Gedichte
Die vorliegende Auswahl umfasst Gedichte der letzten Jahre – allesamt entstanden („ich schwöre es!“) eine Sekunde vor dem Erwachen.
Im ersten Teil Raum, Schachtel, neue Heimat geht es darum, die unmittelbare Umgebung des Lebens und Arbeitens mit einem Bleistift zu zeichnen, dessen Spitze ständig abbricht. Film ohne Tonspur wurde mit der Handkamera aufgenommen – so als würde sie selbst das Drehbuch schreiben. Bei den Tronies bin ich mir des Werkzeugs nicht ganz gewiss. Sie sind zuallererst Geschenk, ein Wink mit dem Fuß. Auch die Axt geht einem unterwegs leicht zur Hand und schafft Platz.
Zuletzt: Ich stelle mir vor, dass die Gedichte Dinge sind, die einen anschauen. Oder Tiere. Oder Blätter.
Gregor Mirwa lebt in Berlin und ist als Beobachter, Protokollant und Arbeitsmediziner tätig. Seit den 90er Jahren Schriften, Reisen (Nord- und Südamerika) und literarische Einmischungen. Co-Herausgeber von Minerva-Zeitschrift für Notwehr und Philosophie. Mit-Gründung des literarischen Salons Mittwochsgesellschaft. 1998, Erfindung des interkulturellen Festivals Le Week-end in der polnisch-deutschen Grenzstadt Gubin/Guben. Lesungen in Berlin, Hamburg, Zielona Gora, Sarajevo.
2011 erschien Berblingers Gang in der edition Der Strom, Ulm. Im Jahr 2015 Gast als Dorfschreiber und Montagsblogger im landmade.Kulturversorgungsraum in Strodehne an der Havel. 2016, Veröffentlichung des Schwanks Mach ma nich so dolle in Wahrsager No. 3.
Leseprobe
Bunter, süßer Reis
Zu einer Zeit als ich nachts in den
schwarzen Wirbeln des Nichts unterwegs
war und Tonbandstimmen aus dem All
hörte. Die Stimme meiner Großmutter
am Bett, welche die Litanei zu Ehren
unserer lieben Frau mit dem Jesuskinde
über mir glatt strich, war
ruhig.
In diesen Tagen stand der Schreibtisch
rechts und die Truhe mit den Geheimnissen
passte hinter die Tür.
Bis einmal gegenüber im Kleiderschrank ganz
unten in einer Ecke hinter den Socken
ein paar Schächtelchen auftauchten voll mit
buntem, süßen Reis.
Es gibt helllichte Tage, weit entfernt
von allem, was ich damals kannte, da
schließt es mir die Augen zu. Und ich
muss in den Schrank kriechen, weil
ich weiß, dass da unten irgendwas
herum hüpft, knisternd, süß und sauer zugleich,
mein Reis der Kindheit.
Bar Lon
Seit einem Jahr sind wir unterwegs. Der
Flieger landet. Die langen gebohnerten Korridore
zwischen den Terminals. Laufbänder verschwinden
im Boden. Draußen, hinter deinem Gesicht, das
sich wie Barbie im Fenster spiegelt,
sieht man den Regen
des Südens.
Dahinter ist nicht viel. Auch als wir im Bus
sitzen, der uns ins Zentrum bringt, werden
wir aus der Stadt nicht klug. Avenidas, leer
gefegt. Männer, die sich gegenseitig stützen.
Wir leben in einem Zimmer mit vier
Betten, es zieht, wir öffnen den Fensterflügel.
Ein kleiner Balkon hängt über der Kreuzung
freundlicher Palmen. Palmen wachsen
auf den Dächern. Unsere Köpfe liegen
auf dem Putz, der schmierig und grau
ist vom Ruß der 36 Jahre.
Am Meer knacken wir die Schalen der letzten
Tiere und setzen uns zur Ruhe.
Stimmen:
„Gregor Mirwas Gedichte stehen monolithisch in der deutschen Gegenwartslyrik. Keine Schule, keine Richtung, kein Pool an Vergleichsautor_innen, denen man sie zuordnen könnte, und doch sind sie ganz und gar heutig. Mirwa liebt das Ineinanderschieben unterschiedlicher Zeitebenen. Mit dem Film teilt seine Lyrik die Ahnung, dass im Banal-Alltäglichen jederzeit der Einbruch der Katastrophe droht. Oder ist es umgekehrt und unsere Routinen und Rituale sind nur die Mittel einer verhaltenstherapeutischen Intuition, die uns von längst bemerkten Abgründen absehen hilft?“ Daniel Graf
„Übergänge: Ich Wir, Tag Traum, Dohle Mensch, Wald Stadt, Badwater Neukölln, Kambodscha Death Valley, Gegenwart Vergangenheit. Davon sprechen Gregor Mirwas Gedichte, denen diese Übergänge gelingen, gerade indem sie die Sprache scheinbar übergangslos dahinfließen und viel Material aufnehmen lassen. Das Material ist disparat, aber jeder Übergang sitzt. Manchmal von einer Sprache zur andern. Da sind Bilder, sehr konkret, es können auch Filmbilder sein. Töne, vertraut oder leise. Lippen, die sich gerade so nicht berühren. "Tronies" ist der dritte Teil überschrieben: Das ist der Anfang individualisierter Porträts. Porträts eigener Dinge von eigener Art. Das sind Mirwas Gedichte.“ Ekkehard Knörer