Zurück zur Autoren-Übersicht

 


Robert Hodel im Interview mit literatur.rs

Der Innenblick auf ein halbes Jahrhundert

Für den Leipziger Literaturverlag hat Robert Hodel, bedeutender Slawist und Professor an der Universität in Hamburg die Anthologie „Hundert Gramm Seele“ herausgegeben, in welcher er serbische Dichter, die zwischen 1940 und 1960 geboren sind, versammelt.

Die Rede ist von der mittleren und älteren Generation serbischer Dichter und Dichterinnen, die sich dem Fall der Berliner Mauer formierte. Warum gerade diese Periode?

Hierfür gibt es mehrere Gründe. Zum einen handelt es sich um eine Generation, die, obwohl sie in Serbien schon weitgehend kodifiziert ist, dem deutschsprachigen Leser bis auf einzelne Namen kaum bekannt ist. Zum zweiten handelt es sich um eine Generation, die die Transformation vom sozialistischen Jugoslawien in die Nachfolgestaaten mitverfolgt und mitgeschrieben hat. Da jeder Autor mit sieben Gedichten vertreten ist, die einen Überblick von den ersten bis zu den letzten Gedichtbänden verschaffen, erhält der Leser Einblick in die Geisteswelt der letzten fünfzig Jahre: So repräsentieren die frühesten Gedichte die Aufbruchstimmung und die Tabubrüche der Sechziger Jahre, auf diese Texte folgen die Auseinandersetzung mit dem sich ankündigenden Ende des sozialistischen Vielvölkerstaates, die Frage nach einer nationalen Identität jenseits des „bratstvo-jedinstvo“ (Brüderlichkeit-Einheit) und schließlich die Verarbeitung der jüngsten, tragischen Vergangenheit. Das heißt freilich nun nicht, dass die Gedichte mehrheitlich politische Texte sind, dennoch aber lesen wir sie vor dem Hintergrund dieser Ereignisse. Sie ermöglichen einen Innenblick auf ein halbes Jahrhundert.

Welche Autoren haben Sie in Ihre Anthologie aufgenommen und warum? Welche Kriterien wendeten Sie an?

Insgesamt sind 28 Autoren vertreten. Wichtig war dabei, dass nicht meine subjektive Sicht, sondern die Rezeption dieser Dichter in Serbien den Ausgangspunkt bildete. Ich wollte diese Generation so vorstellen, wie sie im einstigen Jugoslawien und im heutigen Serbien aufgenommen wurde und aufgenommen wird. Ausschlaggebend waren deshalb die Auswertung bestehender Anthologien und literaturhistorischer Artikel sowie die Rücksprache mit namhaften serbischen Kritikern und Dichtern.

Welche der dichtenden Stimmen würden Sie in dieser Generation als besonders originell besonders hervorheben?

Gewiss würde ich einige Namen vor andern nennen wollen. Und dabei wäre programmiert, dass nicht alle Namen, die in Serbien populär sind, genannt würden. Zentral ist jedoch etwas Anderes: Die Anthologie verfolgt das Anliegen, ein möglichst breites Bild des Landes zu vermitteln. Das heißt, es kommen auch Stimmen zum Zuge, deren Präsenz im Buch man vielleicht als problematisch erachten mag.

Vor allem aber sind in der Anthologie jene Stimmen vertreten, die für die Diskussion „pro und contra Wichtigkeit nationaler Identität“ wenig ergiebig sind und gerade deshalb im übrigen Europa und in Übersee kaum rezipiert worden sind.

Haben Sie einen Einblick in die Dichtungen der jüngeren Generation, die nach 1989 loslegt, wie würden Sie diese Poesie im Hinblick auf die vorhergehende beschreiben?

Ich glaube, je weniger weit zurück eine Dichtergeneration liegt, umso schwieriger ist es, über sie als Ganzes etwas auszusagen. Es haben sich vielleicht bestimmte thematische Schwerpunkte gebildet, die sich zuvor nur andeuteten. Ich denke da z.B. an das Thema der Migration, die für den heutigen Menschen so etwas wie eine condition humaine darstellt. Das heißt, in der „Migration“ lebt nicht nur der „Migrant“, sondern in einem gewissen Sinne auch derjenige, der im Land geblieben ist und sich die Option zu emigrieren offen hält oder sich von ihr bewusst distanziert. Im Übrigen ein sehr serbisches Thema, wenn man an die Migrations von Miloš Crnjanski denkt (so lautet der französische Titel des Romans Seobe, deutsch Bora).

Bestehen ähnliche Motive, Themen, Sensibilitäten, Formen dieser Dichtung im Vergleich zur Poesie der gleichen Periode in anderen Ländern des Balkans, Osteuropas oder Deutschlands?

Die ursprüngliche Absicht war es, eine Gedichtanthologie der 1940-1960 geborenen Dichter herauszugeben, die den gesamten „štokavischen“ Sprachraum erfasst (mit „štovavisch“ meine ich das einstige „Serbokroatisch“, das nun mit mehreren Sprachnamen bezeichnet wird). Nicht weil ich dem alten Jugoslawien nachtraure, in dem ich noch ein Jahr studiert habe, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass diese Dichtergeneration in einem gemeinsamen Kulturraum geschrieben hat. Nicht dass dieser Kulturraum nicht in sich differenziert gewesen wäre, doch waren die wechselseitigen Beziehungen zu intensiv, als dass sie heute ohne Verluste in einzelne nationale Literaturgeschichten aufgedröselt werden könnten.

Darüber hinaus zeichnet sich auch diese Generation, wie bereits die Moderne und Avantgarde (von Dučić und Stanković bis Crnjanski und Ristić), dadurch aus, dass sie sehr breit Weltliteratur (insbesondere west- und osteuropäische sowie amerikanische) rezipiert hat. Gerade diese Generation hat z.B. sehr intensiv Marcuse, Adorno und Horkheimer gelesen – wie auch die Frankfurter Schule sich mit dem jugoslawischen Selbstverwaltungs-Sozialismus intensiv beschäftigt hat. Eine längst vergessene Sache.

Ihre langjährigen slawistischen Forschungen und Studienaufenthalte in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien dienten komparatistischen Untersuchungen moderner serbischer Prosa, etwa der Weke von Andrić oder Dragoslav Mihajlović. Was finden Sie and diesen Autoren aus literarischer Sicht am wichtigsten?

Es gibt Erzählungen von Andrić, darunter auch der kurze Roman Prokleta avlija (Der verdammte Hof), deren gespannte Offenheit an Čechov oder Hemingway erinnert. Dabei hat Andrić wohl noch weniger Illusionen über die menschliche Natur als Čechov. Der Sarajevoer Literaturwissenschaftler und Publizist Enver Kazaz meinte einmal, Andrić sei „schwer wie Blei“. Dabei hat diese (Gemüts-)Schwere etwas zutiefst Menschliches und Versöhnliches. Symptomatisch aber nun ist, dass gerade Die Brücke über die Drina hierzulande am bekanntesten ist, die diesen Zug nur verhalten aufweist. Denn in dieser Romanchronik, die eine dreihundertjährige Geschichte erzählt, überwiegt sehr deutlich der Außenstandpunkt. Der Erzähler steht sozusagen auf der Brücke und schaut in den Fluss der Jahrhunderte.

„Symptomatisch“ meine ich deshalb, weil man ein Werk oder einen Autor, der aus einer dezidierten Innenperspektive heraus schreibt, nur dann gebührend nachvollziehen wird, wenn man eine gewisse Einsicht in die gegebene Kultur hat. Und weiß man von dieser Kultur wenig, halten sich Verlage zurück, Werke zu drucken, die eine entschiedene Verankerung in diesem Kulturraum haben. So geht viel menschliche Schönheit verloren. Bestimmt gehört auch Dragoslav Mihailović zu den Autoren mit einer ausgeprägten (individualistischen) Innensicht. Bei diesem Autor ist die Diskrepanz zwischen seiner literarischen Bedeutung und seiner Rezeption im Ausland besonders frappierend.

Wie präsent ist die deutsche Literatur heute in Deutschland? Erwarten Sie, dass deren Rezeption nach einer großen Welle der Übersetzungen ins Deutsche, zu der es aufgrund des Schwerpunktes in Leipzig kam, Serbien weniger durch den Schlüssel politisch-historischen Fragestellungen lesbar wird, die aufgrund der Kriege im Balkanraum der 90er dominieren?

Um an die vorherige Frage anzuschließen: Im deutschsprachigen Raum sind in den letzten Jahren v.a. jene Autoren gelesen worden, die in irgendeiner Weise mit dem Diskurs „Balkanisierung“ vereinbar waren. Dies betrifft nicht nur die serbische Literatur, sondern sämtliche „štokavische“ Literaturen. Um dies an einem (nichtserbischen) Beispiel zu veranschaulichen. Für ein Seminar über Crnjanski und Krleža suchte eine Studentin Anfang dieses Jahres nach der Übersetzung von Krležas Drama Die Herren Glembay. Das Buch war in keiner Bibliothek Hamburgs vorhanden! Wohlverstanden: Krleža wird auch unter deutschen Slavisten als der bedeutendste kroatische Autor und Die Herren Glembay als eines seiner Meisterwerke betrachtet. Dieses Schicksal teilt mancher serbische Klassiker: Branislav Nušić, Bora Stanković, Momčilo Nastasijević, Branko Ćopić, Slobodan Selenić u.a.

Ich glaube, dass die Leipziger Buchmesse tatsächlich die Chance bietet, die serbische Literatur jenseits tagespolitischer Interessen (deren Legitimität ich nicht absprechen möchte) wahrzunehmen und damit der Qualität und Attraktivität dieser Literatur gerecht zu werden.

Auf was müssen Literaturvermittler und Agenturen besonders achten, wenn sie serbische Literatur in Deutschland präsentieren?

Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Autors im Ausland ist eine adäquate Übersetzung. Von den meisten Klassikern sind nur einzelne Werke übersetzt, einige Übertragungen müssten neu besorgt werden, und vor allem gibt es eine ganze Reihe von Autoren, die auf deutsch noch kaum oder überhaupt nicht zugänglich sind. Wichtig denke ich, ist ebenfalls, dass Leute und Institutionen, die in diesem Bereich tätig sind, also Autoren, Übersetzer, Verlage, Wissenschaftler, Kulturattachés, Journalisten und Sponsoren, für konkrete Projekte zusammengebracht werden.

Welche Bücher würden Sie deutschen Verlagen empfehlen, wenn sie Texte aus dieser Region übersetzen möchten?

Von den Klassikern des 20. Jh. denke ich in erster Linie an Erzählungen von Bora Stanković und Momčilo Nastasijević (vielleicht wagt sich auch einmal jemand an Nastasijević’s Fünf lyrische Kreise heran), aber auch an Crnjanskis Roman Seobe, der es verdienen würde, in einem dem Werk näheren Stil neu aufgelegt zu werden. Von Dragoslav Mihailović müssten unbedingt die Erzählungen und der Roman Petrijin venac (Der Kranz der Petrija) übersetzt werden, von den jüngeren Autoren z.B. Mihajlo Pantić’s Beogradske priče (Belgrader Geschichten), um nur ein Beispiel zu nennen. Das Spannende an der ganzen Sache ist, dass für die Literatur in Serbien (aber auch in Kroatien oder Bosnien-Hercegovina) noch sehr viel zu tun ist, was sich wirklich lohnt. Dabei ist es offensichtlich, dass das Interesse an diesem Raum in den letzten Jahren sehr stark gestiegen ist.

Welche Unterstützung erhalten Sie und Ihr Lehrstuhl von deutschen und serbischen Institutionen um die Kulturbeziehungen zweier Länder zu verbessern, und was bedeutet sie Ihnen?

Für die Tätigkeit als Slavist ist es sehr wichtig, gute Kontakte zum Land zu haben. Ich kann diesbezüglich wirklich zufrieden sein. Die Kontakte mit der Belgrader Universität und mit dem Institut für Literatur und Kunst sind über Jahre hinweg gewachsen, und in diesen Jahren ist auch Einiges geleistet worden. Man kann nur hoffen, dass diese Zusammenarbeit, in deren Genuss auch immer mehr Studierende kommen, im Rahmen der neuen Studienordnung ausgebaut werden können.

 

 

Leseprobe

Zum Autor

Zum Buch