Gedichte
Mit 25 Foto-Graphiken
"Die Lyrik von Viktor Kalinke ist kein ›War with the Obvious‹ (William Eggleston), sie mag keine Kriegsrhetorik, denn sie ist eine Erbin der Engel, Vermittlerin zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, ein Spiel mit dem, was offensichtlich verborgen bleibt." Theodor Holz
„Es hat schon echt den Charakter einer Sprache: Man kommuniziert mit Fotos. Es ist nicht mehr so, daß man Fotos macht und zeigt sie bei einem Diaabend und erzählt damit Geschichten. Es ist wirklich das Kommunizieren mit Fotos, es ist Mitteilung, es ist Info, manchmal ist es ›magic‹.“ Barbara Köhler
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.
Leseprobe:
nirgends einsamer als in Berlin
mit Tausenden : eingesperrt
in die Waggons der Untergrundbahn : kreischend
ob der dicklichen Mutter : die mit dem Wagen
die Wege verstellt : ein junger Mann
reißt dir : mit verdrehtem Blick
die Tasche von der Schulter : keiner
rührt sich : dieses Verlassensein
kennen wir schon : die Krankheit
des neunzehnten Jahrhunderts : als die Bauern
ihre Hütten verließen : um in die schönen
neuen Mietskasernen zu ziehen : Medizin-
männer & weise Frauen erwecken in den Museen
untergegangene Gesellschaften : während der gemeine
Mann im Biergarten schwitzt : als hätte es
Preußen & seinen Kulturbesitz nie gegeben
im Keller : die Kindheit : morgen
kehrt Vater aus der Dämmerung zurück : vergebliche
Hoffnung : keine Sauna heizt so ein
daß sein Hirn wächst : stecken bleibt
der Familienfriede im schwellenden : rot anlaufenden
Hals : dieser Diktator hat nichts mehr zu sagen
die Kinder bekommen ihre Austicker : die Frau
weiß sich zu wehren mit Willkür & Hilflosigkeit
im rechten Moment : sie bringt das Hirn
zum Schwellen : die Kindheit heizt uns kräftig
ein : ihm & mir & ihr : im Keller
stapeln sich die Dämmerungen
sie hocken hinter hohen Hecken : wie friedlich
diese Welt : die Kinder spieln Verstecken
hinterm Grün : der Rasenmäher brummt
sie fühln sich wohl bis zum Verrecken : schaurig
grüßt im Fernsehn ein Verbrechen : hier ist es ruhig
nur die wilden Gecken brausen auf Motorrädern
vorbei : so geht der lange Tag im Sommer
schnell vorüber & sie lecken ihre Eis-
kugeln : es bleibe rund die Welt & voller Ecken
nichts ist besser als alles
ich will nicht alles haben
ich kann nicht alles haben
alles macht mich alle
lieber ein bißchen nichts
als von allem etwas
aus nichts kann alles
erwachsen : alles kann nur
weniger werden
lest Poesie nicht mit der Lupe : sagte Brodskys Witwe
nicht mit der Lupe der Biographie & sie verbrannte
alle Fotografien von sich : nicht von ihm
er liebte es zu posieren : vor den Quetzalmäulern
in Teotihuacan : vorm Capitol
in Rom : vor den Büroetagen
in Manhattan : mit einer Kuh
in Archangelsk : die Freunde von der geologischen
Exkursion ließen sich ablichten : mit ihm
& später die Dichterfreunde : aus Vilnius
& New York : nur Maria fehlt
als hätte er sie : als hätte sie ihn nicht gekannt