Zwei Erzählungen und Gedichte. Aus dem Russischen von Erich Ahrndt
Bella Achmadulina konnte staunen über die Schönheiten und Wahrheiten des Lebens wie ein Kind. Indem sie schreibt, versichert sie sich dieser Wunder, der tröstlichen wie der traurigen, und sie findet Worte - oft alte, aus früherer Zeit überkommene -, um uns teilhaben zu lassen, uns unser Staunen aus Kindheitstagen zurückzugeben. Eine Reihe von Gedichten beschreibt die herbe Schönheit der Küsten- und Seenlandschaft nördlich von Sankt Petersburg. Themen zu behandeln, die den Leser bewegen, wie Freundschaft, Trauer um menschlichen Verlust beim Weggang vertrauter Menschen, Achtung vor der Schöpfung, Verteidigung gewachsenen alten Kulturguts, das im Zuge der Moderne vernichtet wird - das ist Dichtung, die von der Welt Kenntnis nimmt und die sich an die Welt wendet. Dabei setzt die Dichterin sich hohe Maßstäbe, quält sich, sie will die Dinge nicht mit raschen Worten benennen, sie nicht einfach beschreiben: sie will das Geheime, fast Unaussprechliche in ihnen finden.
In der Prosa fasziniert besonders die Erzählung Viele Hunde und der Hund. Sie erinnert an einen Schelmenroman, dessen Hauptgestalt Schelaputow ist, der unter rätselhaften Umständen schwachsinnig wurde. Die Dinge aus seiner kindlichen Perspektive zu sehen, erlaubt der Autorin eine naive Erzählweise: schlicht und poetisch. Auch geschichtliche Ereignisse kommen ins Bild: die Vertreibung der Griechen im Osmanischen Reich oder, in der zweiten Erzählung, die Hinopferung von Menschen für Stalins Großbauten.
So reiht sich Bella Achmadulina ein unter die großen russischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts: Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa. Zu glauben, sie verdiene die dritte in dieser Reihe zu sein, war sie selbst zu bescheiden. Doch sie gehört in diese Tradition.
Viele Hunde und der Hund: Die keineswegs welt-fremden Gedichte Bella Achmadulinas
Rezension von Ralf Julke, L-IZ
⇒ www.l-iz.de/Bildung/Bücher/2013/12/Viele-Hunde-und-der-Hund-52883.html
Bella Achmadulina (1937-2010): tatarische, russische und italienische Wurzeln, Studium am Maxim-Gorki-Institut, Ehen mit Jewgeni Jewtuschenko, Juri Nagibin, Eldar Kuliev und Boris Messerer, schrieb Lyrik, vielbeachtete Essays und übersetzte.
Erich Ahrndt: geb. 1932 in Arnswalde (jetzt Choszczno, Polen), lebt in Leipzig, Übersetzer seit 1977, u.a. Werke von Iwan Bunin, Walentin Rasputin, Daniil Granin, Übersetzerprämie des Verlags Volk und Welt 1981, zuletzt: Gedichte von Sergej Jessenin, Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa.
Leseprobe:
Viele Hunde und der Hund
… Es dämmerte an Dioskurias Küste …, das sah, das dachte und das sagte der schwachsinnige und stumme Schelaputow sofort, als ihn die starke kalte Sonne blendete, die als Eisberg in die südlichen Gärten schwamm. Er trat aus dem langen Dunkel des fremden Zimmers, das er für unbestimmte Zeit gemietet hatte, in das flüchtige ewige Blendlicht und stand, sich in der Zuflucht der eigenen Dunkelheit verbergend, an der Schwelle zwischen beiden, genoss den Augenblick, dehnte ihn nach seinem Ermessen: schaute und blinzelte nicht ungeordnet, sondern starrte, ohne zu blinzeln, in die nahe Schranke der geschlossenen Lider, die offenen Hände breit ausgestreckt. Zum ersten Mal gelang ihm die allgemeine, von keinem Zittern gestörte Reglosigkeit geschlossener Augen und ausgestreckter Hände. Fand er nicht gar Heilung in Dioskurias Glückseligkeit? Aufmerksam verletzte er die stumpfen Kuppen (oder wie sagt man?) aller Finger, die in der Kindheit den schwarz-weißen Goedicke nicht zu Gesicht bekommen hatten, mit dem gewaltigen eisigen weißen Licht, seine unsichtbaren Spitzen mit offensichtlichen Bluttröpfchen befleckend, und erkannte durch nachhaltiges Tasten jede der sieben farbigen Saiten: die dicke violette Basssaite tönte unter dem Zeigefinger, ohne wehzutun. Jeder Jäger will wissen wo gerad der Fasan sitzt. Keineswegs – nicht jeder. Schelaputow entließ das Spektrum aus der erregten Hand, machte die Augen auf und sah, was er vorausgesehen hatte. Es war grimmig hell und kalt. Die maßlose Sonne, die im unendlichen Himmel und im endlosen Meer keinen Platz fand, verschmähte, um ergiebiger zu glänzen, keine spiegelnde Fläche, nicht einmal Schelaputows blasse Haut, die sich unverzüglich mit kärglichen kampflustigen Gänsehautstoppeln bedeckte, dem einzigen Schutz des Menschen vor den Nöten der Welt.
Es dämmerte an Dioskurias Küste – nicht zur grauen Schnupfendämmerung des vergehenden Tages: zur rauen Finsternis, zum Tod der Blumen und Früchte, zur Verwaistheit der Einsamen – zum Winter. In den küstennahen Gärten drehten sich alle schwarzen Gärtnerköpfe zugleich, wendeten die Gesichter den Bergen zu: Dort hatte es in der Nacht geschneit.
Das einsame Zimmer im hinteren Teil des Hauses, das Schelaputow sich vom verschwenderischen Schicksal lieh, hatte einen separaten Eingang: eine gebirghafte rostfarbene Steintreppe, von deren Gipfel er jetzt auf die Umgebung hinabsah. Mit unangemessener Übertreibung hätte der Mieter den abgetrennten Teil des von süß-lichem Dattelpflaumengeklirr befleckten Gartens und die zum Meer führende Pforte sein eigen nennen können, auch sogar das Meer selbst, dessen gestriges zerstreutes, fruchtloses Blau sich gegen Morgen zu unnachgiebiger muskulöser Materie verhärtet hatte. Schelaputow musste hinunter: Im Vorland des Leitergebirges hatte Ingurka den geliebten Windhauch, die mächtige leckere Luftwelle, die der Mensch aussandte, erschnuppert und herumzuwirbeln, zu kläffen und zu meckern angefangen.
Doch wer ist Schelaputow? Wer Ingurka?
Schelaputow ist man weiß nicht wer. Ist er überhaupt Schelaputow? Wo ist er jetzt, gab es ihn überhaupt?
Ingurka hingegen war, und ist vielleicht, ein hinterhältiger, unterwürfiger Hund, der als Welpe für einen deutschen Schäferhund ausgegeben und vor einem Jahr für eine Flasche (eine leere Whiskyflasche) voll brodelnder Pflaumenbrühe angeschafft worden war. Das Hündchen wurde Ingur getauft und an die Kette gelegt, zwecks Aufzucht einer die Schätze des Hauses und das Gartenobst sichernden Wildheit. Ingur wuchs bescheiden heran, wedelte weiblich mit den hungrigen Hüften, ließ sich willfährig auf die Vorderpfoten nieder und fasste allmählich in seinem jetzigen Namen, seinem Geschlecht und seinem Aussehen Fuß: einer unklaren Mischung aus hübscher Ziege und hässlicher Wölfin. Die Kette indes lag fragend, in die Abwesenheit der Gefangenen verkrallt, auf der Erde. Gegen Ende dieses Herbstes kam für Ingurka zum ersten Mal die dunkle, heftige Zeit, die kitzelnd unter dem Schwanz juckte, aber die Seele auch zu ungekanntem Schwung und unerlebten Wünschen beflügelte. Im Zusammenhang damit drängten sich hinter dem von keinem Wachhund verteidigten, mit Stacheldraht umwickelten Gartenzaun eine Menge Rüden verschiedenster Farbe und Gestalt: arme Teufel, nicht alle zur Hofhundwürde gelangt in Ermanglung eines Hofs, aber alle mit den verfälschten Zügen angesehener Hunderassen, heruntergekommene Zerrbilder ihrer Vorfahren, die Dioskuria einst bevölkert hatten. Einer davon war vom Leben weniger gebeutelt: ein grell orangeroter, hellstimmiger junger Hund, der untadelige Scharik, durch sein Fell rund wie ein Spitz, aber von einer Farbe, die an das Kupfer des Sonnenuntergangs erinnerte.
Aus den Gedichten:
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Mich zieht die alte Rede an.
In alter Sprache liegt ein Zauber.
Sie hat oft kräftigern Verstand,
ist zeitgemäßer als wir glauben.
Zu schrein: „Mein Königreich für ein Pferd!“,
welch feurig unbedachte Großmut!
Doch auch in mich wohl einmal fährt
der Eifer, der vergeblich großtut.
Einst komm ich zu mir, arg bedroht,
die Schlacht für alle Zeit verloren.
Da klingt mir neu das Angebot
des alten Tollkopfs in den Ohren.
Was ist für mich ein Königreich!
Von unsrer Zeit geformt, belehrt,
nehm ich das Pferd und geb’s sogleich
für einen Augenblick, das Pferd,
mit meinem Liebsten. Ach, mein Ross,
mein feuriges, bleib mir gestohlen.
Ich lass stracks deinen Zügel los –
und du wirst laufen, einzuholen
die Herde, und du wirst wie je
mit ihr durch wilde Steppe jagen.
Ich hab es satt, das Täträtä
von Siegen und von Niederlagen.
Schad um die Liebe! Schad ums Ross!
Auf mittelalterliche Weise
find ich zu meinen Füßen bloß
die Spur von eines Hufes Eisen.
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In jenem Mai, in meinem Mai
war Leichtigkeit in mir wie Schweben,
ich breitete die Flügel frei,
ein Wetter war – zum Fliegen eben.
Ich schenkte gern, ich schenkte leicht,
Gesang war in mir, frohe Lieder,
ich tat’s dem Stieglitz nach, sogleich
taucht‘ in die Luft ich mein Gefieder.
Ich lernt zum Glück noch früh genug,
sah strenger hin von Mal zu Male,
und jeden Seufzer, jeden Flug
muss stetig teurer ich bezahlen.
Des Tags Geheimnisse sind mein.
Entdeckungen sich täglich mehren.
Ich schau umher und lächle fein,
ganz wie ein würdiger Hebräer.
Ich seh, wie Krähen im Gezweig
zu schwarzem Schnee herunter krächzen,
wie Langeweile Frauen beugt,
die über ihrem Strickzeug ächzen.
Und irgendwo ein Pfeifchen röhrt:
Da auf Rabatten läuft und Beeten
ein fremdes Kind – es pfeift und stört
die Ordnung derer, die sie jäten.