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Thomas Böhme


Der stille Aufstieg des Romulus Leiser

Detlev Tora, der sanfte Lektor beim M. Sparkuh Verlag hatte ein Problem. Wie sollte er seinem aufbrausenden Chef, dem Branchen-Veteran Dr. Unsäg, klarmachen, daß er einen Gedichtband von Romulus Leiser herausgeben wollte. Leisers erster und bisher einziger Gedichtband, im Kleinstverlag Unterholz erschienen, war noch lieferbar, und die zwölf neuen Gedichte reichten kaum als Material für ein zweites Buch. Man mußte also auf das Prinzip der erweiterten Neuausgabe zurückgreifen, womöglich unter einem anderen Titel, aber auch dann würde Unsäg das Manuskript vom Tisch fegen und ihm die alte Litanei vom Zuschußsektor moderne Lyrik predigen. Bestseller sollte er bringen, wenn möglich ein Dutzend im Halbjahr. Aber bisher hatte Tora erst einmal im Leben einen Bestseller gelandet, und noch dazu in einem anderen Verlag. Mit diesem Erfolgsbonus war er überhaupt auf diese Stelle gelangt, die freilich der Traum jedes Feingeistes war, galt doch Sparkuh als der literarische Verlag schlechthin. Inzwischen hatte dieser Ruhm allerdings reichlich Patina angesetzt. Die Verkaufszahlen stagnierten, waren sogar rückläufig. Sparkuh-Bücher landeten immer häufiger im Ramsch oder wurden von den Buchhandelsketten gar nicht mehr gelistet. Schlichtweg unverkäuflich lautete das vernichtende Urteil.

Und ausgerechnet er, der sanfte Mann aus Sachsen, war angetreten, das Ruder herumzureißen. Doch die hübschen zwanzigjährigen Talente und Starlets, die er bisher entdeckt hatte, und die sich in den Katalogen ganz fotogen präsentierten – einige artig intellektuell, andere frivol und modebewußt –, hatten bisher nur Achtungserfolge errungen. In dieser Situation einen ganz und gar namenlosen, wenn auch leidlich begabten Lyriker, der auf die Vierzig zuging, zu präsentieren, war wohl doch ein wenig zu unverschämt. Keiner wußte das besser als Tora selbst.

Leider war die Situation wesentlich komplizierter. Er konnte Leiser nicht einfach abservieren. Der Verlag stand nämlich gewissermaßen in der Schuld Leisers. Dieser hatte in den mageren Jahren eine Stiftung ins Leben gerufen, die den Namen eines ebenfalls von M. Sparkuh vertriebenen Lyrikers trug. Und Dank dieser Stiftung war das überschaubare Werk jenes ehrbaren Dichters nun wieder in aller Munde. Bei einer ihrer Zusammenkünfte während einer Lesung in den Stiftungsräumen hatte Tora, vielleicht schon ein wenig alkoholisiert, Leiser heftig umworben. Sei es, daß er sich von der jungenhaften Art Leisers angezogen fühlte, sei es, daß die etwas schüchterne und doch zielstrebige Vortragsweise, mit der Leiser sowohl eigene Texte wie auch die des verstorbenen Ahnherrn der Stiftung zelebrierte, ihn faszinierte, oder daß er einfach Gefallen an den harmlos verrätselten Gedichten fand, die seiner eigenen Natur vielmehr entsprachen als die großmäuligen Poeme der jüngeren Generation, kurz er war mitten während der gut besuchten Lesung aufgesprungen und hatte Leiser zugerufen: Sie gehören in den M. Sparkuh Verlag. Mindestens fünfzig Leute hatten sich nach ihm umgewandt, und er meinte, ein vielköpfiges Nicken bemerkt zu haben.

Schon am nächsten Morgen hatte er die Mappe mit den zwölf Gedichten im Handschuhfach zu liegen gehabt, und obenauf thronte das Bändchen aus dem Unterholz-Verlag mit einer sehr freundlichen, fast möchte man sagen intimen Widmung darin.

Seit jenem denkwürdigen Tag war fast ein Jahr vergangen, in dem Tora die Arbeit an anderen Manuskripten voll in Anspruch nahm. Leiser fragte gelegentlich nach dem Stand der Dinge, aber er tat es so dezent und beinahe ohne zu drängen, daß es Tora immer schwerer fiel, diesen liebenswerten Menschen zu vertrösten, geschweige denn seine Zusage zurückzunehmen. Er wagte es nicht einmal einzugestehen, daß er Dr. Unsäg noch nichts von seinem Schützling gezeigt hatte, ja seine Lyrik-Entdeckung ihm gegenüber auch nur zu erwähnen.
Schließlich hatte Tora die rettende Idee, etwas, das schon mehr als einmal funktioniert hatte, so daß er sich fragte, wieso er nicht schon früher darauf gekommen war. Wenn Leiser bei Unsäg überhaupt eine Chance haben sollte, mußte er diesen Namen auf anderem Wege erfahren. Schnell informierte er sich über die sieben wichtigen Lyrik-Preise, bei denen Autoren sich selbst bewerben können, und über die drei, deren Vergabe einem Gremium oblag, das sich an bereits erschienen Büchern orientierte. Bei zwei der ersten Kategorie war die Abgabefrist bereits zu weit über-schritten. Für die anderen wäre noch Zeit gewesen. Noch am selben Nachmittag rief er Romy, wie Tora Leiser jetzt nennen durfte, an, um ihn zur Teilnahme an den verbliebenen fünf Wettbewerben zu ermuntern. Halb verwundert, halb erfreut war er dann darüber, daß Leiser sich längst an sämtlichen Ausscheiden beteiligt hatte, sogar bei denen, deren Frist schon abgelaufen war. Die Texte hatten anonym mit einem Kennwort versehen eingereicht werden müssen. Leiser hatte die Kennworte alle parat: sie lauteten Distel, Raute, Mond, zweimal Sichel und zweimal Huf. Tora notierte sie sich, dann überkam ihn eine große Müdigkeit. Den Rest würde er morgen erledigen.

Nun war es bei den meisten Ausschreibungen so, daß eine sogenannte Vorjury zunächst das Grobe erledigte. Unter den hunderten Einsendungen wurden die zehn oder zwölf ausgewählt, die dann zum Ausscheid geladen wurden. Tora war nicht bange, daß Leiser, wenn er erst einmal zum Vortrag kam, Eindruck machen würde. Bescheidenheit im Auftreten, Geheimnis und Kindheitsbeschwörung in den Gedichten und ein einnehmendes Wesen hatten noch immer Wirkung erzielt. Der Reihe nach telefonierte Tora mit den Preiskommittees von immerhin vier Ländern, die jeweils die gesamte deutschsprachige Lyrikzunft zur Teilnahme aufgerufen hatten. Beim ersten Mal hatte er Glück. Leiser war bereits für die Endrunde nominiert. Eigentlich dürfe sie ihm das nicht sagen, säuselte eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, aber bei einem so elitären Haus wie dem von Dr. Ungnäd (Tora vermied es, den Namen seines Chefs zu korrigieren), sei das natürlich etwas anderes. Tora ließ sich noch die Namen der Juroren geben, und wieder hatte er Glück. Zwei davon waren Hausautoren. Sie würden schon aus Loyalität für den Kandidaten stimmen, den Tora ihnen kurz vor der Veranstaltung nennen würde. Von nun an wollte er nichts mehr dem Zufall überlassen. Es war Ehrensache, daß er bei den Preislesungen selbst anwesend sein würde.

Der zweite Anruf ergab, daß das Manuskript mit dem Kennwort “Huf” ausgeschieden war. Unmöglich!, moserte Tora am Telefon. Da hätten sie doch glatt einen der bedeutendsten Nachwuchslyriker seiner Generation übersehen. Was für eine Blamage für Ihren Verein! Wir, der rennomierte M. Sparkuh Verlag, werden jedenfalls ein Buch von ihm machen, und Sie lassen ihn nicht mal in die Endrunde kommen. So etwas spricht sich rum in der Branche. Wer wird einen Preisträger ernstnehmen, der womöglich seine Gedichtchen im Selbstverlag herausgibt. Und was ist dieser Alpenlandpreis dann noch wert, wenn ihn irgend ein Niemand geholt hat! So ging es noch eine Weile, dann war “Huf” wieder auf dem Stapel der einzuladenden Dichter gelandet. Man tauschte ihn kurzerhand aus gegen einen, dessen sexuell ausschweifende Phantasien ohnehin bei den Veranstaltern auf Bedenken gestoßen waren. Einen Skandal konnte man sich nicht leisten. Irgendwie hatte Tora das Gefühl, dem Kommittee einen Dienst erwiesen zu haben, obwohl er über die Hintergründe nicht informiert worden war. Auch bei den Alpenländlern gab es immerhin einen Sparkuh-Autor in der Jury. Tora kannte ihn persönlich von früher. Und er wußte einiges über ihn, das dem sicher peinlich gewesen wäre, hätte Tora von diesem Wissen Gebrauch gemacht. Na, den würde er ordentlich präparieren.

Bei den anderen Preisen, wo noch keine Vorentscheidung gefallen war, genügte es, daß Tora die Kennworte mitteilte, und daß es sich um die große Entdeckung seines Verlages handele. Auch hier waren die Juroren ihm größtenteils namentlich, in mehreren Fällen sogar persönlich bekannt. Sollte Leiser auch nur drei der sieben Preise bzw. Stipendien holen, würde Tora es riskieren, Unsäg das Buchprojekt vorzuschlagen. Außerdem konnte er sich ja noch für das bereits erschienene erste Buch stark machen. Das fiel ihm nicht weiter schwer, da er auch in diesem Fall über konkrete Verbindungen verfügte, die es ihm ermöglichten, den Titel auf eine Liste auszuwählender Bücher zu setzen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann es dann an die Reihe kam, und hatte Leiser erstmal ein paar Lorbeeren errungen, würde man sich seiner um so eher erinnern.

Wen verwundert es noch, daß Leiser sechs der sieben Trophäen nacheinander abräumte. Sein Auftreten ließ in der Tat nichts zu wünschen übrig. Mit seiner elfenhaften jungen Frau und den beiden Kindern, die ihn auf allen Reisen begleiteten, war er der ideale Kandidat schlechthin. Immer gab es jemanden in der Jury, zumeist eine Germanistin in den “besten Jahren”, die schon der Anblick des auch-Germanisten Romulus Leiser zum Zittern brachte. Und zweifellos hatte die Erscheinung des rehäugigen Wesens an seiner Seite mit den ach so drolligen Kindern auf die Gemüter der Anwesenden eine narkotisierende Wirkung. Da stand einer vor ihnen, der die Familie ehrte, der Tradition und Erneuerung in einem verkörperte und dessen lautmalerische Sprache so völlig frei war von Vulgarismen und Obszönitäten. Zudem kam er aus dem Osten und erfüllte durch seine Präsenz, zumindest für den einen oder anderen Juroren, eine sich selbst auferlegte Quote, denn der Vorwurf westlicher Arroganz gegenüber jener Literatur der “Ehemaligen” saß manchem wie ein schmerzender Stachel im Fleische.

Am schwersten war es beim ersten, dem als Nachwuchspreis geltenden Lale-Preis. Die Gegenkandidaten waren exzellent. Zum Schluß stand es fifty-fifty für Leiser und einen zweiundzwanzigjährigen Heißsporn, von dem es hieß, er habe Zigeunerblut in den Adern. Als der aus Unbeherrschtheit ein paar Grobheiten sagte, hatte er sich selbst ins Abseits manövriert. Leiser wäre so etwas nie passiert. Was auch geschah, wie dumm auch die Fragen der Preisrichter waren, nie ließ er es an Höflichkeit mangeln, nie war er aus der Reserve zu locken. Den konnte man bedenkenlos in eine Talkshow setzen, ohne daß mit einem Eklat gerechnet werden mußte. In den Folgerunden galt Leiser bereits als Favorit noch ehe er überhaupt zu lesen begonnen hatte. Und mit jedem neu errungenen Preis wuchs sein Selbstbewußtsein, erst recht, nach dem dritten Auftritt, als Tora endlich mit dem versprochenen Vertrag winkte.

Dr. Unsäg hatte inzwischen, zwar mürrisch aber doch jovial gegenüber dem Erfolg, grünes Licht gegeben, als Tora ihm scheinheilig von der unverhofften Entdeckung eines Naturtalents vorgeschwärmt hatte und auf die ersten Trophäen verwies, die doch so ein Wagnis mehr als rechtfertigen würden. Selbstredend hatte er es nicht versäumt, die Stiftung zu erwähnen und welche Vorteile dem Verlag beim Vertrieb des Altmeisters daraus erwachsen waren. Unsäg hatte sich fünf Minuten Zeit genommen, um die Gedichte Leisers zu beurteilen. Unverständliches Zeug!, hatte er gemurmelt. Schwer verkäuflich, aber mit Bauchbinde kriegen wir vielleicht die Druckkosten rein. Vergessen sie aber darüber nicht, daß wir Quotentitel brauchen. Leiser ist Ihnen genehmigt, aber als Ausnahme, verstehen Sie, als Ausnahme! Immerhin erreichte es Tora, daß sich Unsäg selbst für Leiser ins Zeug legte. Er verdonnerte den Juroren Brosam geradezu, Leiser zum Erfolg zu verhelfen, sonst könne er auch nicht für Brosams Essay-Band garantieren, der im nächsten Jahr erscheinen sollte. Und Brosam kuschte. Seinen eigenen Favoriten, einen klösterlich strengen Österreicher, ließ er fallen wie eine heiße Kartoffel.
Den siebten Preis errang Leiser nur deshalb nicht, weil er inzwischen mit Lesereisen und einer Vortragsreihe über den Ahnherrn seiner Stiftung voll eingedeckt war. Er hatte für diesen Fall eine Tonbandkassette besprochen, die immerhin zwei von fünf Juroren favorisierten. Letztendlich setzte sich ein charismatischer Rumäniendeutscher durch, was für Tora trotzdem keine Niederlage bedeutete, da dieser junge Wilde ebenfalls ein Buch bei M. Sparkuh im Programm hatte.

Kein halbes Jahr hatte es gedauert, und die Feuilletons waren voll des Lobs über das späte Wunderkind, geboren in jenem Staate, der so sträflich sein Talent mißachtet hatte. Und als endlich das schmale Bändchen mit den gesammelten Gedichten des Romulus Leiser in der edition m.sparkuh erschien, war Leisers Konto um stattliche 75.000,- DM angewachsen. Der Verlag ließ es sich nicht nehmen, die sechs Preise auf der etwas protzig geratenen Bauchbinde zu vermerken.

Am Ende zählte man stolze fünfundfünfzig Rezensionen, zwölf Interviews und siebenundsechzig Lesungen, und von der 3000er Auflage war knapp die Hälfte verkauft worden. Das war guter Durchschnitt bei Lyrik und selbst für das Zugpferd Zinsesberger beachtlich. Leiser stand im Zenit seines Ruhms. Jetzt hätte er sogar ein zweites Buch bei M. Sparkuh verlegen können. Doch so sehr er sich auch mühte, es wollte und wollte ihm nichts gelingen. Nach “asphalt spiegel” schrieb er noch fünf Gedichte, mit denen er eine Zeitlang die Anthologien der Saison und diverse Journale beglückte. Wie vorhergesagt, errangen auch seine beiden Bücher noch eine Anzahl Anerkennungen, verbunden mit ansehnlichen Finanzspritzen. Dann war Schluß. Zehn Jahre später bestand sein Werk noch immer aus dem Band “remis” im Unterholzverlag und aus “asphalt spiegel” in der edition m.sparkuh. Sein Geld hatte er allerdings gut angelegt. Als Kleinaktionär war es ihm gelungen, in zehn Jahren sein Kapital zu verdoppeln. Aus 95.000,- DM waren 94.687,- Euro geworden. Die Stiftung, deren Vortstand er geblieben war, florierte.

Detlev Tora indessen hatte es nicht geschafft, mit seinem gediegenen Programm – so nannte er es selbst – den Verlag aus den roten Zahlen zu bringen. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von “asphalt spiegel” hatte er überraschend seinen Abschied eingereicht. Er war in seine Heimat zurückgekehrt und beim Landesmedienrat gelandet. In Verlegerkreisen hieß es, man habe ihn weggelobt. Sein Dutzfreund Romy war ihm schon eher aus dem Weg gegangen. Wohl grüßten sie sich noch höflich, wenn sie sich bei einem der Verlagsempfänge sahen, auch gab es punktuelle Gemeinsamkeiten, schon deshalb, weil Leiser inzwischen selbst in mehreren Jurys saß. Er zog es aber vor, seine Instruktionen direkt von Dr. Unsäg zu empfangen, denn auf Toras Gespür war eben doch kein absoluter Verlaß.

(Die Handlung dieser Geschichte ist nichts als ein neidvolles Phantasieprodukt.)

aus: Schwarze Archen. Geschichten, Fabeln, Grotesken, © ERATA 2003

 

 


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