Esther Mohnweg
Teil I
STEIN
Es ist Samstag, der neunte März. Meine Köpfe in Öl, zum Kopfsalat arrangiert,
hängen bei Harry im Foyer. Welchen Film er gerade zeigt, daran kann ich
mich nicht erinnern. Er zeigt unbekannte, kleine Filme. Große, vergessene.
Das Kino, seit Jahren unrenoviert, liegt abseits, bietet weder Schnickschnack
noch Getöse und wird von Kennern, Einsamen und Verirrten besucht. Harry
ist ein Mensch mit einer Leidenschaft.
Die Köpfe sind bunt. Sie senden stumme Farbschreie aus, ihre Münder sind
sämtlich geschlossen. Vorwurfsvolle, aggressive Blicke aus großen Augen,
kleine, versiegelte Lippen. Aus den Haaren wachsen Tiere. Ein Kopf wird
Fisch, einer Vogel, ein anderer zum Igel. Ein Igel im Winterschlaf, im Kopf.
Auf dem Ausstellungsplakat lasse ich einen der Köpfe zu meinem werden.
Ich weiß, die Köpfe werden dir zu laut sein, zu unausgeglichen, sicher zu
laienhaft. Doch du bist kein Snob und willst sie sehen. Das kommt unverhofft.
Der Lois und ich, sagst du, wir haben uns überlegt, daß wir deine Ausstellung
ansehen wollen.
Der Lois ist ein guter Schutz, eine Pufferzone. Wo er hinkommt, nimmt er
den Raum in Besitz, macht sich zur Hauptperson und füllt die Luft mit so
viel Schall, daß man sich daran anlehnen kann.
Wir warten also auf den Lois, draußen, auf der Straße, du hältst dein Fahrrad
lange fest, bis du es an einen Baum lehnst und absperrst. Das Reden fällt
schwer, der Lois fehlt empfindlich. Wir reden über das Warten auf den Lois,
der sich natürlich verspätet. Als keine Sätze mehr da sind, gehen wir zu
Harry ins Foyer hinein.
Am Tresen wird es nicht leichter, obwohl jetzt die Köpfe mir helfen könnten.
Wahrscheinlich trinken wir Bier. Sicher ist, daß ich keine Frage stelle.
Wir sitzen am Tresen und trinken Bier, es könnte irgendwo sein. Denn der
Abend, der Ausstellungsbesuch, ist noch nicht offiziell eröffnet, noch fehlt
der Lois.
Dann kommt er, läuft ein wie ein schnaubendes Zirkuspferd, begrüßt uns,
sein Publikum, lautstark und herzlich, und sofort liegt die Spannung nicht
mehr im Raum, sondern konzentriert sich auf einen Punkt, sofort spürt man
keine Unbeholfenheit mehr, sondern behilft sich aufatmend mit der laufenden
Vorstellung.
In deren Schatten kann ich dich jetzt beobachten. Und, nach außen hin, dem
Lois dabei zusehen, wie er auftrumpft, salbadert, seinen Loiskörper vorführt
und in Szene setzt wie Dompteur und Paradepferd in einem, wie er sich angenehm
breitmacht und schnell beim dritten Bier ist.
Der Lois ist so groß wie du. Mir wird wohlig zumute. Ich bin die kleine
Frau, die mit zwei Hünen unterwegs ist. Mir kann nichts geschehen.
Unter den Scherzen, frischen Grobheiten und inspirierten Gedankensprüngen,
die Lois anbietet und mit uns tauscht, krieche ich unbemerkt in einem Tunnel
zu dir.
Du siehst dir die Bilder an. Siehst sie dir genau an, einzeln, langsam.
Es fällt kein Wort darüber, aber ich sehe, daß du hinsiehst.
Ich mache deine Augen zu meinen und bin stolz auf die Köpfe. Man kann sie
ansehen. Ernsthaft.
In diese Gegend werde ich ziehen. Der Umzugstag ist in einer Woche. Ich
werde hierher ziehen, und zu Fuß zu Harry spazieren können, wenn mir abends
nach guter Gesellschaft sein würde. Der heutige Abend ist ein guter Auftakt.
Wir beschließen, aufzubrechen. Du schlägst eine Kneipe in der Nähe vor, das wohlgemut, dort sitzen wir bis vier Uhr nachts. Lois liegt, er beansprucht eine Holzbank für sich. Zwei Pils bei Harry, fünf Helle im wohlgemut, für mich komme ich auf sieben Bier, bei den Herren dürften es mehr sein.
Draußen dann, du sperrst dein Rad auf, Lois singt, du fragst, ob wir beide am Nachmittag zu dir ins Atelier kommen wollen. Lois blickt ins Ungewisse und lehnt ab. Am Sonntag müsse er beten. Selbst sturztrunken beweist er so viel Intuition, daß ich plötzlich weiß, weshalb ich ihn, diesen egomanischen Schmierenkomödianten, so sehr ins Herz geschlossen habe. Ich nehme deine Einladung an.
aus: Esther Mohnweg, Winterschlaf, © LLV 2010