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Leipziger Gefängnisstudie: Delinquenz, Haftfolgen und Therapie mit Straffälligen

Zusammenfassung

Die Situation in deutschen Gefängnissen ist gekennzeichnet von einer hohen Insassenzahl, der auf Seiten des Personals nur eine ver-gleichsweise geringe Anzahl von therapeutisch-behandlerischen Mit-arbeitern gegenübersteht. Hinzu kommt, vor allem in Untersu-chungshaftanstalten, eine immense Fluktuation der Gefangenen. Die Forderung des Gesetzgebers, den Haftalltag so zu gestalten, daß er zur Resozialisation der Inhaftierten beiträgt, muß daher als bislang uneingelöst oder sogar gescheitert gelten. Bevor die Wirkung des Gefängnissystems auf die Persönlichkeit und spätere Legalbewährung der Insassen jedoch eingeschätzt werden kann, ist eine Evaluation der realen Effekte des Gefängnisses erforderlich. Im Zuge des Aufbaus sozialtherapeutischer Anstalten erfolgten lediglich implizit Kontrollgruppen-Vergleiche mit dem sogenannten Regelvollzug. Neben der Rückfälligkeit wurden meist herkömmliche defizitorientierte persönlichkeitspsychologische Verfahren als Kriterium herangezogen, die auf schwache Vorteile der Sozialtherapie hindeuten. In dieser Arbeit wird die These aufgestellt, daß sich die Wirkung „reiner“ Haft im Vergleich zu Behandlung unter Haftbedingungen differenzierter abbilden läßt, wenn die Persönlichkeitsänderungen genauer nach konfliktbehafteten Situationen unterschieden werden und zusätzlich die Ressourcenentwicklung der Inhaftierten berücksichtigen.
Den Hauptfokus der Studie bilden Längsschnitterhebungen über den Haftverlauf und die therapiebegleitende Evaluation eines zur individuellen Gewaltprävention entwickelten Selbstkontroll-, Sensibilisierungs- und Kompetenztrainings (SKT). Das Training hat die Form eines multimodalen intramuralen Curriculums zum Erwerb sozialer Basisfähigkeiten auf verschiedenen Ebenen (Entspannungsfähigkeit, Wahrnehmung, Gefühlsausdruck, Empathie, Konfliktlösen, Entwickeln einer Zukunftsperspektive) und wurde mit einem ressourcenorientiert kommentierten Zertifikat abgeschlossen. Darüberhinaus werden Erweiterungen des Konzeptes für Familien vorgestellt, in denen familiale Gewalt aufge-treten ist.
Während sich die Persönlichkeitsauffälligkeiten der Inhaftierten, die nicht am SKT teilgenommen haben, unabhängig vom betrachte-ten Zeitraum in einzelnen Werten wie Zwanghaftigkeit, Psychopathologie und paranoidem Narzismus erhöhten, konnten für die Teilnehmer am SKT höchstsignifikante Entwicklungen über die Ge-samtheit der Konfliktsituationen hinweg beobachtet werden. Die Hypothese, daß sich Persönlichkeitsänderungen infolge therapeuti-scher Behandlung unter Haftbedingungen deutlicher in situations-spezifischen Ressourcendimensionen als in allgemein formulierten Defizitskalen zeigen, konnte bestätigt werden. Den stärksten Zu-wachs erhielt der Wert für Selbstkontrolle, vor Empathie und Pro-blemlösebereitschaft, während Aggressivität, histrionische Verhaltensmuster, Depressivität und Somatisierung signifikant abnahmen.
Abschließend wird die Kopplung von Therapie und Strafverbüssung diskutiert. Die Ergebnisse dieser Arbeit legen nahe, daß Haft ohne rückfallpräventive Behandlung auf die Insassen labilisierend wirkt und gerade bei längerem Aufenthalt ihre Gefährlichkeit stei-gert, was sowohl dem Resozialisationsanspruch als auch dem tat-sächlichen Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit entgegenläuft. Zugleich zeigt diese Arbeit jedoch auch, daß der justizielle Druck therapeutisch sinnvoll genutzt werden kann, indem auf die vorhan-dene Behandlungsmotivation der Insassen mit spezifischen Angeboten reagiert wird. Eine Optimierung der Effekte ließe sich durch eine funktionalere Anpassung des Treatments an die psychische Dynamik erreichen, die zur Tatbegehung geführt hat (z.B. rechtsori-entierte vs. familiale Gewalt). Darüberhinaus würde eine stärkere Integration der therapeutischen Bemühungen im System der Strafju-stiz, insbesondere durch eine Kopplung an das Haftende und die ambulante Fortsetzung in der kritischen Zeit nach der Entlassung, persönliche Ressourcen zur Legalbewährung besser nutzen. In der Umsetzung dessen wären Änderungen in der Struktur des Strafvollzuges erforderlich.

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Weitere Auszüge

7.1.1 Statistische Erhebungen
Zur Charakterisierung der potentiellen Klientel wurde eine größere Stichprobe von Inhaftierten (N=780) in der Justizvollzugsanstalt Leipzig befragt, von denen nur ein Teil am Gruppentraining (N=110) bzw. an den Längsschnitt-Vergleichen ohne therapeutische Behandlung teilnahm (N=155). 23 Gruppenteilnehmer konnten die Therapie nicht abschließen, 20 aufgrund von Verlegungen, 3 wegen Abbruch oder Ausschluß, so daß in die Evaluation 87 Teilnehmer eingegangen sind. Die Evaluierung der Gruppentherapie trägt im wesentlichen den Charakter einer therapiebegleitenden Felduntersuchung, wobei quasi-experimentelle Methoden und ein Kontrollgruppenansatz angewandt wurden, ohne daß eine Zufallszuweisung erfolgte.
Aus ethischen Gründen verbietet sich für den Praktiker die Zu-fallszuweisung von Straftätern in eine Behandlung, wenn diese auf-grund der Delikte oder der Persönlichkeit angezeigt ist, um die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten zu verringern.
Es wurde mit einem geschlossenen Fragekonzept gearbeitet. Zu-satzinformationen zur Biographie des Probanden wurden quantifiziert oder kategorisiert erfaßt, so daß sie ebenfalls in die statisti-sche Auswertung einfließen konnten. Für einen Teil der Probanden wurden die Daten im Querschnitt verglichen (dargestellt in Klemm 2001a), für andere, die über einen Zeitraum bis zu zwei Jahren während ihres Aufenthaltes in der JVA beobachtet wurden, konnten Längsschnittvergleiche mit teilweise mehreren Meßzeitpunkten durchgeführt werden. Die Prä-Post-Vergleiche dienten jeweils zur Einschätzung der individuellen Veränderungen im Laufe des Gefängnisaufenthaltes.
Als Erhebungsinstrument wurden der Fragebogen KV-S („Konfliktverhalten situativ“, Klemm 2001a), und das STAXI („State-Trait-Inventar zur Ärgerverarbeitung“, Schwenkmezger et al. 1992) herangezogen. Unterschiedstests werden in der vorliegenden Studie mit Hilfe des t-Tests für abhängige Stichproben und bei mehr als zwei bzw. unabhängigen Vergleichsgruppen mittels Varianzanalysen und Ein-zelvergleichen nach Scheffé gerechnet, da die Durchführung mehre-rer t-Test ansonsten zum zufälligen Signifikantwerden einzelner Un-terschiede führen kann (vgl. Bortz 1993, S. 227). Zur Aufdeckung differentieller Effekte innerhalb der Gruppen wurde auch das Signi-fikantwerden von Varianzunterschieden untersucht. Zur Bewertung der Ergebnisse wurden Boden- und Deckeneffekte und und Effekt-stärken nach Cohen berechnet. Der KV-S erlaubt es insbesondere, neben Rohwerten und Normvergleichen ipsative Werte, sogenannte Stärken- und Schwächenwerte (SSW), zu ermitteln, die Baseline-Effekte korrigieren und dadurch Veränderungen differenzierter messen. Mathematische Einzelheiten sind ebenfalls ausführlich in Klemm (2001a) dargestellt.

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7.1.3 Beschreibung der Untersuchungsgruppen
Die – ausschließlich männlichen – Probanden der Hauptstichprobe rekrutierten sich als „Zugang“ nach Zuweisung durch den Haftrichter entweder im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens oder zur Vollstreckung einer kürzeren Haftstrafe (zwischen 6 und 12 Monaten bei Erwachsenen sowie bis zu 18 Monaten bei Jugendlichen). Auf-grund von Engpässen der Aufnahmekapazität in der sächsischen Jugendanstalt Zeithain wurden jedoch auch Jugendliche mit längeren Haftstrafen in die Studie aufgenommen. Durch Verlegungen zwi-schen den sächsischen Vollzugsanstalten kam es auch bei Erwach-senen zur Aufnahme von längerstrafigen Gefangenen. Die geringfü-gigsten Strafen hatten dagegen sog. Ersatzfreiheitsstrafler zu erdul-den, nicht unbedingt aufgrund der meist kurzen Aufenthaltsdauer im Vollzug, sondern aufgrund des Wissens, unmittelbar freizukom-men, wenn die geforderte Geldschuld beglichen wird.
Insgesamt ist von einer anfallenden Stichprobe auszugehen, eine systematische Selektion etwa nach der Art des Einweisungsdeliktes wurde nicht vorgenommen. Anlaß für die persönlichkeitspsycholo-gische Befragung boten entweder die Aufnahme in die JVA, die in der Regel während der ersten sieben Tage stattfand (bei Drogenab-hängigen mit akuten Entzugserscheinungen mitunter auch erst spä-ter) oder Prüfungen zur vorzeitigen Entlassung nach den Paragraphen §88 JGG, §57 StVollzG oder §35 BtmG. Zwischenzeitlich wurde die Befragung auch zur Vollzugsplanung durchgeführt, um die Notwendigkeit weitergehender Behandlungsmaßnahmen zu prüfen. Dadurch kann in der Auswertung ein Vergleich zwischen verschiedenen Haftphasen vorgenommen werden. Eine Einteilung läßt sich (modifiziert nach Frey 1983, S. 160, vgl. Wheeler 1961) definieren als

- Eingangsphase: die ersten drei Monate
- Entlassungsphase: die letzten drei Monate
- mittlere Phase: dazwischen

Sowohl für die Untersuchungs-Gefangenen als auch für die kurz vor der bedingten Entlassung stehenden Inhaftierten ist eine Tendenz zur sozialen Erwünschtheit anzunehmen, so daß sie eher zum Leug-nen persönlicher Auffälligkeiten neigen. Umgekehrt sind eine Un-empfindlichkeit gegenüber der juristischen Bemäkelung und fehlen-de Neigung, sich angepaßt zu präsentieren, als Zeichen mangelhaf-ter Situationswahrnehmung zu deuten.
Die Teilnehmer am Selbstkontroll-Training (N=110) setzten sich aus der Gefangenenpopulation zusammen, wobei in überwiegender Mehrheit Heranwachsende (nach dem JGG) und junge Erwachsene aufgenommen wurden. U- und Strafgefangene waren gleichermaßen vertreten. Ein Vergleich zwischen den biographischen Charakteristiken der SKT-Teilnehmer und weiterer Inhaftiertengruppen ist Klemm (2002) zu entnehmen. Im Durchschnitt waren die Teilneh-mer 21 Jahre alt, stammten zu 69% aus zerbrochenen Familien, verfügten nur zu 11.8% über eine abgeschlossene Berufsausbildung, hatten 5 bis 6 nichtkriminelle Freunde, benötigten im Monat durchschnittlich 1300 DM, hatten im Durchschnitt 28000 DM Gewinne (bzw. Wertäquivalente) durch Straftaten erbeutet, waren bei 61% ihrer Delikte ertappt und durchschnittlich zu 2 Jahren Haft verurteilt worden, in der Mehrzahl wegen Körperverletzung oder einer Kombination aus mehreren Delikten.

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7.2 Persönlichkeitsauffälligkeiten inhaftierter Straftäter
Im folgenden werden die Befunde zu „statischen“ Persönlichkeits-auffälligkeiten von Straftätern zu einem einzigen Befragungszeit-punkt dargestellt. Abbildungen und Tabellen zu den beschriebenen Ergebnissen sind in den Datenblättern zum Verfahren „Konfliktverhalten situativ“ (Klemm 2001a, 2002) enthalten. Sie werden hier zusammengefaßt, damit ein Eindruck von der Klientel entsteht, aus der sich die Gruppe der Teilnehmer am SKT und die Kontrollgrup-pen rekrutierten. Außerdem werfen die Ergebnisse der Statusunter-suchungen ein Licht auf die spezifischen Anforderungen, die sich dem Therapeuten bei der Behandlung inhaftierter Straftäter stellen.

7.2.1 Persönlichkeitsauffälligkeiten und Tatgeschehen
Grundlage für die folgenden Beschreibungen sind signifikante Kor-relationen zwischen biographischen Angaben der Inhaftierten aus der Gesamtstichprobe (N=780) und deren Persönlichkeitsauffällig-keiten im Fragebogen „Konfliktverhalten situativ“ (KV-S) sowie Kor-relationen zwischen den einzelnen biographischen Faktoren.
Bemerkenswert ist, daß das Vorzeichen der Korrelation im we-sentlichen die intuitiven Erwartungen an den stützenden bzw. ge-fährdenden Einfluß des jeweiligen Kriteriums bestätigt und daß die Richtung der Zusammenhänge über den Haftverlauf hin erhalten bleibt. Die biographischen Faktoren lassen sich anhand ihrer Korre-lation mit dem Ressourcen-Defizite-Quotient in drei Klassen einteilen:


1. Protektionsfaktoren: eigener Familienstand des Inhaftierten, Zahl der Freunde, Schultyp und Zahl der absolvierten Klassen, das Erreichen eines Berufsabschlusses, Intensität der legalen Freizeitbeschäftigungen, Zahl der Freunde, Dauer der Partnerschaft, Aufklärungsrate und Alter – korrelieren signifikant positiv mit dem Ressourcen-Defizite-Quotienten

2. Risikofaktoren: Stiefeltern, Heimaufenthalte, schlechte Schulleistungen (insbesondere schlechte Deutschnote und Konzentrationsfähigkeit), Alkohol- und Drogenkonsum, vorangegangene Psychiatrieaufenthalte, Delikthäufigkeit, Gerichtserfahrung (Vorstrafen und Anklagen), Straferwartung sowie Strafhöhe – korrelieren signifikant negativ mit dem RDQ

3. persönlichkeitsneutrale Faktoren: Familienstand der Eltern, Geschwisterzahl, Zahl der legalen Freizeitbeschäftigungen, Deliktschwere (!), monatlicher Geldverbrauch, Gewinn durch die Delikte, subjektives Empfinden der Gerechtigkeit des Urteils – kein signifikanter statistischer Zusammenhang

Überraschend ist, daß die Deliktschwere mit keiner der untersuch-ten Persönlichkeitsauffälligkeiten und Konfliktsituationen korreliert, Delikthäufigkeit dagegen stark. Verhältnismäßig seltene Delikte wie Mord können, so legen es die Ergebnisse nahe, von sämtlichen Persönlichkeitstypen begangen werden und es scheint, im Rahmen der hier untersuchten Konstrukte, keine Ressource zu geben, die effek-tiv von ihnen abhält. Daß die Deliktschwere nicht mit dem RDQ korreliert, läßt sich dadurch erklären, daß zahlreiche schwere Delik-te in psychischen Ausnahmesituationen begangen werden, z.B. der Beziehungsmord im Kontext eskalierenden Streits, die keine hohe Wiederholungswahrscheinlichkeit aufweisen und nicht zwangsläufig mit einer übergreifenden Persönlichkeitsbeeinträchtigung im Alltag des Täters einhergehen. Ein Indiz dafür ist, daß Deliktschwere zwar nicht mit Persönlichkeitsskalen korreliert, wohl aber mit dem Fami-lienstand des Delinquenten sowie Alkoholkonsum, allerdings negativ mit Drogenkonsum. Anscheinend gibt es eine Gruppe gut aus-gebildeter, in geordneten Verhältnissen lebender und psychisch sta-biler Personen, die durch schwere Delikte auffallen. Inwieweit diese geplant werden oder im Affekt „unterlaufen“, müßte durch Einzel-falluntersuchungen geprüft werden.

Weitere Einzelheiten finden Sie im Buch:

Klemm, T. (2003), Delinquenz, Haftfolgen und Therapie mit Straffälligen, Leipzig: LWV