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Stevan Tontić:

Ithaka / Lirika Itake von Miloš Crnjanski auf Deutsch

Der Leipziger Literaturverlag, geleitet von dem Dichter und Übersetzer Viktor Kalinke, veröffentlichte 2008 einen sehr gut ausgestatteten, repräsentativen Band mit Gedichten von Miloš Crnjanski unter dem Titel Ithaka, der im selben Jahr sowohl auf der Leipziger als auch auf der Frankfurter Buchmess vorgestellt wurde. Es handelt sich dabei um eine zweisprachige Ausgabe (in serbischer und deutscher Sprache), ca. 220 Seiten umfassend, die außer den Gedichten der Erstveröffentlichung von Lirika Itake (1919, bei Cvijanović) auch eine Auswahl von 13 Gedichten aus der späteren Schaffensperiode unseres großen Dichters enthält, u. a. „Sumatra“ und „Stražilovo“ (jedoch nicht „Lament nad Beogradom“). Die Gedichte wurden von Viktor Kalinke in Zusammenarbeit mit Cornelia Marks anhand meiner Interlinearübersetzung (außer bei „Stražilovo“) übertragen und nachgedichtet. Den Band begleitet ein essayistisches Nachwort, in dem Kalinke das Porträt des Dichters Crnjanski entwirft und auf das innovative Potential von Lirika Itake für die moderne serbische Poesie hinweist. Außerdem enthält der Band Erklärungen zu Namen und Begriffen aus der dichterischen Welt Miloš Crnjanskis und eine Liste relevanter Literatur. Das Buch ergänzen zudem einige Faksimile.

Viktor Kalinke (1970 in Jena geboren) ist ein großer Freund und Verehrer der Texte Crnjanskis. Im Jahre 2002 erschien sein Gedichtband Herbst auf Sumatra. Poetischer Dialog mit Miloš Crnjanski, in dem er sich relativ frei einiger der faszinierenden poetischen Visionen und Motive aus Lirika Itake bedient, insbesondere aus dem Gedicht Sumatra.


Manuskript der ersten Ithaka-Übersetzung von Viktor Kalinke

Die erste Begegnung mit Crnjanski verdankt Kalinke der Slawistin Cornelia Marks, die 2001 ihre Magisterarbeit zu den poetischen Visionen Miloš Crnjanskis an der Martin-Luther-Universität Halle schrieb und derzeit an einer Dissertation zum literarischen Werk unseres Schriftstellers arbeitet.

Ich lernte Kalinke vor etwa fünf Jahren kennen, als er ein zweisprachiges Hörbuch mit Texten meines Gedichtbandes Handschrift aus Sarajevo produzierte (erschienen 2005). Damals bat er mich, seine Interlinearübersetzungen durchzusehen, die er vor allem anhand der bei L’Age d’Home (Lausanne 1999) erschienenen französischen Übersetzungen von Vladimir Dimitrijević angefertigt hatte. Kalinke, von dem Wunsch getrieben, den großen serbischen Dichter selbst zu entdecken und näher kennenzulernen, war sich natürlich bewußt, daß die Übersetzung einer Übersetzung alles andere als originalgetreu ist. (Kalinke kann kein Serbisch, beherrscht aber mehrere Sprachen, darunter das Chinesische, aus dem er das Daodejing von Laozi übersetzt und über diesen einzigartig poetischen und philosophischen Text einen Kommentarband verfaßt hat.) Obwohl mein Deutsch nicht das Niveau eines studierten Germanisten hat, nahm ich diese Herausforderung an. Viele Verse, poetische Wendungen und Ausdrücke bot ich Kalinke in verschiedenen Varianten an, um die grundlegende Bedeutung des Originals zu bewahren. Es ging mir vor allem darum, eine sprachliche Grundlage für ein umfassendes Verständnis der Gedichte im serbischen Original zu schaffen, besonders für die Reime und Assonanzen, ohne die die Magie der Poesie Crnjanskis verlorenginge. (Natürlich ist es kaum zu vermeiden, daß in den meisten Übersetzungen etwas von dieser Magie verlorengeht.) Wir saßen über einen Tag lang bei Kalinke in Leipzig an den Texten zusammen. Danach habe ich in Sarajevo an ihnen weitergearbeitet. Wir nutzten die Erstausgabe (erschienen bei Cvijanović) und die Ausgabe, die von Gojko Tešić für den Verlag Draganić (Belgrad 1994) besorgt wurde.

Was Kalinke anhand meiner Interlinearübersetzung nachdichtete, lektorierte abschließend Cornelia Marks, die einige Gedichte auch selbst übersetzt hat. Die Endfassung des Manuskripts wurde ebenfalls von mir durchgesehen, obgleich ich mich nicht imstande sah, eine Bewertung abzugeben. Das sollte den deutschen Lesern, Kritikern und Spezialisten für serbische Literatur überlassen werden.

Natürlich gab es viele Probleme bereits bei der Interlinearübersetzung. Es ist bekannt, daß sich Crnjanski von anderen serbischen Dichtern durch seine Syntax unterscheidet, die oft recht außergewöhnlich gebrochen und durch Kommata segmentiert ist. Häufig sind auch Fälle von Inversion, die sowohl seinen Gedichten als auch Prosatexten einen unverwechselbaren Rhythmus und Musikalität verleihen. Gleichzeitig verweisen die Grammatik und Rechtschreibung in Lirika Itake auf einen Dichter, der die geltenden Normen der Standardsprache verletzt sowie vehement gegen die vorherrschenden Lyrikmodelle vor und während des Ersten Weltkrieges opponiert (vor allem gegen jene des poetischen Parnassismus und Symbolismus) und sich gegen den verlogenen Glanz einer Poesie des unkritischen Patriotismus und der nationalen Mythomanie auflehnt. Alle diese abgedroschenen Stereotypen werden kaum der tragischen Kriegskunst gerecht wie auch nicht der modernen, individuellen, kritischen und ironischen Sensibilität der vorrückenden großen Erneuerer der poetischen Sprache, des Rhythmus und der Form, wie sie auch von Crnjanski demonstriert wurde. Eine Sensibilität, die sich vor allem in der expressionistischen europäischen Lyrik der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts ausdrückte und die bei Crnjanski die spezifische Ausprägung seines „Sumatraismus“ erhielt.

In einigen Gedichten stießen wir auf unklare Stellen. In dem Gedicht Pod Krkom z. B. ist in der zweiten und dritten Strophe – jede besteht aus einem Satz, der sich auf drei Verszeilen verteilt – die Grammtik unvollständig, was die Semantik verdunkelt. In der ersten Zeile der dritten Strophe („I mislim: i da ga ima tamo gore“) bleibt außerdem unklar, ob der Dichter hier Gott oder etwas bzw. jemand anderes meint.

Ein weiteres Beispiel. In dem Gedicht Epilog, in dem der Dichter fragt „Da li da pevam profesorima / što su kritici vični, / što ištu, ištu optimizam, / pod papučom, revmatični? // Ili našim gospođama, / što vole božićne priče, / što se plaše roda nam nama, / i ne trpe da prosjak viče.“ war es keineswegs klar, ob der Storch (roda) oder ein höheres, adliges Geschlecht, eine höhere soziale Klasse (rod) gemeint ist.

* * *

Mir sind nur zwei deutsche Rezensionen zu diesem Band bekannt. Die erste unter der Überschrift Sirenengesänge der Provokation stammt von der Schriftstellerin und Übersetzerin Ilma Rakusa, erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung. Darin spricht sie vor allem über das Leben und Werk Miloš Crnjanskis, eines „Dichters von europäischem Rang“, geht aber auch kurz auf die Nachdichtung Viktor Kalinkes ein. Ihrer Meinung nach, „trifft [Kalinke] mehrheitlich gut“, allerdings gibt es sprachliche Verzettelungen in etlichen Details. So beanstandet sie, daß manchmal zugunsten des Reimes von der Bedeutung des Originals abgewichen wird, betont jedoch, daß die Übersetzung keinesfalls eine leichte Aufgabe darstellt. Daß sich jemand der Übersetzung Crnjanskis angenommen hat, nennt sie ein lobenswertes Unterfangen.

Die zweite, wohlwollende, Rezension von Ralf Julke erschien anläßlich des ebenfalls bei LLV veröffentlichten zweisprachigen Hörbuches mit Gedichten Crnjanskis (u. a. auch mit der Originalstimme des schon betagten Dichters) in der Leipziger Internet-Zeitung.

Abschließend kann man sagen, daß Crnjanskis Poesie noch keine angemessene Beachtung auf dem deutschsprachigen Gebiet gefunden hat. LLV zählt zu den kleinen Verlagen, für die es überall schwer ist, in die einflußreichen Medien zu gelangen. Es bleibt zu hoffen, daß der Lyriker Crnjanski zumindest von jenen wahrgenommen wird, die sich mit der großen Poesie des 20. Jahrhunderts beschäftigen, vor allem von jenen, die sich für die serbische Literatur interessieren.

Es ist bekannt, daß Crnjanski, zusammen mit Andrić, zu den großen serbischen Prosa-Schriftstellern des vergangenen Jahrhunderts gehört. Allerdings ist es um die Übersetzung seiner Prosa ins Deutsche nicht gut bestellt. Soweit ich weiß, liegen bisher in deutscher Sprache Seobe (in zwei verschiedenen Ausgaben unter den Titeln Bora bzw. Panduren), Dnevnik o Čarnojeviću (Tagebuch über Čarnojević) und Itaka i komentari (Kommentare zu Ithaka) vor. Interessanterweise wurden die Kommentare 1967 bei Suhrkamp veröffentlicht, Lirika Itake / Ithaka jedoch erschien erst 41 Jahre später und neun Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Originals! Das zeigt: die Übersetzung von Crnjanskis Gedichten ist selbst für gute Übersetzer wie Peter Urban, der die Kommentare übertrug, eine harte Nuß. Und es sagt viel über die internationale Rezeption und das Schicksal der Literaturen sog. kleiner Sprachen und Völker.

(Übrigens: Crnjanskis Schwanengesang Lament nad Beogradom erschien auf Deutsch vor 15 Jahren in der angesehenen Zeitschrift Akzente.)

Man fragt sich, wann der grandiose Roman über London (Roman o Londonu) auf Deutsch oder in einer anderen Sprache erscheinen wird. Ganz zu schweigen von den anderen, kleineren Prosawerken des Schriftstellers.
Der Leipziger Literaturverlag beabsichtigt, Crnjanskis Iris Berlina wie auch zwei-drei Bücher zeitgenössischer serbischer Autoren (in Planung sind bereits Gedichte von Radmila Lazić) herauszubringen, und zwar bis 2011, wenn Serbien Gastland auf der Leipziger Buchmesse sein wird. Der Roman über London muß wohl einem größeren, mächtigeren Verlag vorbehalten bleiben.

* * *

Gottfried Benn schrieb einmal „Ein Gedicht kann man als etwas definieren, daß nicht zu übersetzen ist.“ Doch was würden wir von der Weltliteratur kennen, wenn es keine außergewöhnlichen Übersetzer gäbe wie unseren – um nur einen Namen zu nennen – Branimir Živojinović, dessen Übersetzungen bisweilen kongenial sind, denken wir nur an Rilke auf Serbisch.

Aus dem Serbischen von Mala Vikaite


 


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