Zur Praxis der sozialtherapeutischen Nachsorge für aus der Haft entlassene Gewalt- und Sexualstraftäter
eBook im zitierfähigen pdf-Format
Im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz bietet ISONA an mehreren Standorten eine entlassungsübergreifende therapeutische Betreuung von Gewalt- und Sexualstraftätern im Freistaat Sachsen an. In diesem Sammelband werden Studien aus den Jahren 2019/20 zusammengefasst. Sie führen die kontinuierlichen Analysen zur Wirksamkeit der sozialtherapeutischen Nachsorge in Sachsen fort, die Effekte der Nachsorge auf die Senkung der Rückfallgefährdung sowie die Entwicklung psychosozialer Ressourcen der Therapieteilnehmer untersuchen (Klemm & Hendrich, 2019). Im hier vorliegenden Band geht es um einen differenzierenden Blick auf Einzelheiten des Settings und angewandter Methoden, die zur Wirksamkeit sozialtherapeutischer Nachsorge essentiell beitragen. Ergänzt werden die Forschungen durch eine erste Auswertung der in den therapeutischen Terminprotokollen von ISONA erfassten kritischen Lebens- ereignisse der Klienten. Schließlich widmeten wir uns der Gruppe von Klienten, die über längere Zeit oder immer wieder, in Einzelfällen über 15 bis 20 Jahre, die Angebote der sozialtherapeutischen Nachsorge in Anspruch nahmen.
Inhalt
Torsten Klemm
Einleitung
7
Stefan Riedel ∙ Anne Berthold
Eine Kurzform des Selbstkontrolltrainings in Kooperation mit dem Sozialdienst 18
Michael Welpmann ∙ Bianka Gläser
Selbstkontrolltraining für jugendliche Strafgefangene 29
Lutz Meischner
Selbstkontrolle im Lebensfluss 46
Torsten Klemm ∙ Anne Berthold
Selbstkontrolltraining für Konsumenten von Kinderpornographie 60
Torsten Klemm
Zur Diagnostik kritischer Lebensereignisse 70
Nadine Arndt-van Ngoc ∙ Torsten Klemm
Lebensereignisse in der sozialtherapeutischen Nachsorge 79
Torsten Klemm ∙ Margarethe Krug
Betreuungsdauer und Ressourcenentwicklung bei Gewalt- und Sexualstraftätern 100
Literatur
Abstracts
Selbstkontrolle im Lebensfluss
Gruppentraining für Fortgeschrittene in der JVA Waldheim
Die Studie stellt den Verlauf eines intramural durchgeführten Gruppentrainings vor, in das abweichend vom bisherigen Vorgehen beim Selbstkontrolltraining erstmals Elemente der Aufbaustufe bereits in die Grundstufe integriert wurden. Die erzielten Veränderungen wurden mittels verschiedener Testinstrumente evaluiert und werden hier im Ergebnis dargestellt.
Zielstellung
Im Rahmen des Selbstkontrolltrainings wurden intramural Elemente aus der Grundstufe (SKT-G) sowie aus der Aufbaustufe (SKT-A) angewandt. Diese beinhalteten den Erwerb sozialer Basisfähigkeiten auf verschiedenen Wahrnehmungs- und Handlungsebenen (z.B. Entspannungsfähigkeit, Wahrnehmung, Gefühlsausdruck, Empathie, Konfliktlösefähigkeit). Das Training soll den Einzelnen in seiner Fähigkeit zur Selbstkontrolle, insbesondere hinsichtlich emotionalbedingter Impulse in zwischenmenschlichen Konfliktsituationen unterstützen. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle wird als Voraussetzung für eine selbstbestimmte Lebensführung im sozialen Miteinander betrachtet. Häufig ist die Eigenmotivation zur Teilnahme an einer Gruppe durch Schamgefühle, Gehemmtheit und entsprechende kognitive Abwehrversuche (Ausreden, Bagatellisieren) gerade bei sexuellen Grenzverletzern gering ausgeprägt. Deshalb ging es zunächst darum, eine Gruppe zu bilden, in der alle Teilnehmer den gleichen Delikthintergrund, nämlichschwere Vergewaltigung, aufwiesen.
Methoden
Unter anderem wurden die Themen„Soziale Ressourcendiagnostik“, „Umgang mit Geheimnissen“, „Beziehungsgestaltung“ sowie als Schwerpunkt in dieser Gruppe ganz besonders die„Lebenssituation zur Tatzeit und in der Gegenwart“ einbezogen. Als Methode wurde dafür die Timeline, auch Lebensflussmodell genannt, verwendet. Ziel war es dabei, den einzelnen Teilnehmern größere Klarheit über die eigene Identität, Rolle, Status und über bedeutsame Lebensereignisse zu verschaffen und damit die Reflexion hinsichtlich der eigenen Persönlichkeit anzuregen. Das Legen der „Timeline“ (Zeitlinie) erlaubte, die biografische Entwicklung und die Abfolge von Lebensereignissen im Überblick und einer Gesamtschau chronologisch entlang der Zeitachse nachzuvollziehen. Daran anschließend folgt die umfassende Erzählung der Lebensgeschichte. Zu Beginn und nach dem Abschluss der gesamten Gruppentherapie wurde eine Testung mit jedem Einzelnen erhoben, um Prä-Post-Veränderungen zu beobachten. Die psychosoziale Stabilität jedes einzelnen Klienten wurde nach jeder Sitzung individuell von den Therapeuten beurteilt.
Ergebnisse
In den Bereichen Fähigkeiten zur Empathie und zur Selbstkontrolle, Empfindsamkeit, Selbstbestimmtheit und Problemlösebereitschaft war eine Zunahme der Ressourcen zu beobachten. Aufgrund der deliktspezifischen Homogenität, der aktiven Teilnahme und der damit verbundenen „besseren“ Integration der Gruppenteilnehmer untereinander wurden kognitive Verzerrungen aufgedeckt und somit das eigene Konfliktverhaltenkritischer gesehen und dementsprechend bewertet. Durch eigene Biografiearbeit bzw. das „Erleben“ von narrativ dargestellten Biografien anderer Gruppenteilnehmer wurde die Sicht auf den eigenen Umgang mit beispielsweise den eigenen Eltern / der eigenen Kindheit kritischer. Durch Einbindung anderer Teilnehmer als aktive Beobachter entstand eine leistungsfähige Zusammenarbeit, mit wenig sozial erwünschtem Verhalten, aber viel wertschätzender Kritik. Ein Zugewinn an impliziten und expliziten Lernerfahrungen konnte beobachtet werden. Weiterhin wurde eine Steigerung der intrinsischen Motivation zur Mitarbeit durch höheres Aktivitätslevel und Wertschätzung der einzelnen Gruppenmitglieder erkennbar.
Praktische Erfahrungen mit dem ambulanten „Selbstkontrolltraining für Konsumenten von Kinderpornographie“
Ziel
• Verhinderung und Verringerung einschlägiger Rückfalltaten sowie des Übergangs von Hands-off- zu Hands-on-Delikten
Inhalte
• Intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität (Erkennen von Dysfunktionalitäten, Sexualität als Bewältigungsstrategie); Aufstellen von Delikthypothesen; Reflexion von Gefühlen, Denkweisen und Handlungen; kognitive Verzerrungen; Opferempathie; Beziehungsaufbau und -gestaltung; Erarbeitung individ. Rückfallpräventionsstrategien und eines Selbstkontrollplans
• Orientierung an den Prinzipien des Good-Lives-Models (Ward, 2002) -> Reflexion der eigenen Grundbedürfnisse und deren Verbindung zum Delikt
• Voraussetzung für die Teilnahme: Verurteilung aufgrund eines mit Kinderpornografie assoziierten Delikts
• Hands-on-Delikt kein Ausschlusskriterium
• Durchführung zwei voneinander unabhängiger Gruppen in Dresden und Leipzig
• 90-minütige Sitzungen alle 2 bis 3 Wochen (3-monatige Pause aufgrund von Corona)
• vor Gruppenbeginn Einzeltermine zur Anamnese, Diagnostik und Vorbereitung
• Beginn der Gruppen im Frühjahr 2019, Abschluss demnächst
Soziales Sexualverhalten aus Sicht der Teilnehmer und der Therapeutinnen sowie Therapeuten
• geringfügige Verbesserung, wobei der Ressourcenzuwachs im Fremdbild stärker ist
• möglicher Grund: Bewusstwerden verdeckter Motive für die Begehung der Sexualdelikte und Entwicklung alternativer und angemessener Strategien der Bedürfnisbefriedigung
Therapieerfolg aus Sicht der Teilnehmer
• Verbesserung in allen Skalen (Fortbestehen der Anlassproblematik, Problemlösebereitschaft, Hilfesuche, Hilfeakzeptanz, kognitive Selbstwirksamkeit, Verantwortungsübernahme, Selbstkontrolle und Empathie)
• stärkste Veränderungen hinsichtlich Selbstkontrolle (Hauptziel des Programms) und der Hilfesuche
• möglicher Grund: intensive Auseinandersetzung mit dysfunktionalen Kompensationsmustern, Bewusstmachen der „eigentlichen“ persönlichen Grundbedürfnisse und Aufbau kommunikativer Kompetenzen in Bezug auf sexuelle und partnerschaftliche Themen
Therapieerfolg aus Sicht der Therapeutinnen und Therapeuten
• ebenfalls in allen Skalen positive Entwicklung
• stärkster Zuwachs hinsichtlich Selbstkontrolle, Verantwortungsübernahme und Hilfesuche
Prognose-Belastungswert (PBW) aus Sicht der Therapeutinnen und Therapeuten
• Abnahme des PBW in fast allen Verfahren (z. B. LSI-R, GLM und DRP)
• kaum Veränderungen im statischen Verfahren Static-99
Fazit
• vielversprechende Ergebnisse
• gute Annahme des Gruppenprogramms von Seiten der Teilnehmer
Lebensereignisse in der sozialtherapeutischen Nachsorge
In der vorgestellten Untersuchung wurden sämtliche Eintragungen für Lebensereignisse im Jahr 2019 ausgewertet, übergreifend für alle Standorte und Therapeuten von ISONA.
Methode
In der Datenmaske zur standardisierten Erfassung der Therapiegespräche gibt es vorgegebene Kategorien für Lebensereignisse (z.B. Arbeit oder Ausbildungsplatz gefunden, Trennung / Scheidung, Inhaftierung etc), ausgehend vom SOAPP-Modell von Boer. Hinzu kommt für den Therapeuten die Möglichkeit, alternative Ereignisse selbst zu beschreiben über die Texteingabe in ein Freifeld. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse wurden diese freien Eintragungen analysiert und kategorisiert.
Ergebnisse
Anhand der Auftretenshäufigkeit wurden übergeordnete Themenbereiche bestimmt, die sich als besonders relevant heraus kristallisierten.
64% der 678 benannten Lebensereignisse konnten mit den vorab durch die Therapeuten definierten Kategorien beschrieben werden. Bei den freien Ereigniseinträgen ließen sich acht übergeordnete Themen aufgrund ihrer Häufigkeit als relevant für die sozialtherapeutische Nachsorge identifizieren. Von diesen waren sechs Themenkomplexe – Entlassungsvorbereitung, Familie und Partnerschaft, Erwerbsarbeit und Beruf, Krankheit und Therapie, Rückfallverdacht und juristische Entscheidungen – bereits in die Überlegungen der Therapeut(inn)en eingeflossen, als sie die Standardereignisse für die Dokumentation festlegten. Außerdem erwiesen sich die Themenbereiche „Wohnen“ und „Sucht“ als relevant für die sozialtherapeutische Nachsorge. Obwohl Ereignisse aus dem Bereich „Urlaub und Reisen“ selten waren, können sie eine maßgebliche subjektive Wirkung als Protektiv- oder Risikofaktor entfalten. Die Folgenschwere seltener Lebensereignisse für die Rückfallprävention stellt bislang eine offene Forschungsfrage dar.
Ambulante Betreuungsdauer und Ressourcenentwicklung bei Gewalt- und Sexualstraftätern im Quer- und Längsschnittvergleich
Background
The overriding objective of criminal treatment is always reducing the risk of future offences in order to prevent potential harm to others and oneself. Out-patient psycho- and sociotherapy after imprisonment offers the possibility of reducing costs, as expensive in-patient stays can be shortened,while at the same time increasing safety for the population by reducing relapses. In these contexts there is often a suspended sentence or judicial therapy instruction with given time limits, but participation can also be voluntary. This results in a strong variance in the duration of outpatient care, which can range from a single contact to extreme periods of up to 20 years aftercare. What is still unexplored at this point is how the duration of aftercare is influenced. This study examines the role played by personal motivation, the criminal offence, the time imprisoned, possible recidivism and biographical data. In addition, the study examines how individual resources of violent and sex offenders develop in a longitudinal perspective.
Method
A mixed-methods design with cross-sectional and longitudinal; quantitative and qualitative analyses. It is an explanatory, non-experimental, retrospective group and case study. The sample consists of a treated group (n = 547) and an untreated group of violent and sexual offenders (n = 329).
Statistics
N = 876; LRI-A, KV-S, KV-SAS, STAXI, LSI-R, Static-99, DRP, GLM.
Results
The average duration of therapy at ISONA is about 2.5 years. Clients with long-term therapeutic care experience the greatest increase in psychosocial resources and the greatest reduction in the risk of relapse. No significant results in the hypothesis tests showed the scale motivation and offences with pedosexual reference. However, the length of imprisonment, recidivism and a broken home childhood influence the duration of aftercare significantly.
Conclusions
Anti-stigmatisation campaigns against special groups of offenders, individually adapted measures in transition management from prison to freedom and individualised treatment concepts are desirable for the further expansion of aftercare treatment. More exploratory research is needed to investigate new aspects left out here.
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