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Fernando Pessoa

Das Christentum ist eigentlich eine geistige Entwicklung von etwas Hebräischem; es kehrt jene sakramentalen und transzendentalen Eigenschaften hervor, die man in der jüdischen Religion nur in den höchsten Regionen ihrer Geheimlehre, der Kabbala also, findet, und selbst da nur in gewissem Maße. Die wichtigste Eigenschaft des Christentums für unsere Zivilisation ist seine Ethik. Wie wir den Griechen den Geist unserer Kultur verdanken, den Römern den Geist unseres Handelns, so verdanken wir dem Christentum den Geist eines höheren Lebens. Es wird nicht entgangen sein, daß diese Beschreibung von dem, was Christentum ist, den dogmatischen Teil außer acht läßt. Es wurde zurecht außer acht gelassen, nicht nur, weil unsere Zivilisation viele Sekten enthält, von der strengen Dogmatik der Römisch-Katholischen Kirche im Hinblick auf die Person Christi und alles andere bis hin zum Unitarismus, der das göttliche Wesen Christi und die Lehre der Heiligen Dreifaltigkeit leugnet; sondern auch deshalb, weil Zivilisation ein Handeln bedeutet und eine Religion durch ihre Ethik und nicht durch ihre Metaphysik oder ihre Doktrin mit dem Handeln in Berührung kommt. Als Zivilisation stehen wir unter der christlichen Ethik; jeder einzelne kann sich von ihrer doktrinären Gestalt aussuchen, was er will, dies ist seine eigene Sache. Wir sind angehalten zu untersuchen, ob Juden, wie auch immer man den Begriff definiert, bei der Freimaurerei ihre Hand im Spiel hatten oder haben. Für den römisch-katholischen Partisan ist oder bestimmt die römische Kirche “unsere Zivilisation”; ihrer eigenen Voraussetzung folgend, betrachtet diese Kirche alles, was außerhalb von ihr steht, als unrettbar verloren und zivilisationsfeindlich: von diesem Standpunkt aus gesehen, ist die Freimaurerei und sind die Juden, wie auch der Protestantismus oder irgendeine andere Religion oder Sekte, solange sie nicht römisch-katholisch sind oder der Natur nach nicht vollkommen außerhalb der Religion stehen, wie ein Fußballclub, ein Feind “unserer Zivilisation”. Für den römischen Katholiken ist der Fall von vornherein klar. Auf dieser Grundlage jedoch ist es sinnlos, wenn römisch-katholische Autoren oder Redner lang und breit Einwände gegen die Freimaurerei oder die Juden oder gegen irgendeine andere nicht-römische Organisation vorbringen, wie sie es beständig tun. Es sind nicht dreihundert Seiten nötig, um das zu sagen, es sei denn, die Absicht wäre, es anderen, die keine römischen Katholiken sind, zu beweisen. Wir werden versuchen, zu einer brauchbaren Definition dessen zu gelangen, was “unsere Zivilisation” bedeutet, und wir werden uns dabei bemühen, der gegnerischen Partei so viel einzuräumen, wie es geht, ohne der Logik und der Geschichte ausdrücklich Gewalt anzutun ...

(aus: Juden und Freimaurerei, © ERATA 2006)


 

 


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