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Correia, Hélia: TÀnzer im Taumel

ISBN:
978-3-86660-266-3
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Aus dem Portugiesischen von Dania Schüürmann

140 S.

In ihrer Erzählung, die teils einem Langgedicht gleich­kommt, berichtet Hélia Correia von einer Gruppe Flüchtender, die sich durch eine Wüste quälen mit dem Ziel und der Hoffnung, das Meer und danach Europa zu erreichen. Wir erfahren, dass die Gruppe vor namenlosen Schrecken und Gewalt flieht und nur eine ungefähre Richtung, eine vage Hoffnung hat, einen besseren Ort zu erreichen. Europa aber will sie nicht. Auf diesem Leidensweg befreien sich die Frauen der Gruppe aus überkommenen Rollen und werden zu Anführerinnen und Kämpferinnen, die sich ihrer Intuition überlassen und nicht länger den Männern unterordnen wollen. Die Wüstenodyssee ist ein schwerer Weg. Europa werden sie niemals erreichen.

Hélia Correia, Preisträgerin des Prémio Camões, hat mit diesem Buch wieder einen wichtigen Literaturpreis, den Grande Prémio de Romance e Novela der Autoren­vereinigung APE, gewonnen: für einen beein­druckend aktuellen und  zugleich überzeitlich poetischen Roman.

Hélia Correia: geb. 1949 in Lissabon, Vater verfolgt und inhaftiert unter Salazar, Studium der Romanistik und Dramaturgie, seit den 1980er Jahren Romane, Novellen, Theater und Poesie, Auszeichnungen: u.a. 2001 Portuguese PEN Club prize, 2006 Prémio Máxima de Literatura, 2015 Preisträgerin des Prémio Camões, gilt als eine der bedeutendsten Gegenwartsschriftstellerinnen Portugals. 

Dania Schüürmann: geb. 1981 in Münster, Promotion in Lateinamerikanistik, lebt in Berlin und übersetzt aus dem Niederländischen und Portugiesischen.


Leseprobe:

Tänzer im Taumel

 

Was da vorüberweht, besitzt nicht einmal genug Dichte zum Schattenwerfen. Vorüber fliegt es und lässt lediglich den schon grau ge­wordenen Sand traurig werden. Die Erinnerung ist es. Die ver­blichene Erinnerung, gelöst aus den Gehirnen, so fein, so kränklich, dass man sie nicht zu packen bekommt, sie bei der geringsten Berührung zu Boden fällt, zu Staub zerfällt. Neu wird sie be­nannt nach dem Vergessen. Und das Vergessen, es wird ver­gessen, was war.

* * *

Man blickt nicht zurück, sagen die Alten. Man blickt niemals, nie, zurück. Das unterscheidet den Krieg von anderen Arten zu sterben. Man verabschiedet sich manchmal oder nicht. Im Krieg muss das in der Person Befindliche wie Steine vorwärts geschleu­dert werden. Ein jeder wird selbst zu diesem Stein, so dass er keinen Hunger, keine Kälte, keine Angst hat. Der Stein ist das Wunder.

* * *

Schwer wie Steine, doch auch schnell wie Steine, setzen sie sich in Bewegung, die letzten Irrfahrer, ein paar wenige Tage noch vorwärts, die paar wenigen Tage, die sie noch trennen von Kno­chen­musik. Sie setzen sich in Bewegung, die letzten Irrfahrer, prallen aufeinander, stoßen sich ab, kraft ihrer Augen und Ellbogen, jenes Grunzens, das ihnen mehr als das Herz in der Brust vibriert, stoßen sie sich ab, ziehen sie sich an, richten sich streng aus an Mustern animalischer Szenen, Meutenchoreografie. Denn alles, was sie während Jahrhunderten, Tausenden, angehäuft haben, Abstrak­tionen, einen eleganten Überlebensmodus, Gesetze, deren Macht die des Messers aufhebt und es aufklappen lässt, alles war im Handum­drehen in der Luft zu zerreißen, war nur Zierde, ein Jungmädchen­schleier, etwas, was sich Ruchlosigkeit nicht zu wider­setzen weiß.

Jetzt schlafen sie voller Unruhe, ausgeliefert einer dem anderen, zuallererst vertrauend auf die Familienbande, erst danach auf Nach­bar­schaft, wenig vertrauend, wütend auf die eigenen Träume, die das Wachehalten verhindern. Sie fliehen der Heimat. Hatten sie eine Heimat? Immerhin waren sie ein Volk. Denn Heimat entstand in einem Augenblick und verlosch im nächsten. Völker dagegen nicht.

* * *

Begreift die Wanderer als entlassene Wesen, als Wesen schwa­cher Menschlichkeit. Betrachtet ihre Füße, ihr werdet nur mehr Schutzschorf sehen, nur mehr Schwellung und Schmutz. Haben jene Füße jemals getanzt, wurden sie jemals auf baum­wol­lene Decken gebettet, gar geküsst?

Einen Anführer haben sie nicht. Die paar echten Männer ringen nicht mehr um Macht. Sie geizen mit Überbleibseln wie Spucke, prallen Venen, all dem, was Zorn dem Organismus entziehen würde. Und wie was befehligen? Besser warten, auf dass die Nüstern von Nuru, dem Blinden, den sie Voll des Lichtes nennen, eine ungefähre Richtung ausmachen, einen schwachen Geruch nach totem Knorpel, den heiß ersehnten Lufthauch einer Quelle. Das Ziel, soviel wissen sie, ist das Meer und das Jenseits des Meeres. Wie sie den Weg dorthin zurücklegen, fragen sie nicht. Wie man die Pforte zum Paradies öffnet, fragt niemand, bevor man sie denn erblickt.

* * *


Hunger ist demütigender als Versklavung, denkt Tariq. Er be­trach­tet die Verfolgungsjagd von Schlangen und Kindern unter neidvollen Blicken auf die flinken kleinen Füße durch den ein oder anderen im Publikum. Wer blickt, möchte sich nur eines Stück­chens vom Ergebnis dieser Jagd bemächtigen. Während des Tages­ablaufs kommt der Punkt, an dem die Brust zusammenfällt, nicht mehr viele Dinge zur gleichen Zeit beherbergen kann. Ent­weder wird nach Essen verlangt oder um das Leben der Jüngsten gefürch­tet. Die Schlangen haben genieß­bares Fleisch. Aber für alle reicht es nicht. Die Mütter schreien und kratzen jeden, der sich zu nähern wagt. Von den Schlangen tropft das Blut und sie gehen tanzend von Händen zu Mündern.

Tariq trennt lediglich mit seinem gesunden Arm und der Krücke Otter von Jungen. Er ist ein Feigling und sogar die Kinder, die er vor dem Gift gerettet hat, wenden ihr Gesicht ab von ihm.

Die Familienlosen sind aus dem Kreis ausgeschlossen. Nicht etwa, weil ererbtes Blut wesentliche Verhaltensweisen bedingen würde. Einfach nur, weil sich die Menschen nicht aus Liebe aner­kennen, sondern aus ihrer Geschichte der gewöhnlichen Katastro­phen im selben Haus. An Niederkünfte und Niederträchtigkeiten, Ver­brennungen am Herd, einen außergewöhnlich langwierigen Todeskampf, an Initiationen, die nicht gut verliefen und Anlass für gute Laune werden, daran erinnern sie sich. Familienlose haben das nicht vorzuweisen, solche nervösen Anfälle, solches Gelächter, solches Essen, das mit den Fingern aus der Suppenschüssel auf dem gefegten Boden geklaubt wird, alles, wiedererkennbar wie ein Geruch, was in den Köpfen andauert.

Sie bleiben auf Abstand und mit dem schwermütig tänzelnden Spiel ihrer Füße schmeicheln sie sich ein.







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