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Die Selbstkontrolltheorie von Torsten Klemm


Selbstkontrolle und soziale Bindung: Das Zwei-Prozeß-Modell

Aus der Umkehrung ihrer Beobachtung, daß delinquente Kinder zu wenig beaufsichtigt wurden, betonen Gottfredson & Hirschi die Bedeutung einer Erziehung, die effektiv die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub fördert. Erst die Beaufsichtigung der Kinder, so die Autoren, erlaube es, einen angemessenen Umgang mit devianten Verhaltensweisen zu finden. Stigmatisierung gilt Gott­fred­son & Hirschi nicht als mitverursachend, sondern als notwendiges Mittel der Erkennung und Bestrafung gewalttätigen Handelns – mit anderen Worten: Gottfredson & Hirschi leugnen den negativen Rückkopplungseffekt sozialer Sank­tionen.

Kritisch ist darüberhinaus anzumerken, daß die Modellwirkung prosozial handelnder Bezugspersonen in der neuen Theorie von Gottfredson & Hirschi (1990) zu kurz kommt. Bereits 1969 legte Travis Hirschi eine Theorie vor, in der er behauptete, daß die Hemmschwelle zur Delinquenz desto höher liege, je wahr­scheinlicher die Tatendeckung mit einem existenziellen Verlust, z.B. eines Arbeitsplatzes oder einer Lehrstelle, oder einem Gesichtsverlust gegenüber Freunden verbunden ist. Je stärker die sozialen Bin­dungen, desto geringer die Gewalt- und Delinquenzneigung. Hirschi’s Theorie der sozialen Bin­dungen wurde zu einem wichtigen Maßstab des US-amerikanischen Justizministeriums, um Präventionsmaßnahmen zu beurteilen. Er postulierte vier Stufen der Bin­dungsqualität:

• Freundschaftlichkeit und Intimität (attachment): Familie, Freunde
• Verpflichtung (commitment): Beruf, Familie
• soziale Einbindung (in­volvement): Schule, Arbeit, Sport, Vereine, Kirchen
• ethische Überzeugung (belief): Rechtsbewußtsein, Ehrlichkeit

Dies entspricht im Kern dem hierarchischen Loyalitätsmodell der systemischen Therapie (vgl. Bateson, 1972, 553; Mücke, 1998, 96ff.) Tatsächlich schließen sich soziale Bindung und Selbstkontrolle nicht gegenseitig aus, sondern setzen einander voraus (Akers, 1994; An­drews & Bonta, 1994). Hirschi & Gottfredson (1995, 140) selbst räumen ein, schwache Bindungen seien „to some large degree products of low self-control“. Doch auch das Umgekehrte läßt sich beobachten. Jüngste Längs­schnittbeobachtungen bei schwer­kri­mi­nel­len Drogenabhängigen, einer von der Selbstkontrollforschung vernachlässigten Klientel, zeigen, daß geringe Selbstkontrolle Freundschaften und Liebesbeziehungen schneller scheitern läßt. „The combination of self-control and social control perspectives shed some light on the causal process by which low self-control may influence later deviance.“ (Long­sho­re et al., 2004, 559) Wenn Selbstkontrolle und soziale Bindung wechselseitige Me­diator­variablen bilden, wundert es nicht, daß sie hoch korrelieren. In einer funktionalen Sichtweise wäre es dennoch nicht sinnvoll, sie miteinander zu identifizieren. Herz- und Lungentätigkeit mögen eng aneinander gekoppelt sein. Kein Biologe käme jedoch auf die Idee, sie zu identifizieren. Vielmehr unterscheiden sie sich inhaltlich und stehen in einer reziproken zeitlichen Abhängigkeit:

Die primäre Bindung oder „emotionale Investition“ der primären Bezugspersonen in das Kind (Bowlby, 1988) bildet die Voraussetzung für die spätere Ein­übung einer empathischen Sichtweise. Empathie – das Vorstellungsvermögen für lang­fristige Folgen, die Be­find­lichkeit und Situation anderer Menschen sowie die Funk­tions­weise von Institutionen und Systemen – wird benötigt, um Selbstkontrolle zu erwerben. Selbstkontrolle ist die minimale, notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung einer selbstbestimmten Lebensform. Autonomie der Einzelnen gegenüber den jeweiligen Eltern gehört zu den be­deutsamen Voraussetzung einer gelingenden Partnerschaft.

Mit dem Übergang von der Herkunfts- in die Fortpflanzungsfamilie tritt der Kreislauf in einen zwei­ten Zyklus ein. „Such attachments – to a spouse, a workplace, or to coworkers – may occur later in life and repair the original attachment relationship. Only a limited number of studies take empathy into account in explaining criminality and most focus exclusively on sex offenders.“ (Katz, 1999) Dieses Modell verdeutlicht, weshalb in der Adoles­zenz die Gewalt- und Kriminalitäts­nei­gung am höchsten ist, wenn es die Ge­sell­schaft versäumt, der Übergangsphase des Adoleszenten in das Er­wach­se­nen­al­ter einen Rahmen zu geben. (Archaische Gesellschaften plazieren in dieser Phase star­re Initia­tions­riten.) Der Jugendliche ist weder tatsächlich autonom noch genügend sozial ge­bunden.

Nicht jede soziale Bindung stärkt die Empathiefähigkeit und damit die Selbstkontrolle des Einzelnen. Bindungen an impulsive Eltern, Kontakte zu devianten Freunden fördern die Gewaltneigung eines Jugendlichen (Akers,1994; Matsueda & Anderson, 1998). Das zirkuläre Modell der Selbstkontrolle läßt sich umgekehrt auch für den Fall des Gewaltkreislaufs formulieren. Auch hier steigern sich die Effekte gegenseitig.

Der Kreisprozeß kann an jeder Stelle selbstverstärkend einsetzen. Während der primären Sozialisation bil­den Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, selektive Wahrnehmung, Be­dro­hung durch har­sche Erziehungsmethoden, Kindesmißhandlung sowie Vernachlässigung oder krisenhafte Tren­nungen der Eltern die Initialzündung zur Ge­waltdynamik (West & Far­rington, 1973, 1990; Wadsworth, 1979). Soziale Ausgrenzung, Hegemonie be­an­spru­chende Ideologien, Em­pathie verhindernder Machismo oder Eifersucht setzen den Ge­walt­kreislauf nach Verlassen der Familie in Gang (Messerschmidt, 1993). Das hier vorgestellte Modell der Selbstkontrolle ist weit davon entfernt, soziale Umstände der Ge­walt­entstehung zu psycho­lo­gi­sie­ren. Der Mangel an Selbstkontrolle wird als Folge und Reaktion verstanden, er moderiert Ge­walt­ausübung. Die Ausgrenzung impulsiver Kinder und Jugendlicher in der Schule führt oft dazu, daß sich diese in Gruppen wiederfinden, in denen Selbstkontrollmangel dominiert und als Modell wirkt. In diesem Sinne erlernen oder verstärken sie ihre Impulsivität durch „differenzielle Kontakte“ (Wright et al., 1999, 2001).

Hegemoniestreben drückt sich nicht in jedem Fall durch direkte Machtausübung oder einen vorderen Rang in der Cliquenhierarchie aus. Autoritätshörigkeit, die von einigen For­schern mit Rechtsradikalismus in Verbindung gesehen wird, delegiert den Dominanzanspruch der Mitläufer an eine Führungsfigur, in deren Schatten sie ihre eigene vermeintliche Überlegenheit wahrnehmen.

Auch Erwachsene, die längst Selbstachtung und Selbstkontrolle erworben haben, sind nicht vor ungeahnten Kontrollverlusten gefeit, wenn sie beispielsweise durch Krieg, finan­ziel­len Ruin oder den Verlust des Partners in krisenhafte Situationen geraten. Das zirkuläre Modell betont die Ent­wicklungsdynamik der Selbstkontrolle bzw. des Selbst­kon­trollmangels. Während Gott­fred­son & Hirschi (1990) die Aus­bildung der Selbstkontrolle mit dem achten Lebensjahr als abgeschlossen und über den weiteren Lebensverlauf als konstant betrachten, streichen zahlreiche Autoren die Veränderbarkeit des „Trait“ hervor (Samson & Laub, 1993, 7; Greenberg, 1994, 372; Moffitt, 1997; vgl. Hirschi & Gottfredson, 1995, 1996).

Zusammenfassend läßt sich eine Zwei-Komponenten-Theorie der Selbstkontrolle formulieren: Als äußere Barrieren, die Gewalttätigkeit verhindern, fungieren günstige Sozialisationsbedingungen wie Familienzusammenhalt, positive Identifikationsmöglichkeiten, demokratischer Erziehungsstil, als innere Barrieren dagegen Frustrationstoleranz, positive Selbst­wahrnehmung und internalisierte Gewissensfunktion.


Rahmenbedingungen für ein effizientes Selbstkontrolltraining

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