Roman. Mit Zeichnungen von Daniel Grunewald
Diese Geschichte ist ein Psychogramm. Und sie ist ein Roman. Johannna führt ein geliehenes Leben. Die Unfähigkeit, Glück und Lebensfreude in sich selbst zu finden, verführt sie immer wieder, sich anderen Menschen anzuschließen. Zweierbeziehungen mißlingen. Die Realität wird zum fortwährenden Selbstbetrug, die Erzählerin zum Produkt ihrer Umwelt. Sie spiegelt in ihren Gedanken eine Gesellschaft, die per eMail kommuniziert, kaum noch wirkliche Begegnungen zuläßt und an ihrer Modernität notwendigerweise erkranken muß. Das gilt auch für Johannas Verhältnis zu ihrem Universitätsprofessor. Die Erzählerin erkennt, daß sie sterben muß, um zu überleben. In ihr begegnen sich Genie und Wahnsinn, Macht und Ohnmacht.
Die Zeichnungen von Daniel Grunewald runden das Buch ab. Der Zeichner vereint zwei Talente, die bildenden Künstlern nur selten gleichermaßen gegeben sind: Sicherheit des Strichs und skurril anmutende, gedankliche Tiefe. Letztere mag von Kafka oder Borges inspiriert sein - sie läßt auf weitergehende Überraschungen hoffen.
Tanja Heinze: geb. 1975, Krankenschwester, Studium der Philosophie und Germanistik, Verlegerin, lebt in Wuppertal.
"Es ist ein Buch mit Zündstoff, und es ist ein Wuppertaler Buch. Tanja Heinze hat einen Schlüsselroman über seltsame Ereignisse an einer Uni geschrieben." (Jan Drees, Westdeutsche Zeitung)
"Ein Werk, das den Finger in viele Wunden legt - auf 170 ehrlichen Seiten, die sehr nachdenklich stimmen. Treffend illustriert mit den Zeichnungen von Daniel Grunewald ...ein außergewöhnlicher Textaufbau..." (Manfred Bube, Wuppertaler Rundschau)
"Es ist kein oberflächliches Buch, es ist ein Stückchen entmenschlichter Zeitgeist, den die junge Autorin in emotionsloser Sprache spiegelt." (Isabell Klaas, Rheinische Post)
Leseprobe:
In meinem Ende ist mein Anfang.
Wenn wir sind, was uns umgibt, dann bin ich am Abend des 13. September 2003 eine halbvolle Schachtel Zigaretten, eine halbvolle Tüte Salzstangen und eine halbvolle Flasche Wein.
Da ist nichts mehr, das beschönigt werden kann, und das ist ein Ende, und das ist ein Preis, den ich zu zahlen habe. Heute beschließe ich meine Monotonie und meine Abwechslung, meinen Glanz und meine Stumpfheit, meinen Schein und mein Sein aufzuschreiben.
Und da ich an einem Ende bin, beginne ich auch dort, und ich beschreibe die Tage meines Todes nach meiner Flucht aus der Welt der Lebenden.
Irgendwann erwache ich für gewöhnlich mit der Frage, ob ich am Abend zuvor eine eMail an einen der Dozenten meiner ehemaligen Universität verschickte. Ab und zu mache ich das noch. Meist geschieht das einfach wie von selbst. Am nächsten Morgen ärgere ich mich darüber. Obwohl es jetzt eigentlich nicht mehr so wichtig ist. Ich bin ja tot, und mir kann nichts Schlimmes mehr passieren. Als ich noch dazu gehörte, war ich nicht nur eine Krankenschwester und eine Philosophiestudentin, sondern außerdem auch eine kleine Hexe. Ich konnte in die Zukunft sehen. Da ich diese Fähigkeit auch im Tod noch nicht ganz verloren habe, befrage ich immer noch meine Karten. Im Leben versprachen sie mir oft Liebe und Glück, in diesen toten Tagen verkünden sie mir Enttäuschung und Kummer. Im Jenseits gibt es nicht mehr viel Schönes, Gefährliches, Aufregendes und Wahnsinniges. Manchmal rufe ich trotzdem noch meine eMails ab. eMails verbinden die Lebenden mit den Toten. Ich warte vergeblich auf die noch ausstehende Liebeserklärung von Johannes. Johannes K. ist einer meiner ehemaligen Philosophiedozenten. Es mag sein, daß ich ihn irgendwie liebte und vielleicht sogar noch liebe. Ich weiß das nicht so genau, weil ich mir meiner Gefühle niemals sicher war und bin. Ich denke, ihm ging und geht es da genauso. Er ist mindestens so unberührbar, wie ich es im Leben war und wie ich es vielleicht auch im Tod noch bin. Deswegen erhielt ich von ihm selten längere eMails. Und augenblicklich höre ich von ihm nichts mehr.
Zu meinen Lebzeiten gehörte ich zu den Schnellsten, zu den Besten und zu den Vordersten. Hier jedoch gibt es keinen Wettstreit mehr, und ich kämpfe nur noch gegen mich selbst.
Meine Wohnung, welche einstmals der Ort war, an dem ich las, arbeitete und zauberte, ist jetzt mein Grab. Wie so oft in diesen Tagen frage ich mich, ob all das, was mir geschah, und was mir nicht geschah, sich wirklich so ereignete. War das mein Leben?
Sie haben Post. Liebe Johanna, wie ist das Leben nach dem Tod? Ich bin neugierig, und ich grüße dich herzlich, deine Bekannte.
Ich antworte ihr nicht mehr sofort. Obwohl ich ihr verziehen habe. Irgendwann später wird sie sogar einen Namen von mir bekommen. Jetzt jedoch mache ich lieber einen Spaziergang. Für Verstorbene gibt es sonst nämlich nicht mehr viel zu tun. Tote lesen nicht, Tote schreiben nicht und Tote beeinflussen keine Menschen. Sie halten keine Vorträge in Gedankencafés, sie schreiben keine Protokolle für philosophische Kolloquien und sie verfassen keine Hausarbeiten über den Sinn und den Unsinn des Lebens. Der Tod ist langweilig.
Irgendwann gegen Mittag rufe ich meist Sarah an. Sie ist daran gewöhnt mit Gespenstern zu sprechen. Eine Zeit lang war sie sehr krank. Aber sie ist so liebenswürdig wie kaum ein anderer Mensch, den ich kenne. Manchmal telefoniere ich sogar noch mit Otto. Er ist ziemlich seltsam. Das stört mich jedoch nicht. Ich schätze ihn wegen seiner Ehrlichkeit. Traurigerweise verpaßte er meinen Todestag. Ich verstarb am 31. Juli 2003.
Sarah und Otto waren einmal ein Paar. Momentan vermeiden sie aus mir verständlichen Gründen den Umgang miteinander. Jeden Tag entscheide ich mich also neu, wen von ihnen ich besuchen werde. In der Regel entscheide ich mich aber für Sarah, und wir verabreden uns für den Nachmittag. Die mir verbleibenden Stunden nutze ich, um gelangweilt und in gespenstischer und unheilvoller Klarheit meinen eMail-Posteingang auf Nachrichten von den Menschen zu überprüfen, die mir im Leben irgendwie verbunden waren.
Aber anscheinend ist es außer Mode geraten, sich mit Gespenstern zu beschäftigen.
Keine neue Post. An einigen wenigen Tagen teile ich meinen Kummer Gabriel mit. Natürlich per eMail. Gabriel E. ist ebenfalls einer meiner ehemaligen Philosophiedozenten, und er ist so etwas wie ein Freund. Ich weiß nicht, was ich im Leben für ihn war und im Tod noch bin, aber irgendetwas war es wohl und ist es. Einmal schrieb ich Gabriel, daß ich es bedauere, daß er mir nicht die Wahrheit sagte und sagt. Zu seiner Verteidigung muß ich hinzufügen, daß er von allem auch erst ziemlich spät erfuhr. Wahrscheinlich war es an dem Tag, an dem ich mich an ihn wandte, sowieso bereits zu spät. Irgendwann einmal werde ich Gabriel noch fragen, ob er vielleicht selbst gern ein Johannes für mich gewesen wäre. Es gibt einige Studentinnen, die mir von Gabriel Ähnliches berichteten, wie das, was ich ihnen von Johannes erzählte.
Aber ich denke nicht, daß man überhaupt einen Menschen mit Johannes vergleichen kann und darf. Zu mir jedenfalls war Gabriel meist sehr zuvorkommend. Aus diesem Grunde nenne ich ihn wahrscheinlich auch so. Vielleicht meine ich es ja ernst, und vielleicht denke ich ernsthaft, daß er diesen Namen verdient.