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Peter Piek & Michael Goller

Der-mit-dem-Wolf-malt

Der Autor tritt zur Tür herein. Die Doktorin wartet bereits auf ihn. Sie heißt Slawetta. Slawetta Prach-Zoltek.
“Guten Tag.”
Dr. Prach-Zoltek blickt von ihrem Schreibtisch auf und sieht den Autor durch ihre Brille an.
“Guten Tag. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt und wenig Unannehmlichkeiten mit den Formalitäten. Setzen Sie sich bitte.”
“Danke. Es war nicht leicht, einen Konsultationsrequest bestätigt zu bekommen. Die Security ist besonders sorgfältig nach allem, was sich in letzter Zeit ereignet hat.”
Der Autor setzt sich. Auf die rote Couch. Er holt ein A5-Notizbuch aus seiner Tasche. Aus der abgewetzten Ledertasche.
“Stört es Sie, wenn ich rauche?”
“Ich muß Sie bitten, hier nicht zu rauchen. Wir haben strenge Auflagen. Aber wenn Sie wollen, können wir unser Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt auf die Terrasse verlegen.
Sagen Sie mir – warum sind Sie hier?”
“Mein Interesse gilt den beiden von Ihnen betreuten Malern. Die Nachrichten darüber, die an die Öffentlichkeit durchgedrungen sind, waren so widersprüchlich, daß ich hoffe, jetzt etwas Licht in die Angelegenheit bringen zu können. Können Sie mir mehr über die beiden Patienten sagen?”
“Es ist so: Die beiden Patienten sind keine Patienten im eigentlichen Sinne. Das bedeutet, daß sie nicht behandelt werden. Sie stehen vielmehr in unserer Obhut. Und das auch erst seit kurzer Zeit. Aber wir haben eine Menge Informationen verschiedener Quellen über sie, die wir soeben bearbeiten.”
Dr. Prach-Zoltek steht von ihrem Schreibtisch auf. Sie ist groß gewachsen, von einer schlanken Weiblichkeit, die zu einer gewissen, ihr ebenfalls eigenen akademischen Strenge kontrastiert. Ihr glattes dunkles Haar trägt sie aufgesteckt. Sie setzt sich dem Autor gegenüber in einen Sessel und legt einen Aktenordner bedeutungsvoll vor sich. Der Autor fühlt seine Neugierde wachsen.
Der Ordner mit möglicherweise allen Antworten liegt direkt vor ihm. Auf dem kleinen Tisch, der mit seinem funktionalen Design und der matten Metalloberfläche die rote Couch wie auch den Sessel, zu einer Botschaft aus einer fernen privaten Welt verfremdet.
“Ist es möglich, diese Informationen einzusehen? Aus welchen Quellen stammen sie?”
Der Autor, sie muß es zugeben, hat eine frappierende Offenheit, die sicher manchmal etwas linkisch wirkt. Sie schaut ihn musternd an: Das vergeistigte Profil, die wahrscheinlich in tausend mehr oder weniger wichtigen Geschichten versunkenen Augen – nicht sofort sympathisch, etwas introvertiert.
“Nun, ein Einsehen der Informationen ist erst nach einer ausführlichen Bearbeitung und einer Freigabe unsererseits möglich. Es ist allerdings damit zu rechnen, daß nach und nach alle vorhandenen Informationen der Öffentlichkeit weitergegeben werden. Man ist ja auch nach wie vor auf Informationssuche.”
Sie trinkt einen Schluck Wasser aus einem schlanken Glas. Die Form ihres Mundes zeichnet sich durch am Glas klebenden Lippenstift ab.
Sie spürt schon so etwas wie das Bedürfnis, den neugierigen Fragen auszuweichen. Schließlich sind ihre Erfahrungen mit den schreibenden Vertretern der Öffentlichkeit nicht die besten. Sie seufzt innerlich und macht sich bewußt, daß es sich um eine Angelegenheit von überindividuellen oder besser hyperindividuellen Interesse handelt.
“Zu Ihrer zweiten Frage: Die Quellen sind verschieden. Größtenteils aber digital und kodiert. Und ehrlich gesagt ist die genaue Herkunft dieser Quellen nicht gesichert. Es kursieren eine Menge Gerüchte. Andererseits gibt es Augenzeugenberichte, Textfragmente der Maler selbst und auch wenige Fotos.”
“Befinden sich die gesicherten Textfragmente in diesem Ordner?”
“Ja.”
Der Autor zögert etwas, beschließt dann, das belauernde Spielchen aufzugeben. Er nimmt eine Kopie aus seinem Notizbuch, faltet sie auseinander. Es ist die Kopie einer alten Handschrift.
“Was mich eigentlich stutzig machte und mich bewegt hat, mit den Malern Kontakt aufzunehmen, war diese Handschrift aus dem Universitätsarchiv. Es hat vielleicht irgendwas damit zu tun. Was meinen Sie?”
Dr. Prach-Zoltek nimmt die Kopie und fängt an, die kursive Handschrift zu entziffern:

In der Zeit, als die weißen Eroberer sich anschickten, das Land der Prärien und Büffel zu besetzen, lebte ein seltsamer Mann einsiedlerisch im Grasland. Neben einem Felsmassiv hatte er ein Zelt aufgeschlagen und er war bereits so lange dort, daß niemand sagen konnte, woher er kam und ob er indianischer oder europäischer Herkunft war.

(aus: Das Malbuch, © ERATA 2006)

 

 


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