Poem
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
Zweisprachige Ausgabe. eBook als zitierfähige PDF
Hélia Correias Hinwendung zur Poesie ist ein Streifzug durch Menschheitserinnerungen. Dies erklärt den Titel dieses Poems, das in dreiunddreißig Abschnitte unterteilt ist:
Das dritte Elend ist dieses von heute.
Das derer, die nicht mehr hören, nicht fragen,
Derer, die nicht erinnern.
In unserer Selbstvergessenheit spiegelt sich der gegenwärtige Sumpf, in dem Demokratien versinken. Die Agora, der edle Raum der Polis, hat seine Bedeutung verloren, ist kein Maßstab mehr für demokratische Ethik. Dieses Buch ist eine Hommage an Griechenland. Es greift „das hellenische Thema“ auf, erkennt in der Zerstörung Griechenlands einen Schrei als Warnung vor dem Schlimmsten, was das ökonomisch verwaltete Europa bewirken kann: den Verlust der Souveränität und das Versagen der Demokratie. In kristalliner Sprache beschwört Correia die Tiefe und Schönheit des griechischen Denkens, dieser mythischen Heimat Europas, wie Byron, Hölderlin, Nietzsche und viele andere sie besungen haben.
Hélia Correia: geb. 1949 in Lissabon, Vater verfolgt und inhaftiert unter Salazar, Studium der Romanistik und Dramaturgie, seit den 1980er Jahren Romane, Novellen, Theater und Poesie, Auszeichnungen: u.a. 2001 Prêmio PEN Clube, 2006 Prémio Máxima de Literatura, 2015 Prémio Camões, gilt als eine der bedeutendsten Gegenwartsschriftstellerinnen Portugals. Für Das dritte Elend erhielt sie 2013 den Prémio Litarário Casino da Póvoa.
Michael Kegler: geb. 1967 in Gießen, wuchs bis zum 10. Lebensjahr in Brasilien auf, studierte in Frankfurt am Main, übersetzt seit 1992 aus dem Portugiesischen, erhielt 2014 den Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW und 2016 gemeinsam mit Luiz Ruffato den Internationalen Hermann-Hesse-Preis.
Leseprobe:
1.
Para quê, perguntou ele, para que servem
Os poetas em tempo de indigência?
Dois séculos corridos sobre a hora
Em que foi escrita esta meia linha,
Não a hora do anjo, não: a hora
Em que o luar, no monte emudecido,
Fulgurou tão desesperadamente
Que uma antiga substância, essa beleza
Que podia tocar-se num recesso
Da poeirenta estrada, no terror
Das cadelas nocturnas, na contínua
Perturbação, morada da alegria;
1.
Wozu, fragte er, wozu nützen
Dichter in dürftiger Zeit?
Zwei Jahrhunderte sind über die Stunde vergangen,
In der diese halbe Zeile geschrieben wurde,
Die Stunde der Engel nicht, nein: die Stunde,
In welcher der Mond über dem verstummten Hügel
So verzweifelt geleuchtet hat,
Gleich einer antiken Substanz, diese Schönheit,
Die mit Händen zu greifen war in einem Winkel
Der staubigen Straße, im Schrecken
Der nächtlichen Hündinnen, in der beständigen
Störung, dem Ort, in dem Freude wohnt;
2.
Essa beleza que era também espanto
Pelo dom da palavra e pelo seu uso
Que erguia e abatia, levantava
E abatia outra vez, deixando sempre
Um rasto extraordinário. Sim, a hora,
Dois séculos atrás, em que uma ausência
E o seu grande silêncio cintilaram
Sobre a mão do poeta, em despedida.
2.
Diese Schönheit, die auch ein Erstaunen war
Über die Gabe des Wortes und seines Gebrauchs
Das anhob und stürzte, sich erhob
Und abermals stürzte, mit jedem Mal
Eine besondere Spur hinterlassend. Die Stunde
Vor zwei Jahrhunderten, in der eine Abwesenheit
Und ihre große Stille funkelten
Über der Hand des Dichters, zum Abschied.
3.
Tardia já, pois não restava mesmo
Uma desolação, eco nenhum,
Somente um coração que enlouquecia
Como que por amor, exactamente
À maneira do amor, havendo mesmo
Uma mulher, Diotima, transmigrada
Não pela alma, não pela essência,
Mas pelo que há no corpo do volume
Da estátua, sacralíssimo e terreno,
E duradouro, e pronto a apodrecer.
3.
Es wurde spät, doch es blieb nicht eine
Untröstlichkeit, nicht ein Echo
Nur ein Herz, das den Verstand verlor,
Ganz wie aus Liebe, genau so
Wie es die Liebe tut, und es gab sogar
Eine Frau, Diotima, wiedergeboren
Nicht durch die Seele, nicht als Essenz,
Sondern tatsächlich im Körper
Der Statue, heilig und irdisch,
Beständig und zu verfaulen bereit.