Bücher für Klein und Groß
Mit Aquarellen von Oliver Dietrich
Mitten in der Grauvogelwelt erblickt ein Küken mit farbigem Gefieder das Tageslicht – und es lernt singen. Die Grauvögel stoßen es aus. Nach einer abenteuerlichen Odyssee lernen beide Seiten, miteinander auszukommen. – Dieses Buch ist die Entdeckung des Jahres 2019. Geschrieben wurde es 33 Jahre zuvor, im Verborgenen. Gut versteckt vor Lehrern und Erziehern einer Internatsschule, wanderte es von Hand zu Hand, begeisterte Mitschüler und Eltern und fand einen kongenialen Illustrator, bevor es in einem Koffer verschwand, der ein halbes Leben verschlossen blieb. Und doch immer mitgeschleppt wurde. Über den Mauerfall hinweg geriet es in Vergessenheit. Die Geschichte war ein Versuch, mit den Beschränkungen der Vorwendezeit umzugehen. Das verlorene pandemische Jahr 2020 verlieh ihm überraschend Aktualität: Der Gehorsam, mit dem wir das Allheilmittel für alle gesellschaftlichen Krankheiten in Form eines Impfstoffs erwarten, ist plötzlich zurückgekehrt...
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, lebt in Leipzig.
Leseprobe:
Kennt ihr das Gebirge Xuwu in China? Nicht? Man erzählt sich eine eigenartige Geschichte, die sich dort zugetragen hat:
Die Grauvogelfamilie
Zwischen zwei Felsspalten nistete eine Vogelfamilie: unauffällige graue Vögel, die sich wenig voneinander unterschieden. Im Frühling, als die Mutter ihre Eier legte, war eines bunt gefärbt. Das fällt doch auf, wenn die anderen Eier grau sind! Die Mutter freute sich; sie war gespannt, was aus dem bunten Ei schlüpfen würde.
Kaum hatten sich die Küken freigepickt, kroch Angst unter das Gefieder der Mutter: Die anderen lernten schnell fressen, schluckten geschickt die Würmer und Fliegen, die die Eltern herbeischleppten – nur der Vogel aus dem bunten Ei öffnete seinen Schnabel nicht. Den anderen wuchs ein grauer Flaum, da hockte der Mickerling noch nackt im Nest.
Die andern wurden dick und für das Nest zu groß. Der Mickerling blieb ohne Federn und dürr wie am ersten Tag, so daß seine Geschwister begannen, ihn zu verachten und zu verspotten. Bei den Grauvogeleltern trat Sorge an die Stelle der Freude, bald hatten sie jede Hoffnung verloren.
Ausgeschlossen
Als der Platz nicht mehr reichte, beschlossen die Eltern, den Mickerling auszustoßen. Eines Nachts gab der Vater ihm einen Schubs, so daß der kleine Vogel aus dem Nest purzelte. Während er fiel, schoß ihm durch den Kopf: Ich fliege, ich kann fliegen! Niemand hätte mich verspotten sollen!
Der Mickerling wäre wohl rettungslos verloren gewesen, und seine Geschichte hätte ein Ende, wenn nicht ein dichter Wald seine Arme ausgebreitet hätte. Auf einem Birkenblatt blieb der Vogel, betäubt vom Sturz, liegen.
Eine Träne rollte über den Schnabel des Mickerlings, er schluckte und fing an zu piepsen. Je lauter er es versuchte, desto weniger mußte er weinen. Das Piepsen erleichterte ihn, es klang anders als bei seinen Geschwistern, die krächzten. Seine Stimme war farbig und angenehm. Er schrie nicht heiser, er flötete. Doch der Mickerling wollte schreien, wollte krächzen, lauter noch als seine Geschwister. Je mehr er sich anstrengte, desto lieblicher wurde sein Lied.