gedicht „Mär“ [Prica] den Lauf der Jahreszeiten besingt, fasst es den gesamten Zyklus noch einmal gedrängt zusammen. Und in dieser gerafften Erzählung der zyklischen Natur findet der Dichter seine paradoxale Aussöhnung mit dem Unversöhnlichen.
—
Die „Sieben lyrischen Kreise“ gelten zurecht als Gedichtzyklus. Doch nicht nur die 75 Gedichte bilden eine weitreichende Einheit, ihr Grundstock an Motiven, die der Dichter bereits um die Mitte der Zwanziger Jahre erarbeitet hat, prägt sein gesamtes Opus. Nastasijevic schreibt in allen drei Grund-Gattungen gleichzeitig, sodass Figuren, Gedanken, Bilder und sprachliche Verfahren von Text zu Text wandern. Die hier folgende Beschreibung einiger sprachlicher Aspekte seiner Dichtung trifft deshalb weitgehend auch auf die Dramen und die Prosatexte zu.
Ein offensichtlicher Grund, warum Nastasijevics Werk schwer zugänglich ist, liegt in der Lexik. Wie Andrics Romane nicht ohne Register der verwendeten Turzismen auskommen, steht auch im Anhang der Nastasijevicschen Gesammelten Werke (I-IV) ein „Wörterbuch weniger bekannter Lexeme“ [Recnik manje poznatih reci]. Während sich unter diesen Wörtern im Prosaband (II) zahlreiche Turzismen finden, sind es im Lyrikband (I) vor allem Archaismen aus der Volksdichtung und der mittelalterlichen Schriftkultur. Hierbei entnimmt Nastasijevi? der schriftlichen und mündlichen Tradition nicht nur einzelne Wörter und Phraseologismen, er prägt in deren Geist auch neue Ausdrücke. So formt er beispielsweise nach dem volkssprachlichen Muster „Angst [erfasst, drückt] mich“ [strah me] eine ganze Reihe analoger Ellipsen: „Traurigkeit mich“ [seta me], „Durst mich“, „Einsamkeit mich“ [osama me], „Schmerz mich“ [bol me], „Gericht mich“ [sudnje me], „Gram dich“ [¸al te] und gar (im Zyklus Taubheiten / Gluhote) „seltsam mich dieses Frühjahr die Kälte“ [?udno me u proleti ovoj zima]. Ein weiteres Muster von Neologismen ergibt sich aus der für die Volkspoesie charakteristischen Zwillingsformel „Schönheit-Mädchen“ [lepota devojka], die der Dichter auf Verbindungen wie „Wasser-Wunder“ [voda zudo], „Lamm-Sohn“ [agnec-sin], „Perle-Durst“ [biser-¸e?a], „Ursprung-Meer“ [iskon-more], „Flamme-Befruchtung“ [plamen-oplo?enje] anwendet. Diese Verdopplungen führen nicht selten zu einer Irritation darüber, was nun im Satz als Subjekt, beziehungsweise als Objekt zu verstehen ist.
Nicht nur Verben lässt der Dichter gerne aus, sondern in futuristischer Manier auch sekundäre Wortarten wie Konjunktionen, Präpositionen oder Reflexivpronomen. Zugleich unterwandern rhetorische Figuren wie die Inversion, der Satzeinschub (Hyperbaton), die Kreuzstellung von Satzliedern (Chiasmus) und der Satzabbruch (Anakoloth) die neutrale Wortfolge, sodass sich Wörter syntaktisch sowohl nach links wie nach rechts beziehen lassen. So möchte man das erste Wort des Zweizeilers „Zweier / Kreuzung vor der Sonne“ [Dvojih / pre sunca ukrštaj; IV, 72] aus „Worte im Stein“ [Reci u kamenu] zunächst auf die Sonne beziehen, was grammatisch nicht abwegig ist („Kreuzung zweier Sonnen“/ukrštaj dvojih sunca); da jedoch dadurch die Präposition „vor“, die den Genitiv regiert, ohne Bezugswort bleibt, muss neu zusammengedacht werden. Im Gesamtkontext bestätigt sich schließlich, dass es sich wohl um den Beischlaf zweier Liebenden vor Sonnenaufgang handelt. Doch auch die irreführende Assoziation mit den beiden Sonnen behält ihre Berechtigung bei, sodass den Liebenden eine kosmische Dimension verliehen wird.
Ein sehr häufiges poetisches Verfahren ist der verfremdende Umgang mit dem Dativ und dem Instrumental. Beide Fälle lassen sich an dem folgenden Zweizeiler aus „Trauer im Stein“ [Tuga u kamenu] erläutern: „Mit der Wurzel im Stein / schließ ich der Trauer den Kreis“ [Korenom u kamenu / tuzi zatvaram krug; I, 94]. Die Wurzel [koren] ist in diesem Vorgang nicht bloß Instrument, ihr haftet auch ein kausales Moment an. Es ließe sich sinngemäß auch sagen: Indem das Ich in den Stein einwächst, schließt es „der Trauer“ den Kreis. Der auffällige Dativ bewirkt auch im Original eine Personifizierung der Trauer, sodass sich der bewusste Anteil des handelnden Ich vermindert.
Eine weitere Verständnishürde bilden die fehlenden Akzente. Sie werden im Štokavischen[2] regelhaft da gesetzt, wo sie eine bedeutungsunterscheidende Funktion haben und wo sie im Kontext nicht auf Anhieb erkannt werden. Nastasijevic setzt nun Wörter nicht selten so zusammen, dass der fehlende Akzent Vieldeutigkeit geradezu provoziert. So können Verben bisweilen als Substantive („zore“ bedeutet sowohl ’sie leuchten’ als auch ’Morgendämmerungen’) oder Imperative als Aorist- und Präsensformen gelesen werden („prikloni“: ’beug!’, ’beugte’, ’beugt’). Noch häufiger als die Homographie, bei der identisch geschriebene Wörter unterschiedlich ausgesprochen werden, verwendet der Dichter das Prinzip der klassischen Homonymie – ein Verfahren, das für die Dichtung überhaupt charakteristisch ist. Selbst ein tonanlehnendes (enklitisches) Wörtchen wie te kann zwischen den Bedeutungen „und“, „dich“, „sodass“ und dem Relativpronomen „der“ schwanken. So heißt es im Gedicht „Zwei Wunden“ [Dve rane]: „Doch öffnen sich zwei. / Der Verwindung ich diese [sie] beibrachte, / meine ohne Verwindung, Bruder.“ . Das graphisch hervorgehobene „te“ kann im gegebenen Kontext sowohl als Demonstrativ- als auch als Relativpronomen gelesen werden, während die pronominale Bedeutung „dich“ defokussiert ist. Geht man von einem Relativpronomen aus, muss freilich auch das Lexem „Preboli“ als Imperativ gelesen werden: „Verwinde, was ich beibrachte“. Die Übersetzung kann dieses Schwanken nicht adäquat wiedergeben, auch wenn der Verlust begrenzt bleibt, da beide Varianten eine ähnliche Sinnintention verfolgen.
Schließlich seien hier noch die oft fehlenden Satzzeichen erwähnt, die eine Zeile oder eine Strophe auf der Schwebe zwischen Ausruf, Feststellung oder Frage halten können. Wenn z.B. das Wörtchen „li“ in der dritten Strophe der „Taubheiten“ [Gluhote] noch im Sinne einer konditionalen Konjunktion zu lesen ist („Und wenn es verstummt / I zamuknuv li“; I,55), so tendiert man in der achten Strophe in einer vergleichbaren Konstruktion eher zu einer Fragepartikel („Ob für die Schönheit wohl / I lepoti li“; I,60). Da in beiden Fällen jeweils nur ein Punkt gesetzt ist, bleiben grundsätzlich beide Möglichkeiten gewahrt.
Die Frequenz dieser verfremdenden Verfahren, die vor allem in den späteren Kreisen sehr hoch ist, bezeugt Nastasijevi?s Nähe zur Avantgarde. Der Dichter war mit den avantgardistischen Strömungen seiner Zeit – vom Futurismus bis zum Surrealismus – nicht nur bestens vertraut, viele Vertreter dieser -ismen waren auch regelmäßig Gast im Salon seiner Familie. Die Gedichtversionen lassen dabei detailliert nachvollziehen, wie systematisch der Autor diese sprachlichen Reduktionen betrieb und wie konsequent er Mehrdeutigkeit ausbaute.
Es wäre also irreführend, in Nastasijevic einen Dichter zu vermuten, der eine alte, mittelalterliche oder volksliedhafte Welt wieder aufleben lassen wollte. Die archaischen und volkspoetischen Elemente schaffen nicht die Ambiente alter, vergangener Tage, sie beschwören nicht eine nationale Grundlage, sie dienen im neoprimitivistischen Sinne der Selbsterkenntnis. Der Dichter findet über die Tradition den Zugang zu etwas Ursprünglicherem, Authentischerem und, wie er im Essay „Für eine Mutter-Melodie“ [Za maternju melodiju] schreibt, „Allgemeinmenschlichem“. In einem Interview mit der Pravda vom 27.11.1930 antwortete er auf die Frage „Unsere Literatur erfährt sehr unterschiedliche Einflüsse. Wirkt sich dies förderlich aus?“ mit den Worten: „Das hängt vom Einzelnen ab. Wer tief in seinem Grund wurzelt, ist gerade dadurch offener für fruchtbare Einflüsse von den verschiedensten Seiten. Die Kunst ist die Kraft, die die Grenzen zwischen den Individuen und zwischen den Völkern vernichtet. Sie ist der Übergang vom tief Individuellen zum Depersonalen...“ (IV, 389)
Es ist also die Attitüde eines Picasso afrikanischen Masken oder eines Malevi? und Nolde dem ländlichen Holzschnitt gegenüber, die Nastasijevi? nach der „Muttermelodie“ suchen lässt. Hierbei ist er sich durchaus bewusst, dass auch seine Dichtung letztlich „auf eine Technik hinausläuft“ [svodi se na tehniku]: Solange die Kunst nicht reine Poesie ist, fährt er in seiner Antwort in der Pravda fort, „werden wir alle mehr oder weniger und jeder an seiner eigenen Stilomanie [stilomanija] leiden.“ (IV, 389)
Dies sagt freilich ein Dichter, dessen Werk sich dadurch auszeichnet, dass seinen sprachlichen Verfremdungen kaum etwas Spielerisches und Willkürliches anhaftet. Eher schon erwecken sie den Eindruck eines Rätsels und einer rätselhaften Welt, die in volkssprachliche, alte und mythische Schichten zurückgreift und dennoch ein modernes Bewusstsein dechiffriert. Freilich mussten Jahre und Jahrzehnte vergehen, bis sich eine wirkliche Bereitschaft fand, sich mit diesem enigmatischen Autor auseinanderzusetzen.
—
In den Dreißiger Jahren verschärfte sich die Haltung der Kritik auch gegenüber dem dramatischen Werk. Als am 5. Juni 1934 ein studentisches Amateur-Theater auf der ausverkauften Bühne der 1200 Plätze umfassenden „Kolarac-Stiftung“ [Kolarzeva zaduzbina] das Stück „Herr Mladens Tochter“ [Gospodar-Mladenova kcer] aufführte, fielen die Kritiken mehrheitlich negativ aus. Nastasijevic reagierte mit bitterer Ironie. Er warf den Rezensenten Furcht vor jenen Neuerungen vor, die sie selbst in Lippenbekenntnissen propagierten. Gleichzeitig begann er sich in zwei Essays, in „Zur Verteidigung des Menschen“ [U odbranu coveka, 1933-34] und „Für die Humanisierung der Musik“ [Za humanizaciju muzike, 1934], mit dem Menschen, der sich selber Wolf ist, fundamentalethisch auseinander zu setzen. Damit bewegte er sich – im Kontext der allgemeinen politischen Radikalisierung Europas – auf den konservativen Flügel des Landes zu.
Das moralische Grunddilemma zeigt sich für Nastasijevi? in dieser Zeit in der Unmöglichkeit, sich weder von der Natur ganz trennen noch ganz zu ihr zurückkehren zu können. Der Mensch sei von einer fundamentalen Unruhe ergriffen, die nur ein jeder selbst „verwinden“ [preboleti, IV, 74] könne. Vorbild eines solchen „verwirklichten Antlitzes des Menschen“ [ostvareni lik ?oveka] ist für ihn Christus. Wie in früheren Äußerungen geht Nastasijevi? auch hier nicht von einem extramundanen Gott aus, seine Begründung der Moral bleibt weltimmanent: „Ob wir nun an das Jüngste Gericht glauben oder nicht, jeder von uns wird es unzweifelhaft durch den Tod erfahren […] die ganze Schrecklichkeit unserer Unerfülltheit muss im Tod zu Tage treten“ (IV, 76), heißt es in „Zur Verteidigung des Menschen“. Und am Ende des Essays mahnt der Autor: „Dienste oder Bärendienste [pomoc ili odmoc] werden uns weder Himmel noch Erde leisten: auf sich allein gestellt schmiedet der Mensch sein Schicksal.“ (IV, 79)
Einen möglichen Weg der „Verwindung“ sieht Nastasijevi? in der Entfaltung einer inneren Heiterkeit, die er „Beschwingtheit“, wörtlicher übersetzt, „Singfreude“ [raspevanost, IV, 81] nennt, und die den Einzelnen mit seiner Umwelt wie auch mit den vergangenen Generationen verbindet. Und es ist nun diese Verbindung mit der Tradition, die ihn in den letzten Jahren seines Lebens in die Nähe nationalkonservativer Kreise bringt. Dabei finden sich in seiner Haltung noch immer die neoprimitivistischen Impulse der Avantgarde, doch erhalten diese im veränderten politischen Umfeld eine andere Färbung. Die westliche Zivilisation, heißt es in „Für die Humanisierung der Musik“ [Za humanizaciju muzike] weiter, hat diese Singfreude weitgehend verloren. Den höchsten Preis entrichtete in diesem Prozess dabei die schwarze Rasse: ihre mächtige und ursprüngliche Melodik und ihr Rhythmus sind, statt rettende Kraft des Westens zu werden, in Cabarets und Dancings verflacht und verniedlicht worden (IV, 85). Und auch die westliche Gesellschaft selbst hat sich in einer Mittelmäßigkeit eingependelt. Der dünnen progressiven Schicht gelang es nicht, die Mehrheit mit sich zu ziehen, sodass sich die „Unterschicht in der Rückständigkeit versiegelte“. Die Oberschicht hingegen, die nur dem Anschein nach die Führung inne hatte, wurde entwurzelt, „da sie von der Gravitation des allgemeinmenschlichen Laufs befreit war“ (IV, 87). Und wo sie Einfluss nahm, war diese „Aufklärung der Völker“ eine Aufklärung von „Rückständigen“, die nicht organisch verlaufen konnte, weil man dem „Unten“ [ozdo] entrissen und dem „Oben“ [ozgo] zu fern geblieben war. So pendelte man sich auf halbem Wege ein (IV, 87).
Auf diesen Artikel, aus dem eine gewisse Verbitterung spricht, als ob der Autor die kommende Katastrophe antizipierte, folgen drei Aufsätze im „Informativ-politischen Blatt“ [Informativno-politicki list] „Die Volksverteidigung“ [Narodna odbrana]. In ihrem Berufen auf ein ursprüngliches Melos treffen sie sich weitgehend mit der konservativen Ausrichtung des Organs, auch wenn sie in erster Linie den eigenen dichterischen Ansatz verteidigen. Als sich die Redaktion des Blattes ändert, endet auch Nastasijevi?s Mitarbeit. Die folgenden Artikel „Gegen eine Maschinisierung der Kunst“ [Protiv mašinizacije umetnosti] und „Religiöses Bedenken der Kunst“ [Religiozno osmišljenje umetnosti] erscheinen 1936 in der Zeitschrift „Der Christliche Gedanke“ [Hrišzanska misao]. Nastasijevi? entwickelt hier die in den vorhergegangenen Essays eröffnete Apologie seiner Kunst weiter. Besonders hebt er die Notwendigkeit des lebendigen Kontakts mit dem Publikum hervor und leitet daraus eine Kritik der modernen Unterhaltungsindustrie ab. Radio, Grammophon und Film würden, so argumentiert er, eine Gemeinschaft zwischen Produzenten und Publikum verhindern und damit die Mehrheit in eine passive, lediglich aufnehmende Rolle drängen (IV, 90).
Im zweiten Artikel klingen geradezu apokalyptische Töne an: „Und kein Wunder, dass sich die letzten künstlerischen Kräfte – nutzlos in einer antikünstlerischen Zeit – kontinuierlich dem Leben entzogen haben, bis sie in einem ’Elfenbeinturm’ Zuflucht fanden, um dort, mit sich allein, friedlich auszusterben.“ (IV, 95) Und werde die Kunst aus dem Turm vertrieben, schätzt der Autor die Machenschaften seiner Zeit ein, „missbrauche“ man sie, um „Fahnen“ [zastave] „aufflattern“ zu lassen (IV, 95).
Auch wenn Nastasijevi? mit diesen Aufsätzen erstmals den Versuch unternimmt, einem bestimmten literarischen Lager anzugehören und dieses mitzugestalten, bleibt sein Standpunkt des individuell bestimmten Künstlers unerschütterlich. Auch stellt seine publizistische Tätigkeit weiterhin nur den Nebenschauplatz seines Schaffens dar. Dabei liegt das Hauptaugenmerk seiner Schriftstellerei in diesen Vorkriegsjahren auf der Dramatik und Lyrik. Er verfasst das Musikdrama ?ura? Brankovi? und das Theaterstück „Beim ’Ewigen Zapfhahn’“ [Kod ’Ve?ite slavine’] und als Lyriker tritt er 1935-1936 mit Gedichten des sechsten und siebten lyrischen Kreises auf, die er überwiegend im „Serbischen Literaturboten“ [Srpski knji¸evni glasnik] veröffentlicht. Ebenfalls gedruckt werden die drei ersten Akte von ?ura? Brankovi? (1935, in der „Volksverteidigung“ [Narodna odbrana]), während der vierte Akt ungedruckt bleibt und der fünfte Akt erst 1937 erscheint.
—
Am 6. Mai 1936 erkrankte Nastasijevi? jäh. Anfänglich weilte er ohne verlässliche Diagnose zuhause, dann wurde er in das Allgemeine Staatliche Krankenhaus [Opšta dr¸avna bolnica] eingeliefert. Doch auch hier konnte die Ursache seiner hohen Temperatur nicht gefunden werden. In einem ärztlichen Zeugnis, das der Dichter selbst verlangte, steht: „Bestätigung. Dass Mom?ilo Nastasijevi? auf der Abteilung II für Innere Krankheiten dieses Krankenhauses vom 2. bis 28. Juni 1936 aufgrund seines schweren septischen Zustands (sepsis typhobacilosis) gelegen hat.“[3]
Als er sich im Juni wieder etwas erholte, entschied er sich, den Sommer in Gornji Milanovac zu verbringen. Hier schöpfte er vorübergehend neue Kräfte. Sie reichten aus, um die Arbeit am Gymnasium mit einem auf vier Wochenstunden reduzierten Lehrdeputat wieder aufzunehmen. Den Vorschlag der Schulleitung, einen längeren Erholungsurlaub in den Bergen anzutreten, lehnte der Dichter ab.
1937 zog die Familie von der Molerova in die Aleksandar-Nenadovic-Straße. Die sonntäglichen Treffen fanden auch in diesem Jahr regelmäßig statt. Wie die Philosophin Ksenija Atanasijevi? bezeugte, las Nastasijevic in den letzten Monaten seines Lebens in einem engen Kreis von Schriftstellern aus seinem Manuskript „Beim ’Ewigen Zapfhahn’“ [Kod ’Vesite slavine’] vor. Er hatte das Stück für eine Aufführung im „Volkstheater“ [Narodno pozorište] neu bearbeitet und sich dabei selbst über die konkrete Besetzung der Rollen Gedanken gemacht. Doch auch diesmal wies das Theater das Stück zurück. Nastasijevi? stand damit nicht nur gesundheitlich, sondern auch als Schriftsteller an einem Tiefstpunkt. Lediglich ein einziger kleiner Text sollte zu seinen Lebzeiten noch veröffentlicht werden: das Gedicht „Er“ [On]. Es erschien im Belgrader „Zeitgenossen“ [Savremenik], in dem auch sein erstes Gedicht erschienen war.
Nastasijevi?s Schaffenswille blieb jedoch ungebrochen. In Handschriften liegen aus dieser Zeit ein Filmszenario („Prinz Marko“/Kraljevi? Marko) und ein Ballett-Libretto („Lebendiges Feuer“/´ivi oganj) vor (für Letzteres schrieb Milenko ´ivkovi? die Musik). Und noch immer trieb Nastasijevi? der Plan des „Belgrader Romans“ um, den er nun unter dem Titel „Einsiedler in der Stadt“ [Pustinjak u gradu] zu realisieren gedachte.[4] Für dieses autobiographisch geprägte Werk reichte die Kraft jedoch nicht mehr aus. Anfang 1938 erkrankte Nastasijevi? erneut. Noch immer konnte die Krankheit nicht verlässlich diagnostiziert werden, doch wurde sich der Dichter immer mehr gewiss, dass es diesmal keine Rettung für ihn gab. Mehrfach fragte er den Bruder Svetomir, wie weit die Komposition des ?ura? Brankovi? gediehen sei. Für eine Aufführung war es freilich zu spät. Eine einzige Schaffensfreude nur sollte dem gescheiterten Dichter noch zuteil werden. Ein paar Tage vor dem Tod las ihm die Schwester Darinka den Artikel von Stanislav Vinaver vor, in dem der brillante Kritiker Nastasijevi? als Autor lobte, der als Einziger eine Erneuerung der serbischen Literatursprache angestrebt habe. Der Artikel ließ den Scheidenden vielleicht erahnen, welche Rezeption sein Werk einst erfahren würde.
Am 13. Februar starb Nastasijevic im Allgemeinen Staatlichen Krankenhaus [Opšta drzavna bolnica] im Alter von 44 Jahren. In der Todesstunde begleitete ihn Bojana Jelaca, mit der er sich seit Jahren eng verbunden fühlte. Auch sie sollte noch im selben Jahr an Tuberkulose sterben.
Momcilo Nastasijevic wurde am 14. Februar auf dem „Neuen Friedhof“ [Novo groblje] in Belgrad begraben. Auf dem hellen, schlichten Grabstein ließ die Familie das Gedicht „Epitaph“ aus dem sechsten Kreis „Augenblicke“ eingravieren.
Die schwermütigen Gedichte des Momcilo Nastasijevic: Ein serbischer Dichter der Moderne zum Entdecken von Ralf Julke, L-IZ
⇒ www.l-iz.de/Bildung/Bü cher/2013/04/Die-schwermuetigen-Gedichte-des-Momcilo-Nastasijevic-47883.html
Über das Menschenmögliche hinaus von Mónika Koncz auf fixpoetry
⇒ www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/momcilo-nastasijevic/sind-fluegel-wohl
Rezension von Ilma Rakusa in der NZZ
⇒ www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur/ein-serbischer-hermetiker-1.18145935
Robert Hodel im Interview
⇒ www.youtube.com/watch
Oft steht man ratlos vor den in diesem Band enthaltenen Gedichten, angefangen mit dem Vers, der ihm den rätselhaften Titel gab, bis zu den Zeilen in „Wehmut“:
Tage leuchten auf
Mädchen sterben Pflanzen
lieblich still.
"Der Versuch, anhand der im Original abgedruckten Gedichte (der lyrische Teil des Buchs ist zweisprachig) zu mehr Klarheit zu gelangen, scheitert kläglich. Denn das serbische Original ist ebenso unzugänglich oder genauso mehrdeutig wie seine Übertragung ins Deutsche. Beim Parallellesen gelangt man vielmehr zu der Erkenntnis, dass die deutsche Übersetzung, die zwar auf den Reim verzichtet, dafür aber dem Stil und der Wortwahl der Vorlage treu folgt, dem Dichter aufs Wunderbarste gerecht wird.
Der Dichter ist Momčilo Nastasijević. Zwischen den beiden Weltkriegen bis zu seinem frühen Tod 1938 schuf er ein buntes Werk aus Gedichten, Erzählungen, Theaterstücken und Essays. Der vorliegende Band enthält außer seinem Hauptwerk „Fünf lyrische Kreise“ eine Erzählung und einen Essay. Geboren 1894 in der serbischen Kleinstadt Gornji Milanovac war Momčilo Nastasijević Zeitgenosse von Ivo Andrić, MilošCrnjanski und Miroslav Krleža, die alle ebenfalls aus der Provinz stammten. Aber im Unterschied zu seinen berühmt gewordenen Schriftstellerkollegen blieb ihm Zeit seines Lebens die Anerkennung versagt, ja er wurde wegen der Unverständlichkeit seiner Poesie sogar als Verunstalter der serbischen Sprache abgetan. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine neue Generation serbischer Dichter sich für Nastasijevićs Spiritualität und Sinnlichkeit zu begeistern. Breite Popularität erreichte er dennoch nie.
Dafür ist seine Poesie zu hermetisch, zu dicht, schwer lesbar. Die Regeln der Grammatik und der Syntax ließ er oft zugunsten der Melodie zurücktreten. In seinem hier veröffentlichten Essay „Für eine Mutter-Melodie“ weist Momčilo Nastasijević, der auch ein glänzender Musiker war, auf eine enge Verbindung zwischen der Poesie und der Musik hin. Der Ton, die Melodie war für ihn entscheidend in der Kunst und folglich in der Poesie. Daher wandteer sich in einer Zeit, in der die serbische Poesie sich fremden Einflüssen öffnete, den Ursprüngen seiner Muttersprache zu und verlieh dadurch, wie der Literaturkritiker Borislav Mihajlović-Mihiz hervorhebt, der heutigen Sprache eine neue Melodie.
Nastasijevićs Sprache greift auf mittelalterliche und volkspoetische Muster zurück, bleibt gleichzeitig jedoch ganz gegenwärtig. Dieser ungeheuerliche Spagat hat den Übersetzer und Herausgeber Robert Hodel besonders fasziniert. Auf der einen Seite berührt das Rurale, das Heimatliche, das kindlich Reine, auf der anderen erstaunt die völlig moderne Sichtweise. Zwischen diesen beiden Welten, zwischen dem Ursprünglichen und dem Universalen, entsteht eine große Spannung, betont der Übersetzer, der als Slawistik-Professor an der Universität Hamburg lehrt.
An den Gedichten der „Fünf lyrischen Kreise“ hat Momčilo Nastasijević als Gymnasiallehrer in Belgrad jahrelang gefeilt, von manchen sogar an die zwei Dutzend Varianten geschaffen, wobei sein Bestreben erkennbar ist, mit möglichst reduzierter Sprache möglichst viel mitzuteilen. Oft wurden Verben zugunsten der Substantiva ausgelassen, unübliche grammatikalische Regeln aufgestellt, eine veraltete Syntax benutzt, eine freie Wortfolge betrieben und dabei Mehrdeutigkeiten bewusst in Kauf genommen. Erwähnt sei auch das archaische und folkloristische Vokabular der Gedichte, das den Belgrader Literaturprofessor ĐorđeTrifunović veranlasste, zu Nastasijevićs Lyrik ein Glossar zu erstellen.
Angesichts solcher schier unüberbrückbarer Hürden muss man den Wagemut, die mühevolle Arbeit und das daraus resultierende gelungene literarische Ergebnis von Robert Hodel würdigen. Umso eher, als Nastasijević die Ansicht vertrat, die Poesie sei als Melodie unübersetzbar. Obwohl schon als Student früh dem Werk Nastasijevićs zugetan, musste Hodel mehrere Kenner in Serbien konsultieren, ehe sein Buch zustande kam. Das enthält neben den erwähnten Übersetzungen ein ausführliches und liebevoll gestaltetes und mit Fotos ergänztes Vorwort. Auf diese Weise kann man Bekanntschaft sowohl mit dem Werk als auch mit der Vita dieses eigenbrötlerischen und einzigartigen serbischen Poeten machen, dessen Gedichte sich bei wiederholter Lektüre dem Leser zunehmend öffnen und ihn dabei in eine neue Empfindungswelt entführen." Mirjana Wittmann, Bonn, in den Südosteuropa Mitteilungen, 3/2014
Leider sind noch keine Bewertungen vorhanden. Seien Sie der Erste, der das Produkt bewertet.
Sie müssen angemeldet sein um eine Bewertung abgeben zu können. Anmelden