Alhierd Bacharevič
geb. 1975 in Minsk, Philologie- und Pädagogikstudium, mehrere Erzählbände
und Romane (Verdammte Hauptstadtgäste, Die Elster auf dem Galgen, Das kalte
Herz) in unabhängigen Minsker Verlagen, auch
Übersetzungen deutscher Literatur (Hans Magnus Enzensberger, Jan Wagner,
Kathrin Schmidt u.a.), Mitglied im oppositionellen Schriftstellerverband,
Stipendien des Internationalen Hauses der Autoren Graz, des
Literarischen Colloquiums Berlin, der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte
und des P.E.N.-Zentrums Deutschland, Auszeichnungen: Hliniany Viales-Literaturpreis,
Alhierd Bacharevič lebt in Hamburg.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geht 2025 an den belarussischen Schriftsteller Alhierd Bacharevič - bereits 2010 ist im Leipziger Literaturverlag sein erstes Buch in deutscher Übersetzung erschienen: "Die Elster auf auf dem Galgen" - wir gratulieren herzlich.
Veröffentlichung im Leipziger Literaturverlag
Die
Elster auf dem Galgen.
Roman, aus dem Weißrussischen von Thomas Weiler,
LLV 2010
- gedrucktes
Buch
- eBook
Stimmen
"Das Buch des belarussischen Autors Artur Klinau über seine Heimatstadt Minsk wurde mit großem Interesse aufgenommen, und dasselbe wünsche ich seinem Landsmann Alhierd Bacharevic, dessen Roman 'Die Elster auf dem Galgen' vor kurzem in deutscher Übersetzung erschien. Eine ebenso aufschlussreiche wie beklemmende Lektüre." Martin Pollack, Dankesrede zum Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung, 16. 3. 2011
Alhierd Bacharevič und Thomas Weiler in Bildern und Video: Lesung in Passau
Schneewittchens
Sarg
Weißrussische Vivisektionen: Alhierd Bacharevic und sein Roman „Die Elster
auf dem Galgen“
vonUlrike Baureithel, Tagesspiegel vom 01.08.2011
Dunkle
Sonnenstadt. Deutschland ist Gastland bei der Buchmesse in Minsk und will
Farbe bekennen
von UWE RADA, taz vom 11. 2. 2011
Bestens präpariert. Zu Al’herd Bacharėvičs Roman Die Elster auf dem Galgen von Thomas Weiler
Man übersieht sie leicht. Dabei sitzt die Elster im Bild Pieter Bruegels d. Ä. genau im Mittelpunkt, auf dem Galgen. Wer die detail- und anspielungsreichen Arbeiten Bruegels betrachtet, sollte lange Weile haben und ganz Auge werden. Ähnliches gilt für den Roman Die Elster auf dem Galgen des belarussischen Schriftstellers Al’herd Bacharėvič, der sich nicht nur des bruegelschen Titels bedient.
Als unscharfes Dia, projiziert auf die mit chemischen Formeln beschriebene Tafel, begegnet das Bild Vieranika wohl nur ein einziges Mal: „Ein Bild eben, Michelangelo-Raffael-Leonardodavinci, einer von ihnen würde es schon sein. Viel Wald, ein Stück Himmel, Berge. Irgendetwas Verschwommenes im Vordergrund.“ Vieranika ist nicht sonderlich motiviert, sich eingehender mit dem Gegenstand der öden Vorlesung zu befassen. Wer wollte es ihr verdenken: „Es war schließlich Herbst und sie war achtzehn.“
Al’herd Bacharėvič [Alhierd Bacharevič] präsentiert seine Hauptfigur als eher schlichtes Durchschnittsgemüt in einem (teilweise auffällig an Belarus erinnernden) autoritären Staat. Beengte Wohnverhältnisse, Pionierlagergeschichten, pubertierende Jungs, triste Studienjahre und Fluchten in virtuelle Welten – in Vieranika dürften sich viele Minskerinnen wiederfinden, vielleicht wehmütig, vielleicht auch unangenehm berührt. Die junge Frau gerät an eine Stelle in der Bezirksabteilung des staatlichen Sicherheitsdienstes und ist dem Regime treu zu Diensten. An ihrer unreflektierten Systemgläubigkeit zerbricht die Beziehung zu ihrem Freund, dem Ich-Erzähler, der sich ins freiwillige Exil einer (auffällig an Hamburg erinnernden) „nördlichen Hafenstadt“ begibt – Parallelen zu autorbiografischen Details sind nicht zu übersehen. Er blickt mit Abstand zurück auf sein Land und auf Vieranika. Und dieser Abstand lässt ihn nun auch die Elster erkennen, wo er früher nur den Galgen wahrnahm.
Dieser Plot ließe sich durchaus chronologisch erzählen. Zumal er auf ein dramatisches Finale zusteuert: „In circa fünf Minuten ist sie tot“, lautet der starke erste Satz. Von Beginn an weiß der Leser um Vieranikas Ermordung, er darf sie sogar mehrfach miterleben. Bacharėvič hat seinen Roman nämlich nicht dem Diktat der Zeit unterworfen, sondern dem des Körpers, er folgt keiner Chrono-, sondern einer Physiologie. Jedes Kapitel kreist um ein Körperteil, der zergliederte Körper gibt dem Text seine Struktur. Vieranika und mit ihr der Leser wird bald ganz Ohr, bald Haar oder Zunge. Da wird von der kleinen Vieranika, die sich an einem Eiszapfen festlutscht, zum ersten Tiefenkuss gesprungen, weiter zum Haar im Munde des Vorgesetzten und wieder zurück zum rituellen Briefmarkenanfeuchten in Kindertagen. Zunächst fühlt man sich angesichts wiederholt gekappter Handlungsfäden irritiert. Sobald man aber erkannt hat, wie souverän der Präparator Bacharėvič sein Skalpell handhabt, kann man die Irritation getrost fahren lassen und sich einfach an seinen Schnittkünsten erfreuen.
Immer wieder bricht sich die anatomische Perspektive auch in der Sprache Bahn, in Sätzen wie: „Der zentrale Schnitt führt vom Kinn zur Schambeinfuge bei linksseitiger Umschneidung des Nabels.“ Kapitel für Kapitel werden die Körperregionen Vieranikas inspiziert, wird die Mordszene neu beleuchtet und dargestellt, welche Lebensfunktionen gerade versagen, wann und wo die Tardieu-Flecken auftreten oder welche inneren Organe wie geschädigt sind. Der Autor bleibt dabei aber nicht bei der Sprache rechtsmedizinischer Obduktionsprotokolle stehen. Sie dient ihm vielmehr als Ansatzpunkt für poe(ti)sche Reflexionen. Als Subtext des Romans, bereits im vorangestellten Motto aufgerufen, ist Poes Erzählung Berenice mitzudenken. Berenice ist weit mehr als eine bloße Namensvetterin Vieranikas. Natürlich werden auch Anspielungen auf das Haar der Berenike und Seitenhiebe auf Coelho und seinem Roman Veronika beschließt zu sterben nicht ausgelassen.
Außerdem leistet sich Bacharėvič Exkurse ins florentinische Museum La Specola
mit seinen anatomischen Wachsmodellen, zu einem spektakulären Mordfall im
London des Jahres 1910 oder er gibt ausführliche Hinweise zum nutzbringenden
Einsatz von Mascara- Bürstchen und Wimpernzange. Die offene Erzählstruktur
verleitet dazu, bisweilen auch Passagen aufzunehmen, die zwar thematisch
zu rechtfertigen sind, letztlich aber weder ästhetisch noch inhaltlich unentbehrlich
wären. Hier hätte man sich manches Mal beherztere Amputationen von Autor
oder Lektor gewünscht. Zumal die Geschichte Vieranikas in der freiwilligen
Sklaverei, die Erfahrungen des Ich-Erzählers im freiwilligen Exil und die
Abenteuer von Vieranikas Alter Ego Regima in einer Second-life-Welt an sich
spannend genug sind. Der Präparator schneidet nicht nur gut, er hat auch
hochwertiges Material unterm Messer. Mit Die Elster auf dem Galgen
hat Bacharėvič einen gewagten Roman vorgelegt, der nicht nur in der belarussischen
Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht. In der Osteuropa-Bibliothek des
Leipziger Literaturverlags erscheint er nun in deutscher Übersetzung. Man
übersieht ihn leicht.