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Roman
Der Überwachungsstaat, so könnte eine These lauten, ist zur Überwachungsgesellschaft geworden. In dem neuen Roman "Verlorene Schwestern" von Oliver Bendel setzen ein Schüler und eine Arbeitslose selbst entwickelte Technologien zur Bespitzelung ein. Es handelt sich um einen der ersten Romane, die mit der Unterstützung von Google Earth entstanden sind. Zugleich treten im Buch die Risiken solcher und verwandter Technologien zutage.
Überwachung und Bespitzelung bringt man immer noch vor allem mit dem Staat in Verbindung. Neu gegründete Organisationen wie die Piratenpartei und neu lancierte Initiativen wehren sich gegen staatliche Überwachung und Zensur. Immer mehr werden aber auch Überwachung, Bespitzelung, Zensur und Mobbing durch Unternehmen und Privatpersonen thematisiert. Diejenigen, die ihre Freiheit durch den Staat bedroht sehen, bedrohen nicht selten selbst mit ihrer Nutzung von Technologien und Medien ihre Mitmenschen. Unternehmen wie Google und Facebook haben ebenso innovative wie gefährliche Dienste und Strukturen aufgebaut.
Der Roman "Verlorene Schwestern" von Oliver Bendel nähert sich diesem Thema spielerisch und auf doppeltem Boden. Er spielt vor der realen Kulisse von Dresden, hinter der surreale Welten liegen. Maik, ein 16-jähriger Junge, hat eine Drohne entwickelt, die einer Fliege gleicht und mit deren Hilfe er alles sehen kann, was er sehen will. Sein Plan ist, Prominente und Reiche auszuspionieren und, wenn er das ultimative Bild gefunden hat, zu erpressen. Nur seinem Tagebuch vertraut er sich an, einem digitalen Rekorder. Nancy, die früher als Mundmodell und für die Stasi gearbeitet hat, surft mit ihrer kleinen Maschine auf elektromagnetischen Wellen, bis sie auf Schallwellen trifft. Wie früher belauscht sie andere, aber ohne an verwanzte Räume gebunden zu sein – und nicht, um Böses zu schaffen, sondern um Böses zu verhindern. Maik und Nancy kommen über die ahnungslose Stadt. Sie wissen nichts voneinander, bis die Frau ein merkwürdiges Brummen hört. Fast eine Fliege. Aber eben nur fast.
Wie in "Nachrückende Generationen" (2007) und "Künstliche Kreaturen" (2008) spielen diejenigen Technologien und Medien eine wichtige Rolle, die den Wünschen und Sehnsüchten der Menschen dienen und die zugleich Menschen mit ihren Wünschen und Sehnsüchten gefährlich werden können. Es handelt sich, wie gesagt, um einen der ersten Romane, die mit Hilfe von Google Earth realisiert wurden; insofern wird auf der Produktionsebene das benutzt, was auf der inhaltlichen Ebene in Frage steht, ein typisches Dilemma und Paradoxon unserer Zeit.
Oliver Bendel: geb. 1968 in Ulm, studierte Philosophie und Germanistik (M.A.) sowie Informationswissenschaft (Dipl.-Inf.-Wiss.) und promovierte im Bereich Wirtschaftsinformatik an der Universität St. Gallen, Gedichte und Kurztexte u.a. in der Zeitschrift neue deutsche literatur (ndl), Gedichtband "Die Stadt aus den Augenwinkeln" (Alkyon Verlag), Roman "Nachrückende Generationen" (Leipziger Literaturverlag)
Leseprobe:
1
Mein Tagebuch, du bist ja gar kein Tagebuch. Du bist ein digitaler Player mit einem integrierten Rekorder. Ich kann dir mehrere Stunden lang diktieren, wie man sagt, aber eigentlich spreche ich nur laut, und du hörst mir zu. Nur du hörst mir zu, das ist wichtig, wenigstens im Moment. Ich spreche extra deutlich und, äh, geschliffen, und diese Ähs will ich nicht mehr hören, ich spreche ganz langsam, um sie zu vermeiden, und noch geschliffener als sonst, damit ich mich mein Leben lang verstehe. Klammer auf: Jetzt verstehe ich, was diktieren heißt: Klammer zu. Ich meine, ich will das alles in zehn Jahren anhören und begreifen, und vielleicht veröffentliche ich es sogar, damit man mir glaubt. Ich könnte nicht nur meine Erfindung, äh, preisgeben, sondern auch das, was ich damit gemacht habe. Das, was ich damit in der nächsten Zeit machen werde. In zehn Jahren ist die Sache bestimmt verjährt. Ich würde damit auch mich selbst, Maik mit bürgerlichem Namen, preisgeben. Mein Tagebuch, du bist zwar kein Tagebuch, aber ich bin ein Genie.
Bis vor ein, zwei Jahren hat man mich Fliege genannt. Ich bin klein und schmächtig gewesen. Obwohl Fliege so vieles bedeuten kann, was schön ist, zum Beispiel das, was ein großer Vogel zum kleinen sagt, oder das, was manche Männer immer noch an ihrem Hemd tragen, obwohl wir doch längst die Zukunft haben, obwohl Fliege also ein Wort für etliche mehr oder weniger schöne Dinge ist, ist es auch eines für ein hässliches, schmutziges, lästiges Tier. Und so fühlt man sich sofort, wenn man Fliege genannt wird, nicht wie ein flügger Vogel, nicht wie ein bunter Propeller, der am Hals befestigt ist und den Kopf durch die Lüfte bewegt, sondern wie ein unreines Tier, eines, das fliegen kann, aber einzig und allein, um seine Hässlichkeit und seinen Schmutz zu verbreiten und, äh, zur Last zu fallen. Klammer auf: Ein letztes Äh und eine letzte Klammer: Klammer zu. Ein Tier übrigens, das im Französischen la mouche heißt. Mouche ist ein schönes Wort. Es ist ganz egal, was es bedeutet; es ist einfach schön. Auch la bouche, der Mund. Oder couche, schlafe, ein weiteres Wort, das wir im Unterricht gelernt haben. Ich schlafe, schlafe du. Schlafe du nicht, fliege du, fliege nicht und schlafe. Schlafe. Fliege. Und seit einiger Zeit finde ich, dass Fliege ebenfalls ein schönes Wort ist. Ich bin keine Fliege mehr, ich bin fast ein Mann geworden, ich bin nach 16 Jahren aus dem Fliegenkörper herausgeschlüpft, ich habe die alte Fliege unter, hinter mir gelassen, aber ich habe eine neue, eine schöne, saubere, willige Fliege erschaffen. Dort sitzt sie und will endlich fliegen, nicht nur im Zimmer herum, sondern draußen in der Welt.
2
In ihrer Schule wurde sie la bouche genannt, der Mund. Die Mädchen waren neidisch auf diesen Mund, die Jungen träumten von ihm. Die Lehrerinnen starrten auf ihren Mund, wenn sie sprach, und die Lehrer starrten selbst dann auf ihn, wenn sie schwieg. Obwohl es kein Französisch an der Schule gab, schien das französische Wort das einzige richtige zu sein. Das Wort aus der fernen Sprache war das nahe liegende, das sich aufdrängende.
Ansonsten war sie nichts Besonderes, ein kleines, dünnes, blondes, helles Mädchen, Nancy mit richtigem Namen, aber mit diesem geröteten, wachsenden Mund, mit dem sie schwieg und sprach, aß und gähnte, lachte und schmollte. Es war also die Größe, in eine geschwungene Enge eingepasst, aus der es herausdrängte, -quoll, und es war die Farbe, die ihr Gesicht übertönte. Es waren auch die Kerben in ihren Lippen, wie eingeritzt von einem, der ihre Jahre zählte.
Später, während ihrer technischen Ausbildung und in den ersten Berufsjahren, war sie Modell. Genauer gesagt, der weiter gewachsene Mund war das Modell. Wenn Werbung gemacht wurde für Lippenbalsam, für einen Schokoriegel, der zwischen den Lippen steckte, für etwas Sexuelles, das die Lippen symbolisierten, rief man sie an, ließ sie ins Studio kommen und richtete die Kamera auf sie, um sie dann bis auf den Mund wegzuschneiden, oder gleich auf ihn, auf sie, la bouche. Denn so hieß sie noch immer, noch mehr. Nicht nur Unternehmen, auch Künstler riefen sie an. Ja, hauchte sie mit ihrem Mund. Sie hätte nichts hauchen müssen, man sah ihn vor sich und hörte nicht hin. Weitere Kerben kamen dazu, weitere Jahre. Bis ihr Mund aufhörte zu altern. Und nur noch sie älter wurde.
Sie lernte, Abhörsysteme zu bauen. Weil sie sich am besten damit auskannte, wurde sie dafür eingesetzt, die Systeme zu bedienen. Sie war es nicht selbst, die in die Wohnungen eindrang, um die Wanzen zu befestigen, aber sie war diejenige, die in die Wohnungen und in die Leben hinein lauschte. La bouche, dachte sie oft, wurde l'oreille, das Ohr. Sie erlauschte die Töne, analysierte sie und gab sie weiter. Aber sie war es nicht, die das Erlauschte interpretierte und bewertete, und sie war es nicht, die die Belauschten abholte und verhörte und einsperrte und umbrachte. Als alles vorbei war, versuchte sie sich zu schämen. Es gelang ihr nicht richtig, aber sie schwor sich, bloß noch zu lauschen, um etwas Schlimmes zu verhindern, nicht mehr, um etwas Schlimmes möglich zu machen. Sie baute weiter, an einer Maschine, die fast keine Maschine mehr war.