Kapitel 28 aus dem Ishinpō | Yixinfang 醫心方
300 Seiten. Mit einer ausführlichen Einleitung, zahlreichen Abbildungen und Kommentaren, Fadenheftung
Aus dem Chinesischen von Viktor Kalinke
Erscheint im Herbst 2024 / Frühjahr 2025 - jetzt zum Vorzugspreis vorbestellen
Das Ishinpō 醫心方, mitunter auch als Ishimpō transkribiert, in China als Yixinfang („Leitlinien für die medizinische Behandlung“) bekannt, das in den Jahren 982-984 von Tamba Yasuyori zusammengestellt wurde, ist das älteste der erhaltenen medizinischen Lehrbücher Japans. Es besteht hauptsächlich aus Zitaten alter chinesischer Klassiker, zu denen eigene Bemerkungen und Beobachtungen des Verfassers hinzukommen. Das Werk ist also eigentlich nur ein Sammelband – weil etliche der ursprünglichen Klassiker im Laufe der Geschichte aber verloren gegangen sind, ist es heute von unschätzbarem Wert. In der Heian-Zeit (784 bis 1186) stand Japan mit China in lebhaftem Austausch. Da man bei allen Gesetzen und Einrichtungen das Vorbild Chinas, das damals von der Tang-Dynastie regiert wurde, nachzuahmen suchte, fand auch die chinesische Medizin immer mehr Eingang in Japan. Das hier erstmals ins Deutsche übertragene Kapitel 28 namens Fangnei ("Im Schlafzimmer") widmet sich der Sexualität und Sexualmedizin. Yasuyori nutzte auch bei diesen Themen altchinesische Quellen, die heute weitgehend verloren gegangen sind. Der breiten Öffentlichkeit wurde das Ishinpō erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Kapitel 28 fiel sofort unter die kaislerliche Zensur. Heute gehört das Buch zum Nationalschatz Japans.
Überlieferungsgeschichte und Hintergründe:
Die Nachfahren Yasuyori’s übten als hochrangige Hofärzte 典薬頭 über Generationen einen großen Einfluß auf die Entwicklung der Medizin in Japan aus und ergänzten die Beobachtungen und Aufzeichnungen Yasuyori’s mit eigenen Studien. Gelegentlich gelangten kleinere Auszüge aus dem Ishinpō in Umlauf, doch in der Kamakura-Ära während des 13. und 14. Jahrhunderts wandten sich japanische Ärzte vermehrt den medizinischen Konzepten der chinesischen Song-Dynastie zu. Das Ishinpō wurde seltener konsultiert und verschwand in den Schränken der kaiserlichen Bibliothek. Dort schlummerte es, bis es 1554 auf Anordnung des Tennō Ōgimachi dem Hofarzt Nakarai Zuisaku 半井 端策 überlassen wurde. Ab dem 18. Jahrhundert waren japanische Ärzte von den Heilkünsten holländischer Seefahrer fasziniert und betrachteten das Ishinpō als eine Reliquie des Altertums. Eine Abschrift, die in der Familie Tamba verblieben war und lange Zeit vom Familiezweig Taki aufbewahrt wurde, ging verloren. Ein umfangreiches Fragment, das die Bücher 1, 5, 7, 9 sowie Teile von Buch 10 umfaßt, hütet der Ninna-Tempel in Kyōto. Diese Version liegt nach Ansicht vieler Fachleute näher am Urtext als der Nakarai-Text. 1854 übergab die Familie Nakarai das Werk der Tokugawa-Regierung. Heute befindet es sich im Nationalmuseum Tokio und gehört zum Nationalschatz Japans. Nach einem Abgleich mit den Fragmenten, die sich noch im Besitz seiner Familie befanden, nahm der Hofarzt Taki Motokata 多紀 元堅 eine Rekonstruktion des Textes vor. 1860 wurde er erstmals in einer Holzblock-Druckausgabe für die Allgemeinheit veröffentlicht. Während einer Reise ins Land der aufgehenden Sonne war 1870 Yang Shoujing der erste chinesische Gelehrte, der das Buch entdeckte. In Japan folgten Nachauflagen 1906, 1909 und 1935 – jeweils in limitierten, gekürzten und zensierten Ausgaben.
In Japan fiel die Publikation von Kapitel 28 des Ishinpō unter die Zensur. Als 1906 eine vollständige Ausgabe erschien, wurde das Fangnei-Kapitel sofort verboten und als sittenwidrig denunziert und der weitere Druck untersagt. Als 1909 eine Buchausgabe der Asakuraya-Fassung publiziert wurde, übersahen die Behörden das drei Jahre vorher zensierte Kapitel über die Liebeskunst. Doch die öffentlichen Bibliotheken verboten ihren Nutzern, dieses Kapitel zu lesen – was letztlich zu seiner weiten Verbreitung beitrug. In der Ausgabe von 1935 wurden die Seiten, die Kapitel 28 im Buch einnimmt, blank stehengelassen. Nichtsdestotrotz wurde der Text in den 1920er und 1930er Jahren von japanischen Forschern, unter denen geradezu eine sexologische Manie ausbrach, verstohlen zitiert.
Als sich ein Schüler des Dichters, Sammlers, Kalligraphen, Herausgebers und Verlegers Ye Dehui 葉德輝 (1864–1927) im Jahre 1902 an der ehemals Kaiserlichen Bibliothek in Ueno aufhielt, fiel ihm auf, daß Kapitel 28 des Ishinpō zahlreiche Zitate aus verschollenen daoistischen Klassikern zu den sexuellen Künsten enthielt. Ye Dehui rekonstruierte diese Klassiker auf der Grundlage einer handschriftlichen Kopie, die ihm der Student zuschickte, und gab das Resultat 1903 unter dem Titel Shuangmei jing'an congshu 雙梅景闇叢書 („Schatten des doppelten Pflaumenbaums“) als Privatdruck heraus. Ye Dehui war damit der erste moderne Gelehrte, der Einblick in die sexuellen Künste des alten China erhielt. Als das Buch 1914 neu aufgelegt wurde, fügte Ye einige weitere Titel hinzu. Später wurde es als Sunüjing 素女經 („Klassiker der einfachen, ursprünglichen, natürlichen Frau“) populär, obwohl es Fragmente aus mehreren verschollenen Klassikern zur Sexualkultur enthielt: Sunüjing, Yufang mijue, Yufang zhiyao, Dongxuanzi und anderen. Ye Dehui war einer der produktivsten Sammler seltener Bücher und Manuskripte in China. 1910 veröffentlichte er einen Leitfaden für das Sammeln von Büchern, und 1915 gab er einen Katalog der rund 350.000 Bände seiner persönlichen Sammlung heraus. Sein Sunüjing enthielt jedoch – wie bei dieser Verfahrensweise zu erwarten war – zahlreiche Transkriptionsfehler. Dennoch löste das Buch einen Skandal aus und empörte auch die chinesische Öffentlichkeit in der Republik. Der Herausgeber bezahlte seine Liebe zur geistigen Freiheit mit dem Leben: Er wurde von Kommunisten umgebracht. Die Veröffentlichung Ye’s Rekonstruktion klassischer Sexualhandbücher erregte die Aufmerksamkeit sowohl chinesischer Historiker als auch westlicher Gelehrter wie Henri Maspero, Joseph Needham und Robert H. van Gulik. Joseph Needham bezeichnete das Fangnei als „größte chinesische sexologische Sammlung“. Auf sie gründete der holländische Sinologe Robert van Gulik seine ebenfalls zunächst nur als Privatdruck 1951 erschienene Ausgabe erotischer Darstellungen aus der Ming-Zeit.
Obwohl es ein Werk ist, das sich ausschließlich auf chinesische Quellen stützt, erschien erst 1955 die erste Buchausgabe des Yixinfang in China. 1973 wurden im Dorf Mawangdui zahlreiche über zwei Jahrtausende abhanden gekommene Textfragmente gefunden, die der frühen Han-Zeit und der Prä-Qin-Zeit zuzuordnen sind. In Grab No. 3 im kamen zehn Fragmente zutage, auf Seide bzw. Bambus geschrieben, die eine große Ähnlichkeit zu den hier zitierten Klassikern in Kapitel 28 aufweisen. In den letzten Jahrzehnten sind in China hervorragend edierte, kritische Ausgaben veröffentlicht worden, in denen die im Yixinfang gesammelte Zitate zeichengenau mit noch vorhandenen Quellen verglichen wurden. Zu erwähnen ist hier vor allem die Ausgabe von Gao Wenzhu 高文柱 et al. (2011), die auch als Referenz für die vorliegende Übersetzung verwendet wurde.
Tamba Yasuyori (Pinyin: dān bō kāng lài) 丹波 康頼 (912-995): wurde im 12. Regierungsjahr des Yenshi 延喜 in Japan geboren. Seine Vorfahren waren Übersiedler aus China. Tamba Yasuyori selbst stammte aus dem Bezirk Amata in der Provinz Tamba 丹波國 (heute Fukuchiyama, Präfektur Kyōto). Tamba Yasuyori arbeitete als Arzt am Hof des Tennō und verfaßte in den Jahren 982 bis 984 auf dreißig Schriftrollen das Ishinpō. Er kannte sich in der chinesischen Literatur bestens aus und griff präzise auf mehr als hundert Texte der Han-, Sui- und Tang-Zeit zurück. Das fertige Werk stellte er dem Tennō 円融天皇 (959-991, r. 969-984) zur Verfügung. Es deckt das gesamte medizinische Wissen der damaligen Zeit ab. Dafür erhielt er vom Kaiser den Beinamen Tamba Shukune und wurde zum Begründer der Tamba-Familie, die sich seither dem Arztberuf verpflichtet sieht. Zum genealogischen Hintergrund der Familie Tamba gibt es verschiedene Theorien, insbesondere über die Vorfahren von Yasuyori. So wird behauptet, daß er ein Mitglied des Sakagami-Clans gewesen sei, der von einer wandernden Linie abstammt, und daß ein entfernter Verwandter Kaiser Lingdi 靈帝 aus der Östlichen Han-Dynastie gewesen sei. In vielen Biographien Yasuyori’s wird diese These übernommen. Lingdi’s Urenkel waren vor einem Krieg nach Japan geflohen und ließen sich zunächst in Yamato nieder; später zogen sie nach Tamba-gun, wo sie ihren Namen änderten. Unter seinen vielen Brüdern fiel Yasuyori wegen seiner Intelligenz, Gelehrsamkeit und ausgezeichneten medizinischen Fähigkeiten auf und wurde vom Kaiser an den Hof geholt.
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Promotion, Professur, lebt in Leipzig, übersetzte und kommentierte das Daodejing von Laozi sowie das Buch Zhuangzi.