
Sawjalow, Sergej: Überlieferungen auf Birkenrinde
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Ausgewählte Gedichte, zweisprachig. Aus dem Russischen von Christine Hengevoß
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Sergej Sawjalow, geboren 1958 in Puschkin, ursprünglich (und heute wieder) Zarskoje Selo, ist Dichter, Übersetzer und Altphilologe. Er lebte bis 2004 in Petersburg, wo er Altgriechisch, Latein und antike Literatur unterrichtete, emigrierte 2004 nach Finnland und wohnt seit 2011 mit seiner Familie in der Schweiz. Seine ersten Gedichte veröffentlichte in den 1980er Jahren im Leningrader Samisdat. Sawjalow hat mordwinische (also finno-ugrische) Wurzeln. Sein Schaffen ist geprägt von der antiken und russischen Poesie, der Suche nach seiner finnougrischen Identität, der Verarbeitung der sowjetischen Realität und von sozialer Verantwortung. Die im vorliegenden Band enthaltenen Werke zeugen von der Tragödie des Großen Terrors, der Hungersnot während der Belagerung Leningrads, der Grausamkeit von Kriegen, der Ausrottung kleiner Völker. Er thematisiert den Verlust der sprachlichen und kulturellen Identität und des mythischen Selbstbewusstseins kleinerer Völker aufgrund der totalen Dominanz der russischen Sprache und der russischen (bzw. zeitweise sowjetischen) Kultur. Da sich seines Dafürhaltens für die Darstellung all dieser traumatischen Erfahrungen am besten freie gebrochene Verse eignen, hat sich Sawjalow in seiner Lyrik schon früh dem Vers Libre und Versen in Prosa zugewandt, um sie von ihrer „Festlegung" durch Reim und Rhythmus zu befreien, die in der russischen Dichtkunst noch vor wenigen Jahrzehnten als unabdingbarer Standard galten. In seinen Werken kommen verschiedene Techniken der antiken Rhetorik, der mittelalterlichen Literatur und der avantgardistischen Poetik zum Einsatz. Die Fragmentierung von Texten, Interpolationen in Zitaten griechischer und lateinischer Texte, ihre Übersetzung durch den Dichter selbst schaffen eine Art Akkord, ein Zusammenspiel der Epochen. Die Stimmen früherer Epochen erscheinen als Echo der schlimmen Erfahrungen und gleichzeitig als Warnung: Die Geschichte wird immer neue Opfer hervorbringen, die immer weniger imstande sein werden, ihre traumatischen Erfahrungen zu begreifen und kundzutun. Somit sieht Sawjalow seine Aufgabe als Dichter darin, den Opfern der Geschichte eine Stimme zu geben.
Sergej Sawjalow: geb. 1958 in Zarskoje Selo (in der Sowjetunion: Puschkin), aus einer mordwinischen Familie stammender Lyriker und klassischer Philologe, in den 1980er Jahren gehörte er zu den aktiven Mitgliedern des nonkonformistischen Klubs 81, der damals eigene hektografierte Literaturzeitschriften herausgab, emigrierte 2004 nach Finnland und lebt seit 2011 in Winterthur (Schweiz). Auszeichnungen: Andrei Bely-Preis
Christine Hengevoß: aufgewachsen in Frankfurt/Oder und Moskau, Studium der Slawistik und Anglistik in Potsdam, Fremdsprachenlehrerin, seit 2013 freiberufliche Übersetzerin, Mitglied im VdÜ, zahlreiche Stipendien, u.a. des Deutschen Übersetzerfonds und des EÜK Straelen.
Sawjalow über sich selbst
Schau dem Unglück in die unbewegten Augen
Ich bin Dichter, Jahrgang 1958, also früherer Sowjetbürger. In den Erfahrungen meiner russischen Heimatstadt Zarskoje Selo, der ehemaligen Zarenresidenz, finde ich die Antworten auf die Aufgaben der Lyrik im einundzwanzigsten Jahrhundert.
1. Die Poesie ist wahrscheinlich die fragilste Form der geistigen Tätigkeit des Menschen. Und das nicht nur, weil ein riesiger Teil von ihr über die Jahrhunderte verlorenging - wie das Kulturerbe schriftloser Epochen und ausgestorbener Sprachen, zerbrochene Keilschrifttafeln oder zerbröselte Papyrusrollen -, sondern auch und vor allem, weil die historische Erinnerung unsere Optik gewaltig deformiert und verlangt, Dinge neu zu verstehen, die offensichtlich scheinen, in Wirklichkeit sich jedoch durch endlose Wiederholung in einen „blinden Fleck“ der Trivialität verwandelt haben, und sie in eine Sprache zu übersetzen, die mit der Erfahrung des Sprechenden und des Zuhörenden in Beziehung steht. Und plötzlich tritt Vergils schon im Gymnasium abgenutzte Zeile „Arma virumque cano“ (Waffen besing ich und den Helden) in Dialog mit den Büchern von Primo Levi oder Warlam Schalamow und wird in der Übersetzung zu: „Ich zeuge von der Katastrophe / Und von dem Menschen, der darin zugrunde ging / Oder aber sie überlebt hat / Von ihr verkrüppelt.“
In diesem Modus wird Äneas’ krampfhafte Flucht vor der glücklichen Liebe verständlich (ein paralleles Motiv finden wir beispielsweise in Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“ über einen Auschwitz-Überlebenden), seine pathologische Unzertrennlichkeit von den Schatten der Verstorbenen und sein nervöser Drang, das ihm vom Schicksal aufgebene Haus zu errichten.
Das Trauma enträtseln
Man braucht nur das Trauma, das der Dichter verhüllt, zu enträtseln, und schon beginnen Zeilen, die erfüllt schienen von kaltem Hochmut, schluchzend zu zittern: „Dicar qua violens obstrepit Aufidus / Et qua pauper aqua Daunus agrestium / Regnavit populorem ex humili potens“. Die klassische Übersetzung dieser Passage des Gedichts von Horaz, das Puschkin sich anverwandelte, klingt so: „Wo der gewaltige Aufidus braust, nennet man mich mit Preis / Und wo der wasserarme Daunus herrschte / Über Bauernvölker, dass ich aus niederem Stand erhöht . . .“
Heute würde ich das folgendermaßen übersetzen: „Von mir wird man reden dort, wo der wilde Aufidus tost (die Kolonisten haben in meiner Heimat alles eingedeicht, haben alle Klänge erstickt außer seinem Gebrüll), / dort, in der Gegend mit den kargen Ernten, / Wo an der Spitze der Freiheitskämpfer einst ein Bauernführer namens Daunus stand, / wird man sagen, dass ich, der Sohn eines Aufständischen, der ins Konzentrationslager geworfen wurde (an anderer Stelle wird diese Wunde im Klartext genannt: „me libertino patre natum“ - ich, der Sohn eines Befreiten), / dennoch die Kraft fand, die sklavische Erniedrigung zu überwinden.“
Des Zaren Residenz am Rande von Petersburg
2. Ich wurde vor fast sechzig Jahren in Zarskoje Selo geboren, jener Zarenresidenz am Rande von Petersburg, die für die russische Kultur Schönheit und Inspiration symbolisiert. Es war das russische Versailles und das russische Weimar in einem, eine Stadt der Musen, die mit den Namen unserer nationalen Genies verbunden ist: Alexander Puschkin und Innokenti Annenski, Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam. Die Revolution, die scheinbar alles umstürzte, änderte an diesem Bild nichts, sie verstärkte nur den ihn umgebenden Mythos, indem sie den Ort umtaufte auf den Namen des dichterischen Abgotts Puschkin.
Aus der Geschichte der mehr als zwei Jahre währenden deutschen Besatzung 1941 bis 1944 gedachte die „Paradehistorie“ der verbrannten Schätze der Zarenschlösser, der geschändeten Größe der „Musenstadt“ und pries die siegreichen Waffen der Generäle, die jene Armeen, Korps und Divisionen befehligten, die den Feind zerschmetterten.
Nach der Besetzung
Die Okkupation hatte allerdings auch eine andere Geschichte. Als am 24. Januar 1944 die sowjetischen Truppen wieder in die Stadt einzogen, trafen sie dort buchstäblich auf keinen lebendigen Menschen. Von den ungefähr 60 000 Einwohnern konnten nur etwa 24 000 evakuiert werden; 10 000 starben an Hunger und Krankheiten, 8000 waren getötet worden, 18 000 wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt.
Doch das ist noch nicht alles: Meine Heimatstadt, die von den russischen Zaren, wie auch sein gigantischer Nachbar, Petersburg, auf erobertem finnischen Territorium gegründet worden war (was die „Musendiener“ immer wieder begeistert besangen), stellte bis zum Zweiten Weltkrieg eine Insel (auf Finnisch hieß sie auch so: Saari, Insel) inmitten eines nicht versiegenden, wenn auch mit jeder Generation flacher werdenden finnougrischen Sees dar. Bei Kriegsbeginn lebten in seiner Umgebung etwa 20 000 Finnen, was der Hälfte der Landbevölkerung entsprach. Sie alle wurden deportiert, und erst das „Tauwetter“ der fünfziger Jahre eröffnete ihnen ein Schlupfloch zur Rückkehr in die angestammte Heimat. Ich erinnere mich an einige Alte, die mit schrecklichem Akzent sprachen: an jenen einäugigen Hausmeister meines Kindergartens (wo verlor er nur sein Auge?), die Milchverkäuferin, die ihre Verkaufsware morgens in einer unvorstellbar schweren Kanne durch die Stadt trug. Später, zur Zeit der Entspannungspolitik, krochen sonntags von den Eisenbahnstationen Schlangen betagter Gemeindemitglieder in Richtung der wiedererrichteten evangelisch-lutherischen Kirchen.
Austausch der Bevölkerung
So wurde in der Stadt meiner Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg fast die gesamte Bevölkerung ausgetauscht, wie das auch mit Wyborg geschah, das aus Finnland nach Russland überwechselte, oder mit Breslau, das aus Deutschland nach Polen, oder Pula, das aus Italien nach Kroatien wechselte. Etwas früher passierte das gleiche mit dem anatolischen Smyrna, etwas später mit dem palästinensischen Jaffa. Diesen Beispielen könnte man das durch die Atomexplosion verbrannte Hiroshima hinzufügen oder die aschkenasischen Schtetl in Weißrussland und der Ukraine.
Der spätsowjetische Staat, der inmitten städtischer Ruinen und verbrannter Dörfer die kaiserliche Residenz im vollen Glanz des Elisabethanischen Barocks wieder aufbaute, verwandelte sie auch in eine beleidigend verlogene Dekoration zur Tarnung der Kasernen und Fabrikwohnheime der sowjetischen Militärs. Dieser unerträgliche Kontrast zog einen in den Abgrund des Passeismus. Über Jahrzehnte berauschten sich idealistisch gesinnte junge Leute am Mythos vom Zauberreich, das die „roten Scheusale“ zugrunde gerichtet hätten. Und wahrscheinlich war dieser Rausch nirgends schwindelerregender als in den Parks des russischen Versailles. Ein junger Dichter, wie am Ende der sowjetischen Epoche ich einer war, stand vor der Wahl, die seine Poetik, Problematik und Ethik bestimmte. Er war gefordert, für eine Seite Partei zu ergreifen: entweder für die Welt der „Schönheit“, für die klanglich hinreißenden gereimten Eskapaden des russischen Jugendstils, für den Kult des „guten Geschmacks“ - oder für die von Katastrophen verbrannte Erde der zeitgenössischen Kunst, die sich dem Diskurs des Sieges als solchem verweigerte.
Welche Toten sollen wir beweinen?
Diese Wahl hatte einen vollkommen erbarmungslosen Aspekt. Ich musste wählen, welche Toten ich beweinen würde. Man konnte das selektiv tun; dann umfasste die Zahl der zu Beweinenden nur die vernichtete Elite inklusive der kleinen Zarenkinder, deren ästhetischen Geschmack ich teilte und für deren künstlerisches Erbe ich mich begeisterte. Wobei jene praktisch unbemerkt blieben, die diese Elite zu einer halb hungernden Existenz verurteilte (ein Viertel der vorrevolutionären Bauernfamilien besaß kein Pferd, ein weiteres Viertel nur eines), ohne Medizin und Bildung (drei Viertel der Bevölkerung waren Analphabeten). Oder man tat es nicht selektiv; dann umfasste die Zahl der zu Beweinenden alle Leichname: auch die der rebellierenden Arbeiter - und der Kosaken, die vom Don und aus dem Kubangebiet herangetrieben wurden, um auf sie zu schießen, oder die der die Stadt verteidigenden Okkupanten (die Rote Armee hatte sie faktisch kampflos verlassen), etwa jener aus Schwaben oder Andalusien (in meiner Heimatstadt war eine Division spanischer Falangisten stationiert), oder die der sie attackierenden Rekruten von der Wolga oder dem Ural.
3. Über dieser Wahl, die in der Bewusstwerdung dessen besteht, dass man keine Wahl hat, und darin, die tragische Wirklichkeit anzunehmen, ging mein Leben hin. Der Genius Loci von Zarskoje Selo, der sein erbarmungsloses wahres, vom Schleier des „Schönen“ maskiertes Gesicht enthüllte, offenbarte mir allmählich, Jahrzehnt um Jahrzehnt, andere, wenngleich in ihren zyklopischen Ausmaßen verwandte Tragödien, die mir durch meine Geburt als Erbe zufielen.
In diesem Modus kann ich den klassischen Vers des Horaz interpretieren: „Quem tu, Melpomene, semel / nescentem placido lumine videris . . .“ Hölderlin übertrug ihn so: „Auf wen einmal, Melpomene, du, da er geboren ward, mit Wohlgefallen geblickt . . .“ Ich würde ihn folgendermaßen übersetzen: „Das Unglück, auf welches einmal bei seiner Geburt dein unbewegter Blick fällt . . .“
Vor der Truhe mit dem Eis
Ich fragte unseren finnischen Hausmeister, ob es heute im Kindergarten Schokolade geben würde, und sein Akzent versetzte mich zurück in die mordwinischen Wälder, aus denen meine Vorfahren gekommen waren, die ihre dem Finnischen verwandte Muttersprache mitsamt den ländlichen Lumpen und gestopften Fußlappen abwarfen.
Ich reihte mich ein in die Schlange vor der Truhe mit Eis, die im Sommer auf den Platz vor dem Kino herausgerollt wurde, zur Freude der Kinder (später erfuhr ich: Auf ebenjenem Platz stand der Galgen der Henker), und die Schlange erstreckte sich weithin bis zu jener Stelle, wo die in Laken gewickelten Blockadeopfer übereinandergeschichtet lagen, unter ihnen auch mein Großvater väterlicherseits.
Ich spielte Geige unter dem Dach des Zarenpalastes (die Musikschule befand sich in der obersten Etage), aber Haydn und Vivaldi waren in Wirklichkeit ein Betrug, der einer anderen, respektablen Kindheit entliehen war. Der Enkel des erschossenen Volksfeindes (mein Großvater mütterlicherseits, ein Direktor einer Rüstungsfabrik) sollte bestenfalls in Gesellschaft ungewaschener Jünglinge auf einer Holzbank im Hof mit klammen Fingern über die Gitarrensaiten streichen und zu primitiven Akkorden etwas Verzweifeltes schreien.
Meine drei großen Poeme - „Vier gute Nachrichten“, die der Erosion der ethnischen und sprachlichen Identität der vorslawischen Bevölkerung Russlands gewidmet sind, die „Weihnachtsfasten“, die die Transformation der menschlichen Persönlichkeit im Schraubstock des Sterbens während der Blockade fixiert, und die „Sowjetischen Kantaten“, die von jenem ekstatischen Wahn künden, der die Opfer und Henker des Großen Terrors ununterscheidbar macht - wurden zu Formulierungen dieser Traumata in der Sprache der zeitgenössischen Kunst.
Seine Stimme anderen geben
4. Hier ergibt sich aber ein Widerspruch: Denn wenn der Dichter sich vom egozentrischen „Lyrischen Helden“ und dem Anspruch auf Exklusivität im Sinn des Jugendstils lossagt, sich vom Reden von sich umstellt aufs Zeugnis von der Katastrophe, selbst wenn er seine Stimme anderen gibt, die aus irgendwelchen Gründen der Möglichkeit beraubt sind, selbst zu sprechen, so ist er dazu nur in der Lage, wenn er sich bis zum Äußersten in die eigenen Traumata vertieft, die allein zu Fenstern in die Welten anderer Menschen werden können - oder auch nicht, und das wäre dann sein Bankrott.
Mir scheint, diese Fähigkeit der Kunst, nicht nur der poetischen, sondern jeglicher, gibt allein dem Künstler das moralische Recht zum Übergriff auf die Nächsten, denen er Zeit stiehlt, die einem in jeglicher Situation und in jedem Lebensalter so tödlich mangelt.
Sprechen für die, die keine Sprache haben?
Doch kann ein Dichter überhaupt im Namen anderer sprechen, im Namen jener, die keine Sprache haben? Inwiefern erlaubt das eigene Trauma, inwieweit erlauben der klassenmäßige und kulturelle Abgrund, dies zu tun? Beziehen wir nicht eine Position des Exotischmachens, wenn wir in den Gesellschaften der nahen, vor allem der sowjetischen Vergangenheit, jenes idealtypische Andere erblicken, das den zeitgenössischen Menschen nur im Bewusstsein seiner Unfehlbarkeit bestärkt, und die diesen zeitgenössischen Menschen letztlich nichts angeht?
Nicht weniger wichtig ist die Frage, ob das Reden von den Katastrophen der Vergangenheit nicht ein Vorwand ist, den wirklich dringenden Problemen auszuweichen: der Globalisierung, die Armut und Reichtum immer weiter auseinandertreten lässt, nicht nur in einem Land, sondern unter Kontinenten; der Gentechnik, die die Klassenungleichheit auf eine physiologische Ebene zu übertragen droht? Und andererseits: Ist nicht die harte gesellschaftliche Kritik eine Form aggressiven Verstoßens, eine Falle für die Protestenergie, die in die Bekämpfung von Ersatzfeinden gelenkt wird, während die wirklichen weiterhin still und leise, Schritt für Schritt die ganze Welt erobern?
Die bloße Liste erstrangiger und vor allem ethisch prinzipieller Fragen, die sich dem zeitgenössischen Künstler stellen, ist so beschaffen, dass jede Andeutung eines wohlwollenden Glaubens an den Fortschritt des Humanismus auf dem Planeten ihn bestenfalls um ein Jahrhundert zurückwirft in eine Zeit, da die besten „Meister der Feder“ aller europäischen Länder mit ihren volltönenden Meisterwerken die Leser auf das gegenseitige Schlachten vorbereiteten. Und hinter ihnen erheben sich die Titanen der Romantik, die die Größe des Geistes der Völker entdeckten, die sich insbesondere in der Aggression gegen die Nachbarn niederschlägt; die Barden der geographischen Entdeckungen, der kolonialen Eroberungen, die Troubadoure der Kreuzzüge, der religiösen Intoleranz, die Psalmsänger des Bundes zwischen Gott und dem auserwählten Volk, der ethnischen Säuberungen.
Sie alle waren aufrichtig, sie glaubten, dem Guten und dem Menschen zu dienen. Wir glauben das auch. Doch inwieweit dienen wir dem Bösen?
Jahrtausende gehen vorbei, doch in der total veränderten menschlichen Gesellschaft hat der Dichter noch immer dieselbe wacklige Position inne wie sein Vorfahr, der ekstatische Rituale feierte, manchmal mit Menschenopfern, um die bösen Geister günstig zu stimmen und seinen Stamm vor Naturkatastrophen und Hunger zu retten; der flammend das Gemetzel besang, das die Jugend im Nachbardorf veranstaltete, um so ihr Recht auf Frauen und Nachkommen und für ihre Nachkommen das Lebensrecht zu behaupten; der mit einem opulenten Begräbnisritual dem allmächtigen Triumph des Todes eine Grenze zog.
Aus dem Russischen von Kerstin Holm.
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Sergej Sawjalow, geboren 1958 in Puschkin, ursprünglich (und heute wieder) Zarskoje Selo, ist Dichter, Übersetzer und Altphilologe. Er lebte bis 2004 in Petersburg, wo er Altgriechisch, Latein und antike Literatur unterrichtete, emigrierte 2004 nach Finnland und wohnt seit 2011 mit seiner Familie in der Schweiz. Seine ersten Gedichte veröffentlichte in den 1980er Jahren im Leningrader Samisdat. Sawjalow hat mordwinische (also finno-ugrische) Wurzeln. Sein Schaffen ist geprägt von der antiken und russischen Poesie, der Suche nach seiner finnougrischen Identität, der Verarbeitung der sowjetischen Realität und von sozialer Verantwortung. Die im vorliegenden Band enthaltenen Werke zeugen von der Tragödie des Großen Terrors, der Hungersnot während der Belagerung Leningrads, der Grausamkeit von Kriegen, der Ausrottung kleiner Völker. Er thematisiert den Verlust der sprachlichen und kulturellen Identität und des mythischen Selbstbewusstseins kleinerer Völker aufgrund der totalen Dominanz der russischen Sprache und der russischen (bzw. zeitweise sowjetischen) Kultur. Da sich seines Dafürhaltens für die Darstellung all dieser traumatischen Erfahrungen am besten freie gebrochene Verse eignen, hat sich Sawjalow in seiner Lyrik schon früh dem Vers Libre und Versen in Prosa zugewandt, um sie von ihrer „Festlegung" durch Reim und Rhythmus zu befreien, die in der russischen Dichtkunst noch vor wenigen Jahrzehnten als unabdingbarer Standard galten. In seinen Werken kommen verschiedene Techniken der antiken Rhetorik, der mittelalterlichen Literatur und der avantgardistischen Poetik zum Einsatz. Die Fragmentierung von Texten, Interpolationen in Zitaten griechischer und lateinischer Texte, ihre Übersetzung durch den Dichter selbst schaffen eine Art Akkord, ein Zusammenspiel der Epochen. Die Stimmen früherer Epochen erscheinen als Echo der schlimmen Erfahrungen und gleichzeitig als Warnung: Die Geschichte wird immer neue Opfer hervorbringen, die immer weniger imstande sein werden, ihre traumatischen Erfahrungen zu begreifen und kundzutun. Somit sieht Sawjalow seine Aufgabe als Dichter darin, den Opfern der Geschichte eine Stimme zu geben.
Sergej Sawjalow: geb. 1958 in Zarskoje Selo (in der Sowjetunion: Puschkin), aus einer mordwinischen Familie stammender Lyriker und klassischer Philologe, in den 1980er Jahren gehörte er zu den aktiven Mitgliedern des nonkonformistischen Klubs 81, der damals eigene hektografierte Literaturzeitschriften herausgab, emigrierte 2004 nach Finnland und lebt seit 2011 in Winterthur (Schweiz). Auszeichnungen: Andrei Bely-Preis
Christine Hengevoß: aufgewachsen in Frankfurt/Oder und Moskau, Studium der Slawistik und Anglistik in Potsdam, Fremdsprachenlehrerin, seit 2013 freiberufliche Übersetzerin, Mitglied im VdÜ, zahlreiche Stipendien, u.a. des Deutschen Übersetzerfonds und des EÜK Straelen.
Sawjalow über sich selbst
Schau dem Unglück in die unbewegten Augen
Ich bin Dichter, Jahrgang 1958, also früherer Sowjetbürger. In den Erfahrungen meiner russischen Heimatstadt Zarskoje Selo, der ehemaligen Zarenresidenz, finde ich die Antworten auf die Aufgaben der Lyrik im einundzwanzigsten Jahrhundert.
1. Die Poesie ist wahrscheinlich die fragilste Form der geistigen Tätigkeit des Menschen. Und das nicht nur, weil ein riesiger Teil von ihr über die Jahrhunderte verlorenging - wie das Kulturerbe schriftloser Epochen und ausgestorbener Sprachen, zerbrochene Keilschrifttafeln oder zerbröselte Papyrusrollen -, sondern auch und vor allem, weil die historische Erinnerung unsere Optik gewaltig deformiert und verlangt, Dinge neu zu verstehen, die offensichtlich scheinen, in Wirklichkeit sich jedoch durch endlose Wiederholung in einen „blinden Fleck“ der Trivialität verwandelt haben, und sie in eine Sprache zu übersetzen, die mit der Erfahrung des Sprechenden und des Zuhörenden in Beziehung steht. Und plötzlich tritt Vergils schon im Gymnasium abgenutzte Zeile „Arma virumque cano“ (Waffen besing ich und den Helden) in Dialog mit den Büchern von Primo Levi oder Warlam Schalamow und wird in der Übersetzung zu: „Ich zeuge von der Katastrophe / Und von dem Menschen, der darin zugrunde ging / Oder aber sie überlebt hat / Von ihr verkrüppelt.“
In diesem Modus wird Äneas’ krampfhafte Flucht vor der glücklichen Liebe verständlich (ein paralleles Motiv finden wir beispielsweise in Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“ über einen Auschwitz-Überlebenden), seine pathologische Unzertrennlichkeit von den Schatten der Verstorbenen und sein nervöser Drang, das ihm vom Schicksal aufgebene Haus zu errichten.
Das Trauma enträtseln
Man braucht nur das Trauma, das der Dichter verhüllt, zu enträtseln, und schon beginnen Zeilen, die erfüllt schienen von kaltem Hochmut, schluchzend zu zittern: „Dicar qua violens obstrepit Aufidus / Et qua pauper aqua Daunus agrestium / Regnavit populorem ex humili potens“. Die klassische Übersetzung dieser Passage des Gedichts von Horaz, das Puschkin sich anverwandelte, klingt so: „Wo der gewaltige Aufidus braust, nennet man mich mit Preis / Und wo der wasserarme Daunus herrschte / Über Bauernvölker, dass ich aus niederem Stand erhöht . . .“
Heute würde ich das folgendermaßen übersetzen: „Von mir wird man reden dort, wo der wilde Aufidus tost (die Kolonisten haben in meiner Heimat alles eingedeicht, haben alle Klänge erstickt außer seinem Gebrüll), / dort, in der Gegend mit den kargen Ernten, / Wo an der Spitze der Freiheitskämpfer einst ein Bauernführer namens Daunus stand, / wird man sagen, dass ich, der Sohn eines Aufständischen, der ins Konzentrationslager geworfen wurde (an anderer Stelle wird diese Wunde im Klartext genannt: „me libertino patre natum“ - ich, der Sohn eines Befreiten), / dennoch die Kraft fand, die sklavische Erniedrigung zu überwinden.“
Des Zaren Residenz am Rande von Petersburg
2. Ich wurde vor fast sechzig Jahren in Zarskoje Selo geboren, jener Zarenresidenz am Rande von Petersburg, die für die russische Kultur Schönheit und Inspiration symbolisiert. Es war das russische Versailles und das russische Weimar in einem, eine Stadt der Musen, die mit den Namen unserer nationalen Genies verbunden ist: Alexander Puschkin und Innokenti Annenski, Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam. Die Revolution, die scheinbar alles umstürzte, änderte an diesem Bild nichts, sie verstärkte nur den ihn umgebenden Mythos, indem sie den Ort umtaufte auf den Namen des dichterischen Abgotts Puschkin.
Aus der Geschichte der mehr als zwei Jahre währenden deutschen Besatzung 1941 bis 1944 gedachte die „Paradehistorie“ der verbrannten Schätze der Zarenschlösser, der geschändeten Größe der „Musenstadt“ und pries die siegreichen Waffen der Generäle, die jene Armeen, Korps und Divisionen befehligten, die den Feind zerschmetterten.
Nach der Besetzung
Die Okkupation hatte allerdings auch eine andere Geschichte. Als am 24. Januar 1944 die sowjetischen Truppen wieder in die Stadt einzogen, trafen sie dort buchstäblich auf keinen lebendigen Menschen. Von den ungefähr 60 000 Einwohnern konnten nur etwa 24 000 evakuiert werden; 10 000 starben an Hunger und Krankheiten, 8000 waren getötet worden, 18 000 wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt.
Doch das ist noch nicht alles: Meine Heimatstadt, die von den russischen Zaren, wie auch sein gigantischer Nachbar, Petersburg, auf erobertem finnischen Territorium gegründet worden war (was die „Musendiener“ immer wieder begeistert besangen), stellte bis zum Zweiten Weltkrieg eine Insel (auf Finnisch hieß sie auch so: Saari, Insel) inmitten eines nicht versiegenden, wenn auch mit jeder Generation flacher werdenden finnougrischen Sees dar. Bei Kriegsbeginn lebten in seiner Umgebung etwa 20 000 Finnen, was der Hälfte der Landbevölkerung entsprach. Sie alle wurden deportiert, und erst das „Tauwetter“ der fünfziger Jahre eröffnete ihnen ein Schlupfloch zur Rückkehr in die angestammte Heimat. Ich erinnere mich an einige Alte, die mit schrecklichem Akzent sprachen: an jenen einäugigen Hausmeister meines Kindergartens (wo verlor er nur sein Auge?), die Milchverkäuferin, die ihre Verkaufsware morgens in einer unvorstellbar schweren Kanne durch die Stadt trug. Später, zur Zeit der Entspannungspolitik, krochen sonntags von den Eisenbahnstationen Schlangen betagter Gemeindemitglieder in Richtung der wiedererrichteten evangelisch-lutherischen Kirchen.
Austausch der Bevölkerung
So wurde in der Stadt meiner Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg fast die gesamte Bevölkerung ausgetauscht, wie das auch mit Wyborg geschah, das aus Finnland nach Russland überwechselte, oder mit Breslau, das aus Deutschland nach Polen, oder Pula, das aus Italien nach Kroatien wechselte. Etwas früher passierte das gleiche mit dem anatolischen Smyrna, etwas später mit dem palästinensischen Jaffa. Diesen Beispielen könnte man das durch die Atomexplosion verbrannte Hiroshima hinzufügen oder die aschkenasischen Schtetl in Weißrussland und der Ukraine.
Der spätsowjetische Staat, der inmitten städtischer Ruinen und verbrannter Dörfer die kaiserliche Residenz im vollen Glanz des Elisabethanischen Barocks wieder aufbaute, verwandelte sie auch in eine beleidigend verlogene Dekoration zur Tarnung der Kasernen und Fabrikwohnheime der sowjetischen Militärs. Dieser unerträgliche Kontrast zog einen in den Abgrund des Passeismus. Über Jahrzehnte berauschten sich idealistisch gesinnte junge Leute am Mythos vom Zauberreich, das die „roten Scheusale“ zugrunde gerichtet hätten. Und wahrscheinlich war dieser Rausch nirgends schwindelerregender als in den Parks des russischen Versailles. Ein junger Dichter, wie am Ende der sowjetischen Epoche ich einer war, stand vor der Wahl, die seine Poetik, Problematik und Ethik bestimmte. Er war gefordert, für eine Seite Partei zu ergreifen: entweder für die Welt der „Schönheit“, für die klanglich hinreißenden gereimten Eskapaden des russischen Jugendstils, für den Kult des „guten Geschmacks“ - oder für die von Katastrophen verbrannte Erde der zeitgenössischen Kunst, die sich dem Diskurs des Sieges als solchem verweigerte.
Welche Toten sollen wir beweinen?
Diese Wahl hatte einen vollkommen erbarmungslosen Aspekt. Ich musste wählen, welche Toten ich beweinen würde. Man konnte das selektiv tun; dann umfasste die Zahl der zu Beweinenden nur die vernichtete Elite inklusive der kleinen Zarenkinder, deren ästhetischen Geschmack ich teilte und für deren künstlerisches Erbe ich mich begeisterte. Wobei jene praktisch unbemerkt blieben, die diese Elite zu einer halb hungernden Existenz verurteilte (ein Viertel der vorrevolutionären Bauernfamilien besaß kein Pferd, ein weiteres Viertel nur eines), ohne Medizin und Bildung (drei Viertel der Bevölkerung waren Analphabeten). Oder man tat es nicht selektiv; dann umfasste die Zahl der zu Beweinenden alle Leichname: auch die der rebellierenden Arbeiter - und der Kosaken, die vom Don und aus dem Kubangebiet herangetrieben wurden, um auf sie zu schießen, oder die der die Stadt verteidigenden Okkupanten (die Rote Armee hatte sie faktisch kampflos verlassen), etwa jener aus Schwaben oder Andalusien (in meiner Heimatstadt war eine Division spanischer Falangisten stationiert), oder die der sie attackierenden Rekruten von der Wolga oder dem Ural.
3. Über dieser Wahl, die in der Bewusstwerdung dessen besteht, dass man keine Wahl hat, und darin, die tragische Wirklichkeit anzunehmen, ging mein Leben hin. Der Genius Loci von Zarskoje Selo, der sein erbarmungsloses wahres, vom Schleier des „Schönen“ maskiertes Gesicht enthüllte, offenbarte mir allmählich, Jahrzehnt um Jahrzehnt, andere, wenngleich in ihren zyklopischen Ausmaßen verwandte Tragödien, die mir durch meine Geburt als Erbe zufielen.
In diesem Modus kann ich den klassischen Vers des Horaz interpretieren: „Quem tu, Melpomene, semel / nescentem placido lumine videris . . .“ Hölderlin übertrug ihn so: „Auf wen einmal, Melpomene, du, da er geboren ward, mit Wohlgefallen geblickt . . .“ Ich würde ihn folgendermaßen übersetzen: „Das Unglück, auf welches einmal bei seiner Geburt dein unbewegter Blick fällt . . .“
Vor der Truhe mit dem Eis
Ich fragte unseren finnischen Hausmeister, ob es heute im Kindergarten Schokolade geben würde, und sein Akzent versetzte mich zurück in die mordwinischen Wälder, aus denen meine Vorfahren gekommen waren, die ihre dem Finnischen verwandte Muttersprache mitsamt den ländlichen Lumpen und gestopften Fußlappen abwarfen.
Ich reihte mich ein in die Schlange vor der Truhe mit Eis, die im Sommer auf den Platz vor dem Kino herausgerollt wurde, zur Freude der Kinder (später erfuhr ich: Auf ebenjenem Platz stand der Galgen der Henker), und die Schlange erstreckte sich weithin bis zu jener Stelle, wo die in Laken gewickelten Blockadeopfer übereinandergeschichtet lagen, unter ihnen auch mein Großvater väterlicherseits.
Ich spielte Geige unter dem Dach des Zarenpalastes (die Musikschule befand sich in der obersten Etage), aber Haydn und Vivaldi waren in Wirklichkeit ein Betrug, der einer anderen, respektablen Kindheit entliehen war. Der Enkel des erschossenen Volksfeindes (mein Großvater mütterlicherseits, ein Direktor einer Rüstungsfabrik) sollte bestenfalls in Gesellschaft ungewaschener Jünglinge auf einer Holzbank im Hof mit klammen Fingern über die Gitarrensaiten streichen und zu primitiven Akkorden etwas Verzweifeltes schreien.
Meine drei großen Poeme - „Vier gute Nachrichten“, die der Erosion der ethnischen und sprachlichen Identität der vorslawischen Bevölkerung Russlands gewidmet sind, die „Weihnachtsfasten“, die die Transformation der menschlichen Persönlichkeit im Schraubstock des Sterbens während der Blockade fixiert, und die „Sowjetischen Kantaten“, die von jenem ekstatischen Wahn künden, der die Opfer und Henker des Großen Terrors ununterscheidbar macht - wurden zu Formulierungen dieser Traumata in der Sprache der zeitgenössischen Kunst.
Seine Stimme anderen geben
4. Hier ergibt sich aber ein Widerspruch: Denn wenn der Dichter sich vom egozentrischen „Lyrischen Helden“ und dem Anspruch auf Exklusivität im Sinn des Jugendstils lossagt, sich vom Reden von sich umstellt aufs Zeugnis von der Katastrophe, selbst wenn er seine Stimme anderen gibt, die aus irgendwelchen Gründen der Möglichkeit beraubt sind, selbst zu sprechen, so ist er dazu nur in der Lage, wenn er sich bis zum Äußersten in die eigenen Traumata vertieft, die allein zu Fenstern in die Welten anderer Menschen werden können - oder auch nicht, und das wäre dann sein Bankrott.
Mir scheint, diese Fähigkeit der Kunst, nicht nur der poetischen, sondern jeglicher, gibt allein dem Künstler das moralische Recht zum Übergriff auf die Nächsten, denen er Zeit stiehlt, die einem in jeglicher Situation und in jedem Lebensalter so tödlich mangelt.
Sprechen für die, die keine Sprache haben?
Doch kann ein Dichter überhaupt im Namen anderer sprechen, im Namen jener, die keine Sprache haben? Inwiefern erlaubt das eigene Trauma, inwieweit erlauben der klassenmäßige und kulturelle Abgrund, dies zu tun? Beziehen wir nicht eine Position des Exotischmachens, wenn wir in den Gesellschaften der nahen, vor allem der sowjetischen Vergangenheit, jenes idealtypische Andere erblicken, das den zeitgenössischen Menschen nur im Bewusstsein seiner Unfehlbarkeit bestärkt, und die diesen zeitgenössischen Menschen letztlich nichts angeht?
Nicht weniger wichtig ist die Frage, ob das Reden von den Katastrophen der Vergangenheit nicht ein Vorwand ist, den wirklich dringenden Problemen auszuweichen: der Globalisierung, die Armut und Reichtum immer weiter auseinandertreten lässt, nicht nur in einem Land, sondern unter Kontinenten; der Gentechnik, die die Klassenungleichheit auf eine physiologische Ebene zu übertragen droht? Und andererseits: Ist nicht die harte gesellschaftliche Kritik eine Form aggressiven Verstoßens, eine Falle für die Protestenergie, die in die Bekämpfung von Ersatzfeinden gelenkt wird, während die wirklichen weiterhin still und leise, Schritt für Schritt die ganze Welt erobern?
Die bloße Liste erstrangiger und vor allem ethisch prinzipieller Fragen, die sich dem zeitgenössischen Künstler stellen, ist so beschaffen, dass jede Andeutung eines wohlwollenden Glaubens an den Fortschritt des Humanismus auf dem Planeten ihn bestenfalls um ein Jahrhundert zurückwirft in eine Zeit, da die besten „Meister der Feder“ aller europäischen Länder mit ihren volltönenden Meisterwerken die Leser auf das gegenseitige Schlachten vorbereiteten. Und hinter ihnen erheben sich die Titanen der Romantik, die die Größe des Geistes der Völker entdeckten, die sich insbesondere in der Aggression gegen die Nachbarn niederschlägt; die Barden der geographischen Entdeckungen, der kolonialen Eroberungen, die Troubadoure der Kreuzzüge, der religiösen Intoleranz, die Psalmsänger des Bundes zwischen Gott und dem auserwählten Volk, der ethnischen Säuberungen.
Sie alle waren aufrichtig, sie glaubten, dem Guten und dem Menschen zu dienen. Wir glauben das auch. Doch inwieweit dienen wir dem Bösen?
Jahrtausende gehen vorbei, doch in der total veränderten menschlichen Gesellschaft hat der Dichter noch immer dieselbe wacklige Position inne wie sein Vorfahr, der ekstatische Rituale feierte, manchmal mit Menschenopfern, um die bösen Geister günstig zu stimmen und seinen Stamm vor Naturkatastrophen und Hunger zu retten; der flammend das Gemetzel besang, das die Jugend im Nachbardorf veranstaltete, um so ihr Recht auf Frauen und Nachkommen und für ihre Nachkommen das Lebensrecht zu behaupten; der mit einem opulenten Begräbnisritual dem allmächtigen Triumph des Todes eine Grenze zog.
Aus dem Russischen von Kerstin Holm.
Seine Dichtung beschäftigt sich vornehmlich mit tragischen Gegenständen: mit Stalins Grossem Terror, mit der Hungersnot während der Leningrader Blockade und mit dem Holocaust. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Typografie: Sawjalow setzt bewusst alte Schrifttypen, Grossschreibung, Kursivschrift und Flattersatz ein, um die verschiedenen Stimmen seiner Protagonisten zu unterscheiden. Wahrscheinlich muss man Sergei Sawjalow viel eher als Komponisten und nicht so sehr als Dichter bezeichnen. Seine «Sowjetischen Kantaten» hat er jedenfalls auf der Grundlage von Prokofjew- und Schostakowitsch-Oratorien zu einem Wortgesamtkunstwerk gefügt. Ulrich M. Schmidt, Neue Zürcher Zeitung
Aus:VIER GUTE NACHRICHTEN
GUTE NACHRICHT VON DEN ERSJANEN
1.
Und es ging Ineschkaipas nach allen Städten und Siedlungen Prialatyriens, er sprach in ihren Schulen, und in ihren beruflich-technischen Lehranstalten und Kulturhäusern, und er tat gute Nachrichten kund über die nahende Unabhängigkeit und heilte jegliche Krankheiten und Gebrechen in den Leuten.
1. Vor allem aber im August jenes Jahres, während es unaufhörlich regnete,
2. als der Tschernosem sich nicht nur in Morast verwandelt hatte, sondern in Schlick und Schlamm;
3. als die Straße hinter der Tschaunse (damals noch kein Asphalt – nur Teer auf Schotter) sogar irgendwie anders roch;
4. und in der Atjaschewer Kirche (die ganze Sowjetzeit über waren da Gottesdienste) – blaue Holzzwiebel mit bescheuerten Goldsternchen –
5. am Eliastag die alten Weiber der Mordwinen ohne die sonstige Inbrunst beteten;
6. und die abgerissenen Dorfsäufer, und die in den Ferien aus Saransk gekommenen Mädel, die dort unvermeidlich auf dem Pfad der Verderbnis irrten,
7. und eine aus irgendeiner Bruchbude angetrottete Missgestalt mit schlotterndem, riesigem Schädel
8. versuchten, sich in Erwartung Seiner unter den Überdachungen der Bushaltestellen vor Nässe und Wind zu verstecken.
Und als Er die Volksscharen sah, wurde er von Mitleid ergriffen, denn sie waren geschunden und hatten keinerlei Mitgefühl füreinander.
2.
Und das Gerede über Ihn breitete sich überall in der Mordwinischen ASSR aus, und die Vertreter der nationalen Intelligenz schrien: „Der ist gekommen und behauptet – er sei der Sohn der Ersjanen, dabei frisst und säuft er selber und ist mit allerlei Dirnen und Diebespack freund?“
1. Klar, es gab viel Gerede über jene seltsame Runde, die damals im August abends, im, wie sie es nannten, „Stadtcafé“ saß –
2. jenem stinkenden Schuppen in Ardatow, gleich neben der niemals abgebauten Festtribüne aus vollgekritzeltem Sperrholz;
3. sie alle wirkten gequält und zermürbt, oder, wie die Dichter sagen, werktätig und erschöpft;
4. sie aßen, ohne die Hände zu waschen, tranken Wodka, stierten finster vor sich hin und weigerten sich, russisch zu sprechen;
5. das heimische Gesocks (einer von denen schwärzte sie später bei den Bullen an) zog sich vor Schreck unter die Sonnenschirme am Fluss zurück;
6. sie rauchten Papirossy (der Marke „Sewer“, es hieß, die würden nicht so schnell durchweichen), fluchten infam und drohten, allen die Eier zu polieren.
Die Bullen aber hatten eine Besprechung gegen Ihn, wie Er zu vernichten sei. Doch Ineschkaipas zog fort, als er davon erfuhr, und das Volk folgte ihm in Scharen, und er heilte sie alle.
GUTE NACHRICHT VON DEN MOKSCHANEN
1.
Darauf zog er durch die mokschanischen Städte und Siedlungen, und mit ihm die Zwölf und einige Frauenspersonen, die ihnen zu Diensten waren mit ihren Leibern und ihrem Besitz.
1. Und da brach der Frühling ein, und es gab in jener Gegend eine nie gesehene Flut:
2. als sei das Warme Meer, nach dem, wie die Alten erzählten, Injasor Tjuschtjan gesucht hatte, selbst über seinen Samen gekommen.
3. Und das Dorf Mokschtrwa (auf Russisch Sand-Kanakowo), wo sie sich aufhielten während der Flut, verwandelte sich in eine Insel.
4. Und die Kinder („Lasst sie! Hindert sie nicht daran, zu Mir zu kommen!“, sprach ER) wurden in Motorkähnen zur Schule nach Kondorowka gefahren.
5. Und über dem Wasser ragten kahl die Kronen der Eichen, und im Gestrüpp der Weiden hing noch immer gefrorener Harsch.
6. Und die ganze Woche, die sie da waren, blendete die Sonne die Sehenden und betäubte die Hörenden,
7. und wenn in den landwirtschaftlichen Betrieben mal nicht die Melktechnik ratterte, herrschte sogar so etwas wie Stille.
8. Und weil das Wasser einfach nicht fiel, knackten sie am Sonnabend zu Beginn der dritten Nachtwache das Schloss am Nachbarkahn; Er aber war nicht dabei.
In der vierten Nachtwache aber war Ozjuschkaibas bei ihnen, und kam auf dem Wasser.
2.
Dann eines Tages kommt Er mit Seinen Jüngern zum Saransker Bahnhof und sagt ihnen: Fahren wir hinauf ins Suraland. Und sie erstanden Karten für die dritte Klasse und fuhren los.
1. Und es war 4.15 Uhr nachts, und der Reisezug Nr. 669 von Gorki nach Pensa hatte nur 20 Minuten Verspätung.
2. Und während ihrer Bahnreise fiel Er in Schlaf. Draußen aber kam ein heftiger Schneesturm auf; zum Morgen dann war alles wieder still, jedoch so kalt,
3. dass, als Er in Pensa ausstieg, die Stadt gänzlich zugeschneit war, und der Platz vor der Bezirksleitung der KPdSU eine einzige Eiswüste, darauf lief ein Wachposten hin und her,
4. und im Morgengrauen ging Er hoch ins alte Stadtviertel, ohne sich vor dem Wind zu ducken, in den Herbstmantel zu mummen und ohne Mütze,
5. über den Schornsteinen der Bretterbuden aber standen gewaltig die Rauchsäulen.
6. Und wie sie da gingen, krochen aus den Gassen die Kranken und Elenden heraus, und man führte die Blinden und trug die Gelähmten,
7. und in der Grünanlage vor der Lehranstalt namens Konstantin Apollonowitsch Sawitzky umringte Ihn schon die Menge, und Er sprach zu ihnen auf Mokschanisch,
8. und lehrte sie ebenda, bei Wind und Frost, und da niemand Ihn verstand, begann Er die zu ihm Gekommenen und zu ihm Geführten zu berühren,
9. und er heilte sie alle. Und seine Jünger traten zu Ihm und sagten: Wozu schweigst du, Ozjasor?
10. Er aber gab zur Antwort: Ich berührte sie, weil ihnen die Sprache fehlte, um mit ihnen zu sprechen,
11. und habe Wunder vollbracht, weil es an Einsichten fehlte für ihre Köpfe.
Denn verroht ist die Natur dieser Menschen.
GUTE NACHRICHT VON DEN ERSJANEN
1.
Und es ging Ineschkaipas nach allen Städten und Siedlungen Prialatyriens, er sprach in ihren Schulen, und in ihren beruflich-technischen Lehranstalten und Kulturhäusern, und er tat gute Nachrichten kund über die nahende Unabhängigkeit und heilte jegliche Krankheiten und Gebrechen in den Leuten.
1. Vor allem aber im August jenes Jahres, während es unaufhörlich regnete,
2. als der Tschernosem sich nicht nur in Morast verwandelt hatte, sondern in Schlick und Schlamm;
3. als die Straße hinter der Tschaunse (damals noch kein Asphalt – nur Teer auf Schotter) sogar irgendwie anders roch;
4. und in der Atjaschewer Kirche (die ganze Sowjetzeit über waren da Gottesdienste) – blaue Holzzwiebel mit bescheuerten Goldsternchen –
5. am Eliastag die alten Weiber der Mordwinen ohne die sonstige Inbrunst beteten;
6. und die abgerissenen Dorfsäufer, und die in den Ferien aus Saransk gekommenen Mädel, die dort unvermeidlich auf dem Pfad der Verderbnis irrten,
7. und eine aus irgendeiner Bruchbude angetrottete Missgestalt mit schlotterndem, riesigem Schädel
8. versuchten, sich in Erwartung Seiner unter den Überdachungen der Bushaltestellen vor Nässe und Wind zu verstecken.
Und als Er die Volksscharen sah, wurde er von Mitleid ergriffen, denn sie waren geschunden und hatten keinerlei Mitgefühl füreinander.
2.
Und das Gerede über Ihn breitete sich überall in der Mordwinischen ASSR aus, und die Vertreter der nationalen Intelligenz schrien: „Der ist gekommen und behauptet – er sei der Sohn der Ersjanen, dabei frisst und säuft er selber und ist mit allerlei Dirnen und Diebespack freund?“
1. Klar, es gab viel Gerede über jene seltsame Runde, die damals im August abends, im, wie sie es nannten, „Stadtcafé“ saß –
2. jenem stinkenden Schuppen in Ardatow, gleich neben der niemals abgebauten Festtribüne aus vollgekritzeltem Sperrholz;
3. sie alle wirkten gequält und zermürbt, oder, wie die Dichter sagen, werktätig und erschöpft;
4. sie aßen, ohne die Hände zu waschen, tranken Wodka, stierten finster vor sich hin und weigerten sich, russisch zu sprechen;
5. das heimische Gesocks (einer von denen schwärzte sie später bei den Bullen an) zog sich vor Schreck unter die Sonnenschirme am Fluss zurück;
6. sie rauchten Papirossy (der Marke „Sewer“, es hieß, die würden nicht so schnell durchweichen), fluchten infam und drohten, allen die Eier zu polieren.
Die Bullen aber hatten eine Besprechung gegen Ihn, wie Er zu vernichten sei. Doch Ineschkaipas zog fort, als er davon erfuhr, und das Volk folgte ihm in Scharen, und er heilte sie alle.
GUTE NACHRICHT VON DEN MOKSCHANEN
1.
Darauf zog er durch die mokschanischen Städte und Siedlungen, und mit ihm die Zwölf und einige Frauenspersonen, die ihnen zu Diensten waren mit ihren Leibern und ihrem Besitz.
1. Und da brach der Frühling ein, und es gab in jener Gegend eine nie gesehene Flut:
2. als sei das Warme Meer, nach dem, wie die Alten erzählten, Injasor Tjuschtjan gesucht hatte, selbst über seinen Samen gekommen.
3. Und das Dorf Mokschtrwa (auf Russisch Sand-Kanakowo), wo sie sich aufhielten während der Flut, verwandelte sich in eine Insel.
4. Und die Kinder („Lasst sie! Hindert sie nicht daran, zu Mir zu kommen!“, sprach ER) wurden in Motorkähnen zur Schule nach Kondorowka gefahren.
5. Und über dem Wasser ragten kahl die Kronen der Eichen, und im Gestrüpp der Weiden hing noch immer gefrorener Harsch.
6. Und die ganze Woche, die sie da waren, blendete die Sonne die Sehenden und betäubte die Hörenden,
7. und wenn in den landwirtschaftlichen Betrieben mal nicht die Melktechnik ratterte, herrschte sogar so etwas wie Stille.
8. Und weil das Wasser einfach nicht fiel, knackten sie am Sonnabend zu Beginn der dritten Nachtwache das Schloss am Nachbarkahn; Er aber war nicht dabei.
In der vierten Nachtwache aber war Ozjuschkaibas bei ihnen, und kam auf dem Wasser.
2.
Dann eines Tages kommt Er mit Seinen Jüngern zum Saransker Bahnhof und sagt ihnen: Fahren wir hinauf ins Suraland. Und sie erstanden Karten für die dritte Klasse und fuhren los.
1. Und es war 4.15 Uhr nachts, und der Reisezug Nr. 669 von Gorki nach Pensa hatte nur 20 Minuten Verspätung.
2. Und während ihrer Bahnreise fiel Er in Schlaf. Draußen aber kam ein heftiger Schneesturm auf; zum Morgen dann war alles wieder still, jedoch so kalt,
3. dass, als Er in Pensa ausstieg, die Stadt gänzlich zugeschneit war, und der Platz vor der Bezirksleitung der KPdSU eine einzige Eiswüste, darauf lief ein Wachposten hin und her,
4. und im Morgengrauen ging Er hoch ins alte Stadtviertel, ohne sich vor dem Wind zu ducken, in den Herbstmantel zu mummen und ohne Mütze,
5. über den Schornsteinen der Bretterbuden aber standen gewaltig die Rauchsäulen.
6. Und wie sie da gingen, krochen aus den Gassen die Kranken und Elenden heraus, und man führte die Blinden und trug die Gelähmten,
7. und in der Grünanlage vor der Lehranstalt namens Konstantin Apollonowitsch Sawitzky umringte Ihn schon die Menge, und Er sprach zu ihnen auf Mokschanisch,
8. und lehrte sie ebenda, bei Wind und Frost, und da niemand Ihn verstand, begann Er die zu ihm Gekommenen und zu ihm Geführten zu berühren,
9. und er heilte sie alle. Und seine Jünger traten zu Ihm und sagten: Wozu schweigst du, Ozjasor?
10. Er aber gab zur Antwort: Ich berührte sie, weil ihnen die Sprache fehlte, um mit ihnen zu sprechen,
11. und habe Wunder vollbracht, weil es an Einsichten fehlte für ihre Köpfe.
Denn verroht ist die Natur dieser Menschen.
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Dieser Artikel wird voraussichtlich ab dem Donnerstag, 1. Februar 2024 lieferbar sein.