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ThĂĽmler, Walter - 24 Portraits

ISBN:
978-3-86660-297-7
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Prosa

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Nach „Eric und Andere“ legt Walter Thümler hier mit einer Sammlung von vierundzwanzig Por­traits seinen zweiten Band Erzählprosa vor. Dieser besteht aus zumeist kurzen situativen Darstellun­gen in Selbstzeugnissen, Monologen, Dialogen und Draufsichten. Die Protagonisten sind z.B. Leute wie Yasin, der Dschihadist; wie Banoub, der Flüchtling aus Syrien; Carsten, der Strafrichter; Hen­rik, der Humorist; André, der sich der digitalen Revolution verschließt; Christine und Edgar, die als Hochbetagte der Einsamkeit entkommen wollen und noch einmal die Zärtlichkeit entdecken. Es entstehen Bilder einer Ausstellung des Menschlichen-Allzumenschlichen, ein Panoptikum der Zeit­genossenschaft quer durch die sozialen Schichten und Lebensalter hindurch. Grundstimmung ist das Prekäre. Die Protagonisten versuchen selbstgewählten und gesellschaftlich aufoktroyierten Um­klammerungen zu entkommen oder auf schicksalhafte Ereignisse zu reagieren. Mit diesen Portraits lädt der Autor ein, einen anderen Menschen bei den Fällen und Unfällen seines Lebens zu begleiten und vielleicht die Erfahrung zu machen: Der andere, das könnte auch ich sein.

Walter Thümler: geb. 1955 in Oldenburg, lebt seit 2014 – nach langjährigen Aufenthalten in München und Berlin – in einem Dorf bei Wittenberge/Elbe. Er hat bisher sechs Gedichtbände veröffentlicht, zwei Bücher Sentenzen zu Religion, Kunst und Philosophie, einen Band Erzählprosa sowie einen Band poetologischer Notizen. In seiner Übersetzung erschienen im Leipziger Literaturverlag die Gedichtbände Immer anders auf die Erde von Gennadij Ajgi und Von nun an des Pulitzer Prize-Trägers C.K Williams.

Leseprobe:

Agnes

Kürzlich riefen mich meine Eltern ins Wohnzimmer – ich hörte gerade die neue CD von „Gentleman“. Mutter sagte, „wir haben eine Überraschung für dich.“ „Oh toll, ich bin gleich unten.“ Vater hatte den Beamer aufgebaut und saß auf dem Sessel. Das bedeutete Filmabend. „Du bist letzte Woche sechzehn geworden. Wir wollen dir ein paar Aufnahmen aus deiner Kindheit, frühen Kindheit zeigen“, verkündet Vater. „Gibt's da welche, die ich noch nicht ken­ne?“, frage ich verwundert. „Ja, tatsächlich. Komm, setz dich aufs Sofa. Mama holt noch was zum Knabbern.“ „Du warst ganz früh schon ein kleiner Star, musst du wissen“, sagt Vater, „wenn auch ein namenloser“, wirft Mutter lachend ein, als sie mit dem Gebäck hereinkommt. „Na, ihr macht das aber spannend“, antworte ich und pflätze mich aufs Sofa. Vater schaltet den Beamer ein und sagt: „Zuerst kommt eine reine Tonaufnahme. Danach Fotos und Film­chen. Mit einem Knistern beginnt die Tonaufnahme, dann folgt ein Babylachen, in das eine Frauenstimme hineinspricht: „Bis­marck-Apotheke! Mit uns werden Sie wieder gesund und bleiben es.“ Dann ertönt das Ba­bylachen erneut. Ich schaue meine Eltern verblüfft an. „Das bist du, nicht einmal ein Jahr  alt“, versetzt stolz meine Mutter. Die Werbung ist bei Kaufland geschaltet worden und lief dort mehrer Jahre. So früh warst du schon berühmt“. Ich verstum­me auf dem Sofa. Frage mich, was geht hier vor. „Jetzt folgt ein Filmchen, mal sehen, ob du alle darin wiedererkennst“, sagt Vater. 

Ein Farbfilm beginnt und zeigt ein Cabrio, eine Allee entlang fahrend. Dann zoomt die Kame­ra heran und man sieht Vater am Steuer und auf dem Beifah­rersitz unseren Hund Basso. Auf der Rückbank sitzen meine Mutter und ich. Mutter packt ge­rade eine weiße Schokolade aus, bricht einen Riegel davon ab und steckt ihn mir zwi­schen die Finger. Ich beiße sofort hinein und lache. Dann ertönt ein Werbespruch: „Schokola­de, wie sie alle mögen, groß und klein. Mit Schokolade einfach glücklich sein.“ „Da bist du schon drei Jahre alt“, sagt Vater. Mir ist, als würden mir augenblicklich die Beine weggezo­gen. „Und freust du dich nicht über die schöne Aufnahme? Wie süß du gekleidet warst“, sagt Mut­ter. Ich frage: „Hatten wir damals ein Caprio?“ „Nein, das wurde für die Aufnahme ge­stellt“, antwortet Vater. „Ich glaube, ihr gefallen die Aufnahmen nicht“, wendet Vater sich an Mutter. „Ach, sie muss sie erst einmal in Ruhe anschauen. Sie ist einfach überrascht.“ Jetzt folgt ein Foto. „Das hing als Riesenformat neben der Eingangstür von Kaufland“, erklärt Va­ter. Darauf seh ich wieder uns vier: Vater, Mutter, Basso und ich. Ich sitze auf Papas Schul­tern. Unter dem Bild steht: „Hier macht Ein­kaufen soooo richtig Spaß“. „Ich hasse diese Bil­der“, bring ich nur schluchzend hervor. „Wer hat euch erlaubt, das mit mir zu machen?“ „Nun mal langsam, Agnes“, hakt Mutter ein. „Was gefällt dir denn daran nicht? Sind doch schöner Bilder. Wir haben damals als Familie von sehr kleinem Geld gelebt, mussten uns irgendwie über Wasser halten. Da hat Vater das Casting-Ge­such gelesen“.

„Und was ist mit der Ba­by-Aufnahme, meinem Lachen?“ frage ich empört. „Ach, das kann doch von jedem beliebigen Kind sein“, entgegnet Mutter. „Tut es aber nicht“, antworte ich ver­letzt. „Stefan, jetzt haben wir's doch falsch gemacht. Und wir dachten“, wendet Mutter sich mir zu, „du wür­dest dich freuen, wärest stolz.“ „In diesen Werbespots eine Rolle zu be­kommen war nicht einfach. Es gab ein stren­ges Casting“, unterstreicht Vater. „Mama und ich verstehen nicht, was du hast“. „Und wie viele Aufnahmen gibt es noch? Auf jeden Fall möch­te ich keine wei­teren sehen“, sage ich. „Aber trotzdem wie viele gibt es noch?“ Va­ter überlegt kurz: „Noch vier“. „Und wofür wer­ben die?“ frage ich. „Eine für den leckeren Obst­saft, den du so gern ge­trunken hast, und noch drei für Autos, prak­tische Familien­wagen.“ “Versteh bit­te, Agnes“, greift Mutter ein, „du soll­test gute Kleidung bekommen und nahrhaftes Essen. Au­ßerdem haben Papa und ich mitge­spielt. Nur bei der Apothekenwerbung warst du allein. Aber da ging's nur um deine Stimme.“ „Genau“, pflichtet Vater bei.

„Ich dach­te, in Deutschland sei Kinderarbeit verboten“, trumpfe ich traurig auf. „Willst du das Arbeit nennen? Achte mal dar­auf“, sagt Vater, „ wie viele Kin­der bei Fil­men, Fernseh- und Plakat­werbung mitmachen. Es gibt Sachen, die speziell für Kin­der gefer­tigt werden. Wie soll man die ohne Kinder bewer­ben?“ „Ihr habt mich ohne mein Einver­ständnis für Werbung be­nutzt! Und was war später, als ich Bewusstsein hatte, brauchtet ihr da die Werbeeinnahmen nicht mehr?“ „Ja, Agnes, so war es“, antwortet Mutter, „da reichte das Geld, weil ich Arbeit ange­nommen hab und du im Kindergarten warst. Auf jeden Fall wollten Papa und ich dir heu­te nicht weh­tun, sondern dir eine Freude bereiten.“ „Mama, ver­steh doch. Ihr wart in dem Wer­beclip in ei­ner Rolle, ich aber war ich selber, ohne jeden Schutz. Ich bin traurig, nein, schlimmer.“ „Wir reden morgen weiter“, sagt Va­ter.

In­dessen hat er den Beamer ausgestellt und die DVD entnommen. „Die werde ich vernich­ten“, sage ich zu mir selbst. „In Deutsch­land ist Kinderarbeit verboten“, wiederhole ich. „Du ver­stehst nicht, Agnes“, sagt Vater. „Kin­derarbeit bedeutet, wenn Kinder in Mi­nen schuf­ten oder Mädchen auf den Strich ge­schickt werden. „Diese Kinder konnten aber im Ge­gensatz zu mir in eine Rolle schlüpfen, wenn auch in eine grausame“, bring ich noch leise hervor und fliehe auf mein Zimmer.

Dieser Artikel wird voraussichtlich ab dem Freitag, 28. April 2023 lieferbar sein.
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