Zurück zur Autoren-Übersicht

 


Alhierd Bacharevič: "Die Elster auf dem Galgen" (Auszug)

Es sei hier jetzt modern, beim Geschichtenerzählen mit dem Ende anzufangen, heißt es. Eine seltsame Reverenz vor wem auch immer, eine müßige Dehnübung. Schließlich ist es ziemlich schwierig, vielleicht sogar unsinnig, auf Anhieb zum Schluss einer Geschichte zu kommen, ohne ihr die Gelenke zu verbiegen. Aber warum nicht? Ich hatte immer einen Hang zum Sinnlosen. „Das Licht im Korbe an den Tag tragen“ ist eines meiner liebsten Bruegel-Worte. Eine Zeit lang habe ich zum Beispiel gerne Denkmäler von hinten fotografiert. Sie sehen so wehrlos aus, diese scheinbar majestätischen steinernen Menschen, rittlings auf ihren traurigen Tieren – mit Ausnahme vielleicht der meterhohen grünlichen Bismarck-Statue in der Stadt, in der ich jetzt lebe. Von wo sie auch fotografiert wird, jeder Fotograf muss vor ihr strammstehen. Ich habe dir das Bild geschickt. Kurz zuvor hast du zum letzten Mal deinen Posteingang kontrolliert. Ein Jahr später hatten die Spam-Mails deinen Briefkasten gesprengt. Vielleicht ging genau damals und genau dort, geschützt von einem mir unbekannten Passwort, deine Geschichte tatsächlich zu Ende und nicht etwa in jenem Gang, den ich jetzt wieder aufsuchen muss, um wie hier üblich ganz am Ende zu beginnen.

In circa fünf Minuten ist sie tot. Später, bei der Beerdigung, wird sich ihr Chef dann ein wenig zusammenreißen müssen auf der Suche nach den richtigen Worten. Im Grimm’schen Evangelium bot Gott dem Menschen einst dreißig Jahre Lebenszeit an, aber der wars nicht zufrieden, bat um mehr und mehr und handelte schließlich siebzig Jahre heraus. So zieht sich die Denkpause nicht allzu lang: ein tragischer, viel zu früher Tod, sagt der Chef, es hatte doch sein Leben noch vor sich, das arme Mädchen, und alle Umstehenden nicken zustimmend und bekümmert, klammern sich fester an den eigenen Körper. Aber die fünf Minuten sind noch nicht um, sie sitzt an ihrem Arbeitsplatz, einige der wartenden Besucher beneiden sie ein bisschen.
Ich könnte schon jetzt ihren Namen nennen, aber soll der Tod ruhig noch ein wenig suchen. Sie zu finden ist nicht ganz einfach – der Gang hat viele Türen und obwohl an jeder ein Schild mit Name und Zuständigkeitsbereich angebracht ist, fällt die Orientierung schwer. Ich bin der erste in der Reihe, kann aber von hier aus nur meinen Nachbarn zur Rechten sehen, alt, in einem zu kleinen, fleckigen Jackett (kein Wort über die Hosen), mit einem auffallend langen Gesicht, warzig wie ein heißer Pfannkuchen, und mit großen Händen, er weiß nicht, wohin mit ihnen. Bewegliche, flinke Finger. Deutlich ist ihm anzusehen, dass er als erster hinein möchte und dass ihm dieses Anliegen keine Ruhe lässt. Immer wieder beißt er sich auf die Lippe, er ist nervös. Die Besucher sitzen, eine zufällige Menschenansammlung, längs der Wand, manche unterhalten sich im Flüsterton. Ich überlege mir, ob unsere Warteschlange tatsächlich eine rein zufällige Menschenansammlung ist und ob es überhaupt zufällige Reihen gibt. Hier zum Beispiel, ganz unterschiedliche Bürger sind hierher gekommen, ihre Anliegen sind einander aber sehr ähnlich. Sie finden gemeinsame Gesprächsthemen. Sie lächeln einander an, wenn sie sich überraschend auf der Waldlichtung in den Beeren begegnen. Ich bin hier die einzige Ausnahme, ich bin fast tausend Kilometer hierher gefahren, um diese junge Frau zu sehen, die in ein paar Minuten tot sein wird. Und die Schlange hinter mir ist dazu da, unser Leben sauberer zu gestalten. Ich kann nicht, ich mache gleich etwas kaputt oder fange an zu singen. Nur die Ruhe, das ist bloß das Bezirksamt. Und der Name der Abteilung, in der wir uns befinden, sollte nicht mehr und nicht weniger Emotionen auslösen als, sagen wir mal, der Name der Abteilung für Gesundheitswesen. Es ist mein ganz persönliches Problem, dass ich mich einfach nicht an schwarz auf weiß geschriebene Wörter gewöhnen kann. Die auf der anderen Seite der Tür hat schnell gelernt, in der Öffentlichkeit nicht über den Namen ihrer Abteilung zu stolpern.
Ich blicke zur Tür, dort sind auf dem Schild ihre Sprechzeiten angegeben. Sie ist das Regime, sie kann mit dem einfachen Volk nicht abends oder, Gott bewahre, nachts sprechen, nur von neun Uhr früh bis ein Uhr mittags und nach der Mittagspause von zwei bis sechs. Äußerst praktisch und gerecht. Das Regime kann es sich nicht leisten, in der Dämmerung mit den Menschen zu sprechen, das Volk muss die Möglichkeit haben, ihm in die unbestechlichen, unparteiischen Augen zu sehen. Daran hat sie immer geglaubt. Endlich geht die Tür auf, aus dem Raum tritt derjenige, hinter dem ich mich vorher einmal eingeordnet hatte, sein zufriedenes Pfeifen entfernt sich langsam. Ich erhebe mich, mein greiser Nachbar ebenfalls, aus seinen Augen strahlt das Feuer des Gerechten, er findet, der Altersunterschied gebe ihm das Recht, zuerst einzutreten, ich würde ihn, wenn es so weit ist, ja wohl auch nicht daran hindern, vor mir aus diesem Leben zu gehen. Er streckt die Hand nach mir aus. Meinetwegen. Die Tür geht hinter ihm zu. Ich setze mich auf den Stuhl.
Manche Besucher können hier lesen, welche Blasphemie! Ich kann es jedenfalls nicht. Ich habe es versucht, die Buchstaben widersetzen sich dem Blick, wie ein Bissen, der nicht den Hals hinunter will. Wozu sitze ich hier, ich weiß doch genau, wie das Regime aussieht. Eine junge Frau im schwarzen Kostüm an einem Tisch aus hellem Holz, in ihrem Dienstzimmer, eine junge Frau, die ich besser kenne, als sie selbst, eine Frau, die ich mithilfe meiner schlichten Ausrüstung, die sich über die letzten Jahrtausende kein bisschen geändert hat, so häufig und so ergebnislos untersucht habe, und ich habe nichts gefunden. Einmal hatte ich ihre Spur verloren, jetzt ist keine mehr geblieben. Sie hat so gern von sich erzählt. Regima – ein schöner Name, erst unlängst in Mode gekommen, auch wenn die junge Frau ganz anders heißt, ist sie einfach das Regime, eine kleine Matroschka des Regimes, eines seiner vielen Gesichter, ein kleiner, ovaler, rissiger Stein mit zusammengekniffenen Augen, den ich rasend in einem alten Kissen versenkte, und er kam immer wieder an die Oberfläche und drückte mir gegen die Brust. Die Ohren eine Nummer zu groß, so hätte mein Freund, der Marktverkäufer es ausgedrückt, geschickt unter den Haaren verborgen, ein verdutzter Mund, nichts Außergewöhnliches. Vielleicht die Brauen – sie schienen mir bei ihr irgendwie nicht auf derselben Höhe zu liegen, daher der immer leicht erstaunte Gesichtsausdruck. Darunter kaltes Wasser, Herbst, raue Rinde. Wie sieht ihr Regiment aus? Ist es dieser Blick aus dem Fenster auf den leeren Platz, der gerade asphaltiert wird? Die Porträts der Verwandten auf dem Tisch und über ihrem Kopf? Die Tasten Alt und F4 auf der Tastatur des behördeeigenen Computers? Ihre hochhackigen Schuhe, die sie am Schreibtisch sitzend abstreift und wieder und wieder mit den Zehen betastet, als könnten sie verschwinden? Der Kalenderstapel, in dem irgendwo jemandes Telefonnummer notiert ist? Ich weiß auch so nur zu gut wie sie aussieht und kann gehen, meinen Platz dem nächsten Besucher in der Reihe überlassen, aber ich bleibe, sitze da, vielleicht, um ihr etwas zu sagen, vielleicht, sie zu retten. Aus dem Zimmer sind Geräusche zu hören, Glas klirrt, ich glaube, sie schreit, Vieranika, das strenge Kind, das endlich eine gute Arbeit gefunden hatte.

 

1

Sie hatte geglaubt, mit dem Studium würde es aufhören – von wegen. Wie ein Seil in der Sporthalle packte er die zu einem strammen Zopf gebundenen Haare und riss sie mit aller Kraft nach unten, gedämpft knallte seine starre Handwurzel gegen die Stuhlkante, der Schmerz flammte automatisch am Scheitel auf und verstummte sogleich wieder, nur ein Echo oben an der Stirn blieb zurück. Sie hatte aufgeschrien und sich mit hochrotem Kopf und irren, feuchten Augen umgewandt – er saß über seine Mitschrift gebeugt und hob langsam, verständnislos den Kopf. Die Dozenten runzelten die Stirn und begannen ihren Satz noch einmal, und sie schrieb ihn gedankenlos von neuem auf, weshalb sich in ihren von grell orangefarbenen Markern erhellten und von schlichten Bleistiftspuren durchwehten Heften viele Wiederholungen fanden: „Johann Come Johann Comenius Comenius“. Ein eigenwilliges Schreibstottern. „Sind wir hier im Kindergarten?“ fragten die einen, „Ihr seid doch erwachsene Menschen“ meinten die anderen und fassten sich an den Kopf. Die Worte waren an sie gerichtet, als provozierte sie den Idioten in ihrem Rücken. Ärger bis hin zu Tränen auf dem Klo. Selige Anonymität des ersten Semesters: „Die junge Dame im weißen Pullover, hören Sie?“, „Fräulein auf der Galerie, Sie sind gemeint!“ Sie wäre ehrlich erstaunt gewesen, hätte ihr jemand erklärt, dass die Provokation tatsächlich von ihr ausging, beziehungsweise von dem hellen Flaum ihres Nackens, den gestuften, offenen Haarsträhnchen, die sich nicht einträchtig mit den anderen unter die breite, kirschrote Spange begeben hatten, dem Muttermal, das einer von der Natur vergessenen, versprengten Brustwarze glich.

Später erfuhr Vieranika zufällig den Namen ihres damaligen Peinigers – Žvalevič. Ja, die Gesetze der Schulzeit besagten, dass nur die Liebe Auslöser solcher Übergriffe sein konnte, aber die Schule war Vergangenheit, das vergangene Jahr ein Jahrhundert entfernt, sie war überzeugt, zwischen erwachsenen Menschen zu sitzen, erwachsen zumindest in dem Sinne, dass sie an ihre Idole herangewachsen waren, wenn nicht an Viktar Viecier, so doch an Magda … (Sie konnte stundenlang Magda hören, sie zog die Zimmertür zu, legte die Kassette ein und bettete sich in die Musik wie in einen Sarg, auf der Schwelle erschienen irgendwelche bekannten Gestalten, sperrten die Münder auf und ruderten mit den Armen, aber sie rückte nur noch näher an den Lautsprecher, einmal verstummte das altersschwache Kassettengerät, sie entwendete den väterlichen Wodka und brachte ihn Nachbar Jurka, dass bloß Magdas Stimme wiederkehre). Doch leider, sie hatte es am 1. Oktober in ihr Tagebuch geschrieben, spielten die Jungs in ihrem Jahrgang noch Soldaten, und die meisten Mädels waren echte Kolchospflanzen, mit Ausnahme vielleicht von Ina und ihren beflissenen Anhängerinnen, die wiederum Vieranička bislang schlicht ignorierten. In ihrer Studiengruppe haftete ihr gleich der Spitzname Troll an. Sie bekam das erst mit, nachdem sie sich die Haare hatte schneiden lassen, jetzt packte sie das blanke Entsetzen, wenn sie auf den Fotos aus dem ersten Studienjahr ihre Ohren betrachtete – hättest du sie dir damals bloß mit der Schere gestutzt, dumme Gans.


* * *

Die Haare schlüpften ihr in den Mund, ihr wurde übel von den eigenen Haaren, die Haare klebten in ihrem von der feierlichen Intonation feuchten Mundwinkel, sie hatte den Text doch gar nicht geprobt. Überhaupt hätte Ina ihn vortragen sollen, aber die wollte man ja gerade der Universität verweisen. Zwei Jahre lang hatten ihre tadellosen Prüfungsleistungen sie gerettet wie der amerikanische Pass den dreisten Touristen, aber das „Bordell im Wohnheim“ (so der Titel der entsprechenden Wandzeitungsnotiz) war selbst für ihren chronisch tranigen Dekan zu viel. Da waren sie dann zu Vieranika gekommen und hatten ihr schwer die Hand auf die Schulter gelegt: Sei so gut. Und sie hatte sich noch unverschämt darüber gefreut, wenngleich sie immer wieder sagte: Ich kann nicht, ich kann nicht, und sie hatte ihr Herz zurückgestopft, ich kann nicht, ich kann nicht, aber da war niemand mehr, nur der Pädagogikdozent ging mit sportlich federnden Schritten die Treppe hinauf, in ihrer Hand zerknitterte das Papier.
Tags darauf musste sie eine Stunde früher aufstehen, der erste Bus war noch mörderischer als der, mit dem sie normalerweise in die Stadt fuhr, und sie hauchte sich ständig vor die eigene Nase, weil sie glaubte, sie habe Mundgeruch. Die Männer, die Vieranikas Vater nicht mehr grüßten, nahmen sie in ihre Mitte, um sie gegen diejenigen zu verteidigen, die an feuchtfröhlichen Feiertagen mit den Fäusten auf den Vater losgingen. Aber diese Verteidigung gab es nicht umsonst, und Vieranika drückte sich nach Kräften um die Bezahlung dieser braven Dienstleister; der Verteidigungsring wurde zusehends enger, und sie wurde gegen die Haltestange gequetscht. So stand Vieranika nun eingepfercht in diesem seltsamen, fensterlosen Raum mit seinen lebendigen, mobilen Wänden, hinter denen das Busgerede summte. Die ganze Zeit kam es ihr vor, als schwiegen die Fahrgäste, während einer seinen endlosen, trunkenen Monolog hielt, völlig unverständlich, als rieselten die Worte aus der kräftig durchgeschüttelten Vortagsausgabe des „Jungen Antifaschisten“. Der Grundriss dieses Raumes war dreieckig, es gab ja drei Verteidiger. Und diese mussten ein geheimes Abkommen miteinander geschlossen haben, denn sobald Vieranika in eine jähe Lücke stieß, setzte die aufmerksame dritte Wand sofort die beiden anderen in Bewegung, und der Durchgang schloss sich wieder. Oben schaukelten drei teilnahmslose Köpfe, unten tummelten sich in Jeans eingezwängte Bäuche, die Vieranika einander zuschoben wie einen Ball. Endlich gab sie auf und ließ sich gehorsam gegen einen der Bäuche fallen, die beiden anderen versuchten eifersüchtig, sie dem Sieger wieder abzujagen, die karierten Bäuche wollten nur Gerechtigkeit, die Hände wollten mehr, und nur der Neid auf die Gegner hielt sie zurück, ließ sie auf den Taschen liegen und den Geruch halbgaren Fleisches verströmen. Die drei anderen Hände verfolgten das Geschehen von der Haltestange aus wie gierige Raubvögel, die nur darauf warteten, über die Reste herzufallen, aber die Orgie wollte einfach nicht beginnen.
Vieranika schloss, gegen den warmen Bauch gedrückt, die Augen und stellte entsetzt fest, dass sie den Text vergessen hatte, komplett vergessen, sie wusste nur noch, dass am Ende, in der vorletzten Zeile „den Helden Meriesen“ stand, weiß der Teufel, was dieses „Meriesen“ bedeuten sollte, es klang wie „Danke“ – also ein herzliches Meriesen liebe Helden, keine Ursache, Meriesen gleichfalls, dass ihr uns nicht vergessen habt! Da konnte überhaupt nicht Meriesen stehen, aber Vieranika erinnerte sich aus unerfindlichen Gründen an genau diese Worte. Sie versuchte, sich das Blatt Papier mit dem gedruckten Text vorzustellen, sie hätte ein fotografisches Gedächtnis, hatte ihr der Mann gesagt, der bei der Hochzeit ihrer Cousine gefilmt hatte, sie stellte es sich vor, sah das zerknitterte Blatt, auf das ihr gestern Abend ein Tropfen Tee gefallen war, genau vor sich, und da stand es in dieser Zeile: ta-ta-ta-ta-ta-ta den Helden Meriesen. Vielleicht hatte sie ja einen Trennstrich vergessen? Vieranika suchte nun fieberhaft nach Wörtern, die mit „Meriesen-“ anfangen könnten, konnte aber keine finden, dafür fiel ihr ein, dass das zweite Wort im Text „Verehrung“ war. Von diesem kleinen Erfolg beflügelt, beschloss sie, das Blatt mit dem Text hervorzuholen, sobald sie aus dem Bus aussteigen würde. Dabei hatte es schon jeglichen Sinn verloren, eine Ansammlung grauer Buchstaben, geboren im Todeskampf des Tintenstrahldruckers. Sie spürte, wie die Haare, die sich durch den Luftzug bei jedem Halt aus der Obhut der Spange befreit hatten, über ihrem Scheitel flatterten und vom zärtlich-begehrlichen Atem des unsichtbaren Kopfes über ihr befeuchtet wurden. Reste des aus diesem Kopf hervorgestoßenen Atems wanderten bis in ihre Nase, desgleichen ein langes, vertrautes blondes Haar, das ihr jedes Mal ins Auge geriet, wenn sie es fortblies und nebenbei die Reinheit ihres eigenen Atems überprüfte. Der feste Bauch an ihrer Wange grummelte und erhielt Antwort vom Bauch Vieranikas, die in der morgendlichen Aufregung nicht zum Frühstücken gekommen war. An der erforderlichen Haltestelle unweit der Metro schoben sich die Wände widerwillig auseinander, sie schlüpfte durch den Spalt, zog nebenbei das Blatt hervor und wandte sich um. Einer ihrer Verteidiger war ihr Nachbar Juryk gewesen, er bleckte lustig die Zähne, pfiff und fuhr weiter, zur Arbeit.
Sie kontrollierte es im Kampf mit dem Wind – da stand tatsächlich „Meriesen“. Das beruhigte Vieranika, schließlich war der Text nicht von ihr, Meriesen also, irgendjemand wollte das wohl so. Wahrscheinlich hatte das Wort einen Sinn, sie war ja damals erst im dritten Studienjahr und wunderte sich Monat um Monat, wie viele unbekannte Wörter es in der Welt vor ihrem Universitätsleben gegeben hatte. Pädiater zum Beispiel, oder Mankurt – für Vieranika bedeuteten diese Wörter ungefähr soviel wie Meriesen. „Den Helden Pädiater, den Helden Mankurt“ klang genauso gut oder schlecht wie „den Helden Meriesen“. Vielleicht war das Teil des Drehbuchs, das selbstverständlich mit Kenntnis und unter Aufsicht des Dekans entstanden war. Vieranika war um Punkt neun an der Hochschule. Der Wind riss an den Flaggen, die Vertreter des Wehrkommandos hielten ihre Schirmmützen mit beiden Händen fest, als landete neben ihnen ein Helikopter. Man drückte ihr ein Schiffchen auf den Kopf, Farbton Kindspech. „Noch Fragen?“ wollte eine strenge und, nebenbei bemerkt, gut geschminkte Tante wissen. „Dann auf in den Kampf!“ „Torero …“, flüsterte Vieranika. „Sooo!“ Die Tante, die eigentlich schon auf dem Weg zur Tribüne war, drehte sich noch einmal zu ihr um und kniff sie in die Wange. „Laut und deutlich! Und …“ Die Tante maß Vieranika mit einem abschätzigen Blick und rupfte ihr die Spange aus dem Haar. „So ist es romantischer! Und das Schiffchen hältst du in der Hand. Los geht’s!“
Der Wind schlug Vieranika ins Gesicht, riss ihre Haare zurück wie einen Fallschirm, ihre Augen tränten. Im vollsten Bewusstsein, sich an kein Wort ihres Textes mehr erinnern zu können, trat Vieranika auf die Tribüne, und als sie nach einer längeren Pause ins Mikrofon nieste, schloss die Regietante in ihrer Verzweiflung die Augen, doch da rauschte nach einem Windstoß ein großes Plakat auf die Tribüne, und plötzlich leuchteten karaokegleich hektische Worte vor Vieranikas Augen auf, sie sprach sie hastig aus, voller Angst, sie zu verpassen, und endlich kam irgendwoher der gesamte Text angeschwommen, sie fand in der zweiten Strophe sogar Gefallen am Klang ihrer Stimme, selbst der Wind hielt inne, um zu hören, weshalb sich hier diese jungen und alten Menschen versammelt hatten, was der Auflauf eigentlich sollte, in dem das mittlere Alter überhaupt nicht vertreten war … Doch dann verlor er das Interesse und kroch auf Vieranika zu, sie zu küssen. Die Haare schlüpften ihr in den Mund, ihr wurde übel von den eigenen Haaren, die Haare klebten im schäumenden Feierlichkeitsvulkan ihres Mundwinkels, die Haare strebten dem Gaumen zu. Das Schiffchen fixierte als eigentümliches Handeisen ihre Hände, die Haare, so schien es Vieranika, knirschten wie Sand zwischen den Zähnen, setzten sich in den Zwischenräumen fest wie Zahnseide, wie Nadeln unter Fingernägeln, blonde Haare, widerwärtige Haare, als wären es nicht die eigenen. Bis zum „Meriesen“ war es noch ein gutes Stück, und Vieranika konnte den Brechreiz kaum noch unterdrücken. Irgendwie schaffte sie es doch bis zum Ende und saß danach lange unterhalb der Tribüne, zwischen Kränzen, eine Schnitterin mit Goldkrone, streckte die Zunge heraus und fuhr mit dem Finger darüber, um die Haare aufzulesen. Die Regisseurin, die nach den Ehrengarben sah, betrachtete Vieranika voller Abscheu und begann in den Taschen zu kramen.
Was ein Meriesen ist, hat Vieranika nie herausgefunden, niemand weiß das. Vielleicht steht darüber in anderen Büchern etwas geschrieben, bestimmt nicht in diesem. Aber die Fotos sind dann doch schön geworden, Vieranika sah darauf sogar ein bisschen aus wie Magda auf ihrem bekanntesten Poster, einem Konzertfoto. Bis zum Abend fand sie immer wieder Haare in ihrem Mund, das letzte kam widerwillig heraus, als sie in der Wanne lag, ein langes blondes Haar, das irgendwo im Innern Vieranikas gewachsen sein könnte, und sie entfernte es.

 

Aus dem Belorussischen von Thomas Weiler


 

 


Zum Autor

Zum Übersetzer

Zum Buch !