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Marek Śnieciński

geb. 1958 in Wrocław, Mitorganisator des deutsch-polnischen Projekts “Orpheus“, Stipendiat am Literarischen Colloquium Berlin, zahlreiche Publikationen zu Problemen der Kunst und Fotographie des 20. Jahrhunderts, Übersetzer zeitgenössischer Lyrik und Prosa ins Polnische

Śniecińskis Texte zu lesen, ist gefährlich: Sie verschaffen nicht nur intellektuelle Befriedigung, sondern sinnliche Erfahrung. Die Texte passen sich einerseits dem Atemrhythmus des Lesers an, andererseits bewirken sie, daß sich der Atem ihrem Rhythmus hingibt – eine Prosa, die berauscht wie reifer Wein. Die Verführungskraft dieser Erzählungen steckt in der Wahrnehmung des Lesers, selbst Gegenstand der Lektüre des Autors zu sein. Nicht der Leser beherrscht den Text, sondern der Text den Leser – er hat teil am Mysterium der Existenz in den Worten – ein eigentümlicher Identitätsverlust, vor dem nur die Erzählung selbst zu retten vermag.

Im Leipziger Literaturverlag

Andere Obsessionen. Erzählungen, aus dem Polnischen von Bettina Eberspächer, mit Fotografien von Andrzej P. Bator, LLV 2007

Weitere Veröffentlichungen in deutscher Sprache

Nach-Wort, in: Orpheus versammelt die Geister. Stimmen aus der Mitte Europas, hg. von Peter Gehrisch & Axel Helbig

Stimmen

Hommage an die Sinne
von Dieter Kalka

Wir sind Augen-Menschen, unsere Gedächtniskapazität wird zu achtzig Prozent von visuellen Wahrnehmungen blockiert – überall schreien Plakate und den Rest der Vertaubung macht auditive Berieselung oder schlichter Lärm (das macht zwölf Prozent unserer Gedächtnisrechenleistung aus). Wo bleibt der Rest? Schmecken, Riechen, Tasten? Ein Prozent jeweils. Sniecinski kehrt das um. In seiner Erzählung „Der Sammler der Düfte“ avanciert der olfaktorische Sinn zum einzig existenten. Wird zu Lust- und Überlebensfaktor. Mit dieser Reduktion erreicht Sniecinski eine Intensität, die sich darin mißt, was wir von unserer Umwelt über unsere Sinne erfahren, nein: erleben.

Dabei ist dieser Sinn so flüchtig. Wie die anderen. Nur ist es uns mittels Technik gelungen, einigen Sinnen reproduzierte Anreize zu liefern: Bilder und Töne. Diese Anreize haben sich längst von der realen Ebene abgehoben. Sie sind erfunden, gefälscht, virtuell.

Sniecinskis Erzählweise ist suggestiv. Er bindet den Leser ein, spricht ihn an. Er betört wie eine Blume. Man geht ihm auf den Leim. Sogar gern. Dahinter verbirgt sich die untergründige Ebene, die diesem Sinn allgemein anhaftet: das Dunkle, Unbeherrschbare, schiere Angst: „zuerst konnte sie sich nur schwer gegen all diese Körpermilch, die Cremes und Parfums durchsetzen, aber jetzt ist sie da…“

In „Das Abbeißen der Nabelschnur“ schlägt ein Redner vor der Diplomüberreichung vor:
„Dennoch müßt ihr euren Ekel überwinden und sie in den Mund schieben. Dann solltet ihr sie ein wenig zwischen den Backenzähnen plattdrücken…“ Hier mischt sich Groteske mit Eulenspiegelei und das serviert in einer zuckersüßen Sahneprosa, die bitter nachschmeckt.

Sniecinski begibt sich jeweils tief in sein Erzählthema hinein. Aus einer Wahrnehmung wird ein Drama, aus Spiel Ernst. Kinder spielen. Sie spielen Erhängen und erschrecken Erwachsene, die schreiend davonrennen. Es spricht sich herum und die Polizei sucht nach einem Toten und einem Mörder. Und plötzlich kam es ihnen wirklich so vor, als hätten sie jemanden auf dem Gewissen.

In der längeren Erzählung „Rondo“ findet der Ich-Erzähler eine Papyrusrolle. Er zweifelt an der Echtheit, beginnt das Latein zu übersetzen, wird ein Teil vom Text und lebt selbstvergessen darin. Es wird sein Text. Sein innerer Text, möchte ich sagen, sein Quelltext. Wie jedem Betriebssystem ein Quelltext zugrunde liegt, eine Geheimformel, so braucht der Schriftsteller einen und Sniecinski beschreibt diese Vorgänge in dieser Erzählung, die einerseits so leicht daherkommt, aber mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. Den Quelltext zu publizieren, hieße, sich selbst entschlüsselt preiszugeben. Aber die Lücken sind groß in diesem Fragment. Dabei kommt es nicht auf Vollständigkeit an und die Faszination der leeren Stellen beflügelt die Phantasie. Aber für mich ist Sniecinski gerade mit diesem Text ein reifer Autor geworden.

Die inhaltliche Klammer dieses Buches ist die Obsessivität des Ich-Erzählers. Sniecinski ist Kunstwissenschaftler von Hause aus und sein Bildgedächtnis ergießt sich in den Prosastrom – überall Beschreibungen und Verflechtungen der Wahrnehmungsebenen, die das Erzählte so sinnlich machen.

in: Ostragehege 51, 04-2008

 


Textprobe
aus: Andere Obsessionen

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