Metaphysische Miniaturen. ERSTER TEIL
Überall vergrämte Gesichter, überall ein beleidigter Ton: Niemals haben Menschen ein heftigeres Bewusstsein von ihren Rechten und Ansprüchen besessen als heute, niemals aber auch fühlten sie sich darin stärker verletzbar. 'Selbstbestimmung’ und 'Selbstverwirklichung’, klassische bürgerliche Parolen, die den Menschen zu seinem eigenen Werk erheben und ihn zugleich gegen äußere Verletzung immun machen sollten, scheinen durch seine Selbstvergegenständlichung zu einem Rechts- und Anspruchssubjekt erkauft. Kränkt sich der Mensch der autonomen Vernunft und Moralität selbst, damit nichts anderes mehr ihn kränken kann?
Band I von "Der gekränkte Mensch" trägt atmosphärische Beobachtungen aus westlichen Industrieländern der Gegenwart zusammen. Er bietet eine Physiognomik sowie eine Topologie der gedemütigten Humanität.
Jürgen Große: geb. 1963 in Berlin; Ausbildung zum Setzer und Korrektor, Wehrdienst; später Volontär und Lektor in verschiedenen Verlagen. 1986 – 1992 Studium der Geschichte und der Philosophie, 1996 Promotion, 2005 Habilitation, Lehraufträge für Literatur- und Geistesgeschichte, akademische Gastaufenthalte im Ausland, seit 1998 freier Autor.
Leseprobe:
Kaum ein Vorwort, vielmehr: Methodische Bedenken
Der Anblick eines Daseins, das sich demütigt, hat etwas Zwingendes, es lässt den Blick nicht frei, man muss immer wieder hinschauen. Nachfolgende Essays handeln von diesem aus eigener Kraft gedemütigten Dasein und den Meinungen, die es über sich hat. Vielleicht scheint es fragwürdig, zumindest merkwürdig, weitläufige alltagsphysiognomische (I), seelenphänomenologische (II), kultursoziologische (III), humanontologische (IV), mentalitätsgeschichtliche (V) und entwicklungsphilosophische Zusammenhänge (VI) auf ein einziges Gefühl zu verpflichten. Damit Demütigung (Kränkung, Erniedrigung) als ein solches ‚Paradigma’ gelten dürfte, so könnte gefordert werden, müssten doch alltägliche Erfahrung und metaphysische Deutbarkeit in dieser einen Befindlichkeit zusammenschießen.
Was sind die Alltagsevidenzen der Demütigung, was die metaphysischen Deutungspotentiale, die in ihnen liegen? Dem Dasein in Wachstumsgesellschaften – in denen Bücher wie dieses erscheinen können – ist lebendige, d. h. erfüllende und ergreifende Gegenwart unerträglich. Es hat daher nur zwei Perspektiven:
Zum einen den Rückblick auf frühere Stufen, der eine gesteigerte Empfindlichkeit zur Gegenwart hin bezeugt. Von der Seinssicherung zur Sinngebung führt hier der Weg, immer höhere – abgeleitete – Nöte bekunden sich. Aus Bedürfnissen werden Ansprüche und Rechte; überhaupt wächst der Gebrauch von Kreditierungen, von Zeichen für Sachen. Aus dem Reich der leibhaftigen Verletzbarkeiten steigt man auf in das der seelischen Kränkungen, die ohne jene aber nicht zu denken wären. Ist eine Kränkung also nicht etwas wie ein stellvertretender Schmerz, eine symbolische Not? Kränkbarkeit, Reizbarkeit sind jedenfalls unvermeidlich bei einem Dasein im Zeichen des Wachstums und auf den Kredit einer anderen (künftigen, besseren) Welt hin, denn jeder Zukunftsglaube macht die Gegenwart zur Blöße, die es zu decken gilt. Anders gesagt: Dauernde Abwesenheit des Geistes und gereizte Rückkehr ins Gegenwärtige gehören zusammen. Man betrachte nur einmal die Gesichter, die einem tagsüber begegnen!
Zum anderen bleibt einer Wachstumsgesellschaft der Vorblick, die Hypothese über ihr Ende: dass die Seinsgrundlage ihrer Sinnerwirtschaftung gefährdet sei, ist abzusehen. Solches Absehen schlägt allerdings nur dort empfindlich ein, wo man, mangels Heimatraum im Gegenwärtigen, sich in geschichtlichen Prozessen sehen und deuten muss; dass man selbst es sei, mit dem es darin ‚vorangeht’, beschert somit auch die Bilder und Hypothesen des Untergangs. In den Abhängigkeiten, die ein Sein im Zeichen des Sinns, ein mit Wert, Zweck usw. zu erfüllendes Leben bedeutet, konkret: eine ölbeheizte und -bewegte Selbstachtung bzw. Menschenwürde im Nordwestwinkel des Planeten, macht sich die katastrophische Dimension der Kränkbarkeit bemerkbar. Denn jene überaus unsichere Relation zwischen Sein und Sinn, die in einer kontinuierlichen Steigerung bestehen soll, kann sich nur diskontinuierlich bzw. in einem Abbruch auflösen. Das ist die Aussicht, die in die Alternative von Demütigung oder Selbstdemütigung zwingt. Aber ob man sich nun durch den rohstofflich-energetisch bedingten Verlust des gewohnten Sinns dereinst gedemütigt sähe (Füße frieren, Überbau zerfällt, Würde vereist) oder sich selbst demütigt durch eine hektische Vorsorge, deren Propaganda die mundanen Abhängigkeiten ideologisch auf den Kopf stellt (Demokratieexport gegen Heizölimporte) – das Bewusstsein, wenn überhaupt, nur so sein zu können, wie man jetzt ist, bleibt die Wurzel aller Selbstdemütigung.
Dieses Geflecht der Demütigung ließe sich mit einer Reihe von Evidenzen bebildern, von den größten bis zu den kleinsten Verhältnissen. Rohstoffabhängigkeit der Selbstachtung, Winseln um Beschäftigung, endlich der Seelenkrebs der modernen Welt: der Ehrgeiz, geliebt zu sein, samt planvollen Zurichtungen der Person hierfür. Vielleicht nicht heute oder morgen, jedoch schon seit längerem zeigen sich eine höchste Spannung und eine Dialektik in dieser Lage: Für einen gewissen Sinn, ein gewisses Sosein des Lebens (ein sehr abgeleitetes, sehr abhängiges Sein) kämpfen oder mit ihm untergehen, sich kränken oder sich kränken lassen, Umgeschulter oder Ausgemusterter der Existenz sein, Streber oder Schnorrer des Seins.
Mag nach all dem nun ‚Kränkung’ als paradigmatisches Phänomen und alldurchwaltender Sachverhalt akzeptiert sein, so bleibt noch eine Schwierigkeit: ihre metaphysische Auslegbarkeit. Sie verlangt doch wohl, an ein Grundgefühl, eine Grundstimmung zu glauben, die einer Epoche ihr spezifisches Gehabe verleiht. Und schon dass ein Wörtchen wie ‚Grund-’ bemüht wird, macht misstrauisch gegen den, der so spricht: Will er ein schlichtes Gefühl, eine Stimmung an der untrüglichen Oberfläche benennen, was soll dann der Rückgang auf den Grund? Zudem: Was wäre das für ein Gefühl, für eine Stimmung, die allen anderen Befindlichkeiten zugrunde liegen sollte – wäre derlei tatsächlich noch zu fühlen? Wäre derlei auch nur zu ‚bestimmen’? Warum schließlich sollte man überhaupt auf den Grund seiner Gefühle und seiner Stimmungen gehen, wenn es nur ist, um sie einer Epoche, ‚einem Zeitalter’ anzudichten und abzusehen?
Aber man kann der Zeit bzw. dem Dasein ja etwas ansehen, zumindest, wo man sich in gleichbleibendem Abstand dazu hält, die Gesichter tragen einem ja etwas entgegen, was man täglich nachfühlen und worauf man sich einstimmen kann. Es ist eben dieser durchgehende Ausdruck der Gekränktheit, ein Dauerausdruck, der all seine Anlässe übersteigen muss. So ein Ausdruck darf doch wohl Stimmung heißen? Man weiß freilich nicht, wie es um diesen Ausdruck bestellt wäre, wenn keiner hinschaute, man weiß nicht, wie es in den Häusern und Seelen der Gekränkten zugeht – doch das sind Fragen für spekulative Geister oder Erkenntnistheoretiker. Also genug davon: Man erlebt dies Gekränktsein, sobald man selbst vors eigene Haus tritt und zum Gang durch die Stadt ansetzt, man sieht sie auf den Gesichtern und fühlt sie in sich selbst; eine Säuerlichkeit, die einem Seele und Sinne zusammenzieht, eine wohltemperierte Wut auch manchmal, den Anblick gekränkter Gesichter ertragen zu müssen. Es ist ein Furor, der ins Rechnen kommt und das eigene Befinden an dem Ausdruck der anderen misst und schließlich Ebenmaß und Entsprechung findet: zwischen dem, was sich zeigt, und dem, was man fühlt. So lernt man von allem absehen, was bloß subjektiv und ein flüchtiges Gefühl wäre. Wie sollte das nun nicht Stimmung, besser: Gestimmtheit heißen dürfen, und, wenn man derlei überall entdecken kann, nicht Grundstimmung? Sie trägt ja, was Beobachter und Beobachtete erst zu ihresgleichen werden lässt, sie stimmt ein auf das, was im und außer Haus zustößt. Und wie sollte einem nicht zustoßen, worauf man einmal gestimmt ist?
Die Gekränktheit im Gefühl ihres guten Grundes ist das Grundgefühl unserer Zeit.