Ivan Dodovski
Künstler der Revolution
Ich Arme, ich kenne seine Geschichte am besten. Vom ersten Augenblick, als er mich zwischen die Finger nahm, bis schließlich zu meinem Flug über seinen Kopf war ich seine Begleiterin: Treu, traurig und stumm. Und jetzt, da ich todes-nah in Faulkner’scher Nostalgie schwelge, bin ich dazu bestimmt zu erzählen.
Die ganze Sturmflut der ersten Gefühle durchströmt jäh meinen Kopf, in der Erinnerung spüre ich noch die erste las-zive Berührung: Im Basar, in dem alten Künstlerbedarfladen, den es nicht mehr gibt. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen: Er betritt den Laden mit außergewöhnlichem Schwung, schaut sich um und wendet sich dann mir zu. Der erste Blick! Danach – wie könnte es anders sein – herrschten die Elementargewalten. Unser gemeinsames Leben verlief wie das aller anderen auch: In Liebe und Streit. Die Leidenschaft der ersten Jahre wurde durch den nüchternen Wahn der mittleren Jahre abgelöst, und schließlich kam das Alter, das der Unruhe ein Ende setzte. Im Laufe der Jahre entspannten sich seine einstmals jungen Finger, anstelle des Drucks spürte ich immer mehr eine sanfte Berührung. Später blieb von seinen Fingern nur die sanfte Führung meiner langsamen, greisenhaften Bewegungen. Schließlich passierte es: Sinnlos und unerwartet ging er von mir. Nach so vielen gemeinsamen Anstrengungen verließ er mich im Augenblick des letzten schöpferischen Schwungs, um eine andere zu umarmen. Aber das muss ich anders erzählen, ohne Sentimentalitäten.
Seinen Namen hörte ich zum ersten Mal in seinem Atelier: Marko Rotsternski.
„Eine leidenschaftliche Umarmung mit dir und ich male den ultimativen Tod
des Kapitalismus”, erklärte er mir beim ersten Betreten seines Künstlerkabuffs,
das mit roten Leinwänden zugehängt war. So begann eigentlich unsere Liebe.
Von den Blicken der Geschichte unbemerkt, die um uns herum geschrieben wurde.
Niemand hatte Kenntnis von un-serer intimsten Beziehung. Ich und er, wir
allein wussten, dass wir unzertrennlich und für immer zusammen waren. Zwischen
seinen Fingern liegend oder an seine Brust geschmiegt – ich sehe mich noch
am zarten Rand seiner Brusttasche unter dem Sakko verborgen, an seinem Herzen
geborgen –, ich war überall mit dabei, allgegenwärtig ... Von den glanzvollen
Tagen des Ruhmes in Galerien und Hotels, auf Empfängen beim Staatspräsidenten,
auf feierlichen Veranstaltungen zum Tag des Sieges, Tag der Republik und
Tag der Armee, aber auch in der Zeit davor, als er sich zum kommunistischen
Dissidenten erklärte, bis hin zu seinem Tod, mit dem er mich flugs verließ
und im Alter allein und verbraucht zurückließ – ich war die einzige zuverlässige
Zeugin. Ich schaute, ich lauschte. Jetzt kann man das Ganze nur noch blass
erzählen, wie eine zu-sammenhangslose, zerfetzte Historie.
Niemand kann seinen anhaltenden Wahn erklären. Er war wie ein unbekannter
Trunk, den man einst eingenommen hat – man weiß nicht mehr wann und wo –,
der einen dauerhaften, lebenslangen Rausch bewirkt. So war es mit seinem
Glauben. Oft erzählte er mir von ihm. Aber Worte können nicht alles sagen.
Folgendes fand ich über ihn heraus: Er wuchs in armen Verhältnissen auf, ein Kind mit knochigen Händen und aus-geprägten Schläfen, mit hoher Stirn und neugierigen Augen, die Mitte des Jahrhunderts dem hereingebrochenen Krieg ins Gesicht sahen. Ja, alles begann gewissermaßen mit dem Krieg. In den engen Gassen des Stadtteils grüßte er damals mit saurem Lächeln die Soldaten; an die weißen Hofmauern schmierte er mit Holzkohle ihre Profile, die eindeutig einen karikaturhaften Ausdruck bekamen. Die Alten des Viertels wunderten sich, wer wohl die faschistischen Soldaten des ostbalkanischen Königreichs so provokant abbildete. Und sie erblassten vor Scham, weil man in diese Kunst eventuell Widerstand und Spott hineinlesen konnte, Widerstand durch Verhöhnung. Aber all das war nur das Spiel einer Kinderhand, ein Griff nach unbekannten Grenzen. Was so anfing, wurde bald zur beständigen Gewohnheit der Hand: Sie begann, ideologische Abrechnungen zu malen. Bis vor Kurzem noch hat mich diese Hand gedrückt und mich damit zu einem Teil dieses inspirativ-wahnsinnigen Widerstands gemacht. Jetzt aber ist die Hand, wie gesagt, zum letzten Zugriff ausgestreckt. Sie hat den eigenen Tod nicht gemalt, sondern ihn gleich umarmt. Aber zurück zur Erzählung.
Die ersten Kriegsjahre vergingen. Die trockenen Sesamkringel und die Kinderspiele
wurden immer spärlicher. Die Exotik des Widerstandes wurde zur hartnäckigen
Obsession. Mit der Mütze auf dem Kopf und ernsthafter Miene schlich er sich
in eine Geheimversammlung der älteren Bewohner des Stadtteils, voller Sehnsucht
nach der Offenbarung, die er vorausgeahnt hatte: „Revolution!” Dort hörte
er das Wort zum ersten Mal. Es erzeugte in ihm einen Wahn, etwas wie das
Verlangen des Körpers nach dem Schoß einer Frau. Man kann sagen, es war
Liebe, Leidenschaft, eine mächtige Libido, in die alle Träume mündeten und
aus der wiederum Lebenskräfte quollen. Das Wort schien ihm damals die Bezeichnung
für den Sinn des Lebens. Deshalb wiederholte er es fieberhaft sein ganzes
Leben lang.
(aus: Der große Koffer, © ERATA 2008 aus dem Mazedonischen von Will Firth)