Gedichte. Festeinband
Erst als die DDR sich auflöste und die Mauer fiel, begann ich Gedichte zu schreiben. Ich war verliebt, und es war mir, als hebe sich ein Betondeckel von meiner Seele. Da war ich Ende Zwanzig. Seitdem verzeichnen die Gedichte wie in einem Logbuch die Ereignisse meines Lebens, sie stellen nicht mehr und nicht weniger als meine „education sentimentale“ dar, nunmehr über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren.
Im Vordergrund steht immer ein Erlebnis, die Erschütterungen, die es auslöst, der Mischmasch von Gefühlen und Gedanken bringt Worte hervor, die sich zusammenfinden, ich mache mir einen Reim darauf, was geschehen ist, aus dem Hintergrund kommt Verdrängtes an die Oberfläche und verbindet sich mit dem Aktuellen, das Schweigen wird porös. Klang und Reim beschwören das Unwiederbringliche des Geschehens, Zeilenbruch und Rythmus geben die tektonischen Verschiebungen wieder, die dem Ereignis folgten.
Die Abfolge der Gedichte entspricht dem Ablauf der Jahre und gibt Einblick in meine Biografie. Die Auswahl zieht die Summe meiner „besten Jahre“. Die Ironie des Titels ist allem Schweren geschuldet, den Erfahrungen mit der Krebs-Erkrankung und ihren Folgen, der Kinderlosigkeit, der Begegnung mit dem Tod in noch jungen Jahren. Aber das Leid ist aufgehoben in der Liebe zum Leben, der Freude am Sex, in der Begegnung mit der sich immer wieder erneuernden Natur. In der Wiederkehr der Themen werden Kontinuitäten in der Auseinandersetzung sichtbar, aber auch der Wandel. Die Lebensmitte ist überschritten, am Horizont taucht unübersehbar das Ende auf. Von all dem sprechen die hier versammelten Gedichte. Charakteristisch ist ihr erzählerisches Moment, der Reim aber, meist als Binnenreim, sorgt für den nötigen Schwung und ist das Elexier der Gedichte. Einzelne Texte arbeiten mit anderen Mitteln, denen des Raps und der experimentellen Lyrik. Was sie eint, ist aber das Existentielle ihres Ursprungs.
Katja Winkler: 1960 geboren in Berlin, Germanistik-Studium in Leipzig, Arbeit als Dramaturgin und Mitarbeiterin in Literatur- und Theaterprojekten. Seit 2004 Sprachlehrerin in Integrationskursen. Zahlreiche Veröffentlichungen von Gedichten und Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Textfassungen für das off-Theater. Mehrmalige Förderung durch die Stiftung Kulturfonds und den Berliner Senat.
Leseprobe:
Sonntagmorgen halb neun
Ich saß auf dem
Krähenbaum die Möwen
stürzten vorbei ich bin frei
frei ihr Geschrei
ich saß auf dem Krähenbaum
ohne Flügel ohne
Ei vogelfrei
Brandenburger Tor
Ich erinnere mich
noch wie ich da stand
den Blick unverwandt
auf den Engel gerichtet
starr und blicklos golden
der Schein es sollte am
Ende der Welt so sein
Einmal im Monat mindestens
dort vor der Mauer am selben
Ort wenn das nicht übertrieben
wär hätte ich keine Erinnerung
mehr an die Leute die mit mir
dort standen und den Platz
so bedeutsam fanden wie ich
ihn liebte um der Leere willen
die dort war und ganz im
Stillen habe ich sie alle
verachtet die dort standen
an meinem Ort und dann gingen
weg und fort ich blieb sitzen
ließ mich gehen konnte ja
den Engel sehen und dahinter
einen Himmel wie ihn nur der
Abend kennt keine Sehnsucht
Leere brennt dir beide Augen
aus bis ans Ende war zu Haus
EIGENTLICH am liebsten wortlos
so vor mich hin aber mit dir
ist es va banque ich komme und
du bist schon da von so weit her
nach nirgends hin ich bin
im Glück Hans nur ein Wort das
Spiel ist aus ein Satz ich setze
zwei Hasard (nicht alles)
und ich bin Hans nur im Glück
verspielt mein Einsatz
auf ein Wort nichts du
bist Hans und noch kein Wort
verloren ich und du und
eigentlich am liebsten wortlos
so vor mich hin aber mit dir