Gedichte, zweisprachig
Aus dem Portugiesischen von Markus Sahr
Mit 22 Graphiken von Hein Semke
Teresa Baltés Gedichte raunen nicht, sie benennen: Alltägliches, Vergängliches, Augenblicke – das Warten auf die Metro, einen Start vom Flughafen JFK, einen Tag in den sechziger Jahren an der Elbe, aber auch das Elend der portugiesischen Landbevölkerung im Alentejo vor der Nelkenrevolution im April 1974. Sie registrieren Befindlichkeiten, erinnern, stellen Fragen, wenden sich an ein Du. Ihr Blick ist eindringlich und diskret zugleich, von einem historischen Bewußtsein begleitet, ihr Urteil sachlich, nüchtern, auf der Suche nach einem Ausweg, noch mitten in der Ausweglosigkeit.
Poesia quase toda (wörtlich: Poesie, fast alles), der 2005 in Porto erschienene Band, aus dem hier eine Auswahl getroffen wurde, vereint Gedichte Teresa Baltés seit 1962, aus dem schmalen Buch Jogos (Spiele), bis zu Poemas dos últimos anos (Gedichte aus den letzten Jahren) von 1990. Die vorliegende Anthologie ergänzt diese Sammlung um Gedichte seit 2005, die im Original zum Teil auch auf Deutsch entstanden, um Veröffentlichungen in Zeitschriften und um Unveröffentlichtes.
Viele von Teresa Baltés Gedichten haben einen Bezug zu Deutschland. Sei es explizit, indem sie Orte wie Lühe an der Elbe oder Donaueschingen benennen, sei es implizit, wo es um Eindrücke in Museen in München oder Berlin geht. Oder dort, wo wir uns das angesprochene Du als Teresa Baltés jahrzehntelangen Lebensgefährten vorstellen können, den deutschen Bildhauer Hein Semke, der seit 1932 nahezu ununterbrochen in Portugal lebte und arbeitete.
Teresa Balté: geb. 1942 in Lissabon, Studium der Germanistik und Musik in Lissabon, Hamburg und Chicago, Lehrtätigkeit an der ELTE, Budapest, und an der UNL, Lissabon, Übersetzerin und Autorin.
Markus Sahr: geb. 1962 in Mainz, ist freiberuflicher Übersetzer und Autor, war freier Journalist in Berlin, seit 2020 hat er einen Lehrauftrag für besondere Aufgaben am Fachbereich Translationswissenschaft der Universität Mainz in Germersheim.
Leseprobe:
O sol arde na boca
o cigarro no peito
mas já passou o tempo
ou talvez seja cedo
a lua é nosso espelho
a primavera volta
onde ficou a outra
constelação perfeita
sem cadência de estrelas
a música das esferas
continua secreta
somos um signo apenas
die Zigarette in der Brust
doch die Zeit ist schon vorüber
oder vielleicht ist es zu früh
der Mond ist unser Spiegel
der Frühling kehrt wieder
wo verweilt die andere
vollkommene Konstellation
ohne fallende Sterne
die Musik der Sphären
bleibt ein Geheimnis
wir sind ein Zeichen nur
PERSPECTIVA DE OFÉLIA
Debaixo das árvores
há cascatas e mulheres graves
então pesou o negro dos cabelos
folhas desceram
plátanos pousaram
na mistura a carícia de prata
longe da margem para além do planalto
o pranto oval bojo inverso de barco
imaginou a víscera do lago
pairou a meio deslaçou a cintura
mergulhou anca seio perfil costura
a contenção da boca saciada
à superfície ligeiramente coroa
a flor solene profundamente opaca
OPHELIAS PERSPEKTIVE
Unter den Bäumen
Kaskaden und ernste Frauen
schwer wog dann das Schwarz der Haare
Blätter sanken hinab
Platanen ruhten auf dem Wasser
in der Mischung die Liebkosung aus Silber
weit weg vom Ufer jenseits der Hochebene
die ovale Wehklage, umgekippter Bootskörper,
erdichtete das Innerste des Sees
schwebte in der Mitte löste den Gürtel
überflutete Hüfte Brust Profil Naht
die Zurückhaltung des gesättigten Munds
an der Oberfläche leicht eine Krone
die feierliche Blüte tief undurchdringlich
AO AMIGO A TI POSSIVELMENTE
Se quiseres podes chamar-me chuva
ou mulher ou espelho ou música
podes também chamar-me ventre
cidade lâmina semente
e outros nomes que se guardam
os que se confundem e acusam
os que mais raramente desagravam
verbo infinito podes chamar-me tudo
o que me é devido está no fundo
sem palavra possível que o conforme
dentro o esforço
o que sei
que não entendo
dentro o nome
que cresce com o tempo
e se não pronuncia
nem à morte
se quiseres porém ser mais isento
ao procurares por mim ao conversares
enquanto não inventas o silêncio
nomeia-me maria
DEM FREUND DIR VIELLEICHT
Wenn du willst, kannst du mich Regen nennen
oder Frau oder Spiegel oder Musik
auch Schoß kannst du mich nennen
Stadt Klinge Samen
und andere Namen, die man für sich behält
solche, die man verwechselt und die anklagen
solche, die seltener Milderung schaffen
Verb Unendliches alles darfst du mich nennen
was mir gehörig ist, liegt tief am Grund
ohne mögliches Wort, das ihn erfaßt
innen das Streben
das, von dem ich weiß
daß ich es nicht begreife
innen der Name
der wächst mit der Zeit
und den man nicht ausspricht
nicht mal im Sterben
wenn du aber sachlicher sein willst
wenn du nach mir fragst, dich unterhältst
solange du die Stille nicht erfindest
nenn mich Maria