Christoph Meckel
Geboren 1935 in Berlin. Seine Jugend verbrachte er in Freiburg im Breisgau, wo er das Gymnasium bis zur Unterprima besuchte. Über seinen Vater lernte er Peter Huchel und Hans Fallada kennen. 1954/55 studierte er Graphik an der Kunstakademie in Freiburg im Breisgau, 1956 an der Kunstakademie in München. Seit 1956 ist er parallel als Schriftsteller und Graphiker tätig. Er unternahm ausgedehnte Reisen durch Europa, Afrika und Amerika und lebte in Oetingen im Markgräflerland, in Berlin, in Südfrankreich und in der Toskana.Sein graphisches Werk wurde in zahlreichen Ausstellungen präsentiert. Meckel war bis zu seinem Austritt 1997 Mitglied des P.E.N-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Er ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.
Veröffentlichung im Leipziger Literaturverlag
Passage - Ein Zyklus der Weltkomödie, 2006 - Künstlerbuch
Weitere Veröffentlichungen (Auswahl)
Tarnkappe, München, 1956; Hotel
für Schlafwandler, Stierstadt im Taunus, 1958; Moël,
Hamburg, 1959;
Nebelhörner, Stuttgart, 1959; Der
Krieg, Hamburg, 1960; Manifest der Toten,
Stierstadt im Taunus, 1960;
Die Stadt, Hamburg, 1960; Welttheater,
Hamburg, 1960; Im Land der Umbramauten, Stuttgart,
1961; Der Turm, Hamburg, 1961; Wildnisse,
Frankfurt a. M., 1962; Dunkler Sommer und Musikantenknochen,
Berlin, 1964; Gwili und Punk, Groningen, 1965;
Das Meer, München, 1965; Tullipan,
Berlin, 1965; Die Savannen, Bonn, 1966; Die
Noticen des Feuerwerkers Christopher Magalan, Berlin, 1966; Bei
Lebzeiten zu singen, Berlin, 1967; Die Dummheit
liefert uns ans Messer, Berlin, 1967 (zusammen mit Volker von Törne);
Der glückliche Magier, Baden-Baden, 1967; Der
Wind, der dich weckt, der Wind im Garten, Neuwied, 1967; In
der Tinte, Berlin, 1968; Amüsierpapiere oder Bilder
aus Phantasus' Bauchladen, München, 1969; Die
Balladen des Thomas Balkan, Berlin, 1969; Bilderbotschaften,
München, 1969; Gedichte aus Biafra, Berlin, 1969;
Jasnados Nachtlied, Freiburg, 1969; Eine
Seite aus dem Paradiesbuch, Berlin, 1969; Kraut
und Gehilfe, Berlin-Friedenau, 1970; Zettelphilipp,
Berlin, 1970; Die Geschichte der Geschichten,
München, 1971; Lieder aus dem Dreckloch, Stierstadt
im Taunus, 1972; Verschiedene Tätigkeiten, Stuttgart,
1972; Bockshorn, München, 1973; Kranich,
Düsseldorf, 1973; Wen es angeht, Düsseldorf, 1974;
Wer viel fragt, kriegt viel gesagt, München, 1974
(zusammen mit Alfons Schweiggert); Flaschenpost für eine
Sintflut, Berlin, 1975; Die Gestalt am Ende des
Grundstücks, Düsseldorf, 1975; Nachtessen,
Berlin, 1975; Der Strom, Leverkusen, 1976; Liebesgedichte,
Berlin, 1977; Erinnerung an Johannes Bobrowski,
Düsseldorf, 1978; Licht, München, 1978; Über
das Fragmentarische, Mainz, 1978; Hab aufgelesen
meine Spuren, Berlin, 1979; Säure, Düsseldorf,
1979; Das Dings da, Düsseldorf, 1980; Die
Sachen der Liebe, Berlin, 1980; Suchbild: über
meinen Vater, Düsseldorf, 1980; Tunifers Erinnerungen
und andere Erzählungen, Frankfurt am Main, 1980; Das
bucklicht Männlein, Frankfurt am Main, 1981; Jedes
Wort hat die Chance einen Anfang zu machen, München, 1981; Nachricht
für Baratynski, München, 1981; Anabasis,
München, 1982; Der wahre Muftoni, München, 1982;
Ein roter Faden, München, 1983; Sein
Herz ist sein Rücken, Karlsruhe, 1983; Zeichnungen
und Bilder, Berlin, 1983; Jahreszeiten,
Berlin, 1984; Souterrain, München, 1984; Bericht
zur Entstehung einer Weltkomödie, München, 1985; Plunder,
München, 1986; Sieben Blätter für Monsieur Bernstein,
Stuttgart, 1986; Anzahlung auf ein Glas Wasser,
München, 1987; Berliner Doodles, Berlin, 1987;
Das Buch Jubal, Düsseldorf, 1987; Limbo,
Mainz, 1987; Die Kirschbäume, Warmbronn, 1988;
Pferdefuß, Ravensburg, 1988; Das
Buch Shiralee, Düsseldorf,1989; Von den Luftgeschäften
der Poesie, Frankfurt am Main, 1989; Weltwundertüte
voll Stückwerk, Lichtenfels, 1989; Vakuum,
Warmbronn, 1990; Container, Berlin, 1991; Hans
im Glück, Köln, 1991; Jemel, Leipzig, 1991;
Die Messingstadt, München, 1991; Shalamuns
Papiere, München, 1992; Votiv, Warmbronn,
1992; Schlammfang, Düsseldorf, 1993; Stein,
Frauenfeld, 1993; Archipel, Düsseldorf, 1994;
Sidus scalae, Warmbronn, 1995; Gesang
vom unterbrochenen Satz, München, 1995; Eine Hängematte
voll Schnee, Berlin,1995; Immer wieder träume
ich Bücher, Warmbronn, 1995; Nachtmantel,
Düsseldorf, 1996; Merkmalminiaturen, Stuttgart,
1997; Trümmer des Schmetterlings, Ostfildern vor
Stuttgart, 1997; Ein unbekannter Mensch, München,
1997; Dichter und andere Gesellen, München, 1998;
Jul Miller, Gifkendorf, 1998; Komm in das Haus,
München, 1998; Fontany im Sande, Warmbronn, 1999;
Die Ruine des Präsidentenpalastes, Düsseldorf, 2000; Schöllkopf, Warmbronn,
2000; Zähne, München, 2000; Blut im Schuh, Lüneburg,
2001; Nacht bleibt draußen und trinkt Regen, Passau,
2002; Suchbild: meine Mutter, München, 2002; Ungefähr
ohne Tod im Schatten der Bäume, München, 2003; Einer
bleibt, damit er berichte, München, 2005
Übersetzungen
Avraham Ben Yitzhak: Es entfernten sich die Dinge, München, 1994; Asher Reich: Arbeiten auf Papier, Reinbek bei Hamburg, 1992; Tuvia Rübner: Wüstenginster, München, 1990
Kunstbände und Ausstellungskataloge
Radierungen, Holzschnitte, Zeichnungen, Graphik-Zyklen,
Bücher, München, 1965; Handzeichnungen, Radierungen,
Bücher, München, 1971; The graphic work of Christoph
Meckel, Austin, Tex. 1973
Bilder, Graphik, Hamburg, 1976; Christoph Meckel &
Christopher Middleton, Bilderbücher 1968/1978, Berlin, 1979; Zeichnungen,
Radierungen, Reutlingen, 1984; Bilder, Bücher,
Bilderbücher, Bamberg, 1986; Zeichnungen, Bilder,
Radierungen, Freiburg, 1987; Zeichnungen und Graphik,
Bergisch Gladbach, 1987; Radierungen, Freiburg
i. Br., 1990; Manuskriptbilder 1962 - 1992, Freiburg,
1992; Neue Zeichnungen und Grafik, Saarbrücken,
1997; Beginn eines Sommers, Troisdorf, 2001
Illustrierte Werke
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Frankfurt am Main [u. a.], 1974; Erich Arendt: Reise in die Provence, Darmstadt, 1983; Walter Aue: Worte, Köln, 1963; Thomas Böhme: Die Zöglinge des Herrn Glasenapp, Düsseldorf, 1996; Bertolt Brecht: Bertolt Brechts Hauspostille, Frankfurt/M., 1966; Wolfgang Dick: Nachtstücke - versetzbar, Stierstadt im Taunus, 1965; Uwe Gutzschhahn: Fahrradklingel, Berlin, 1979; Gerd Henniger: Träume, Warmbronn, 1987; Christopher Middleton: Wie wir Großmutter zum Markt bringen, Stierstadt i. Ts., 1970; Zvonko Plepelic: Du kommen um sieben, Berlin, 1980; Poetische Grabschriften, Frankfurt am Main, 1987; Die Rechte des Kindes, Ravensburg, 1994; Ruth Reichstein: Lichterloh, Frauenfeld, 1988; Christa Reinig: Die Ballade vom blutigen Bomme, Düsseldorf, 1972; Voltaire: Candide oder der Optimismus; Zadig oder das Schicksal; Der weiße Stier, Köln, 1964
Sekundärliteratur über Christoph Meckel
Uwe-Michael Gutzschhahn: Prosa und Lyrik Christoph Meckels, Köln, 1979; Begegnungen mit Christoph Meckel, Freiburg im Breisgau, 1985; Ute Maria Koch: Literarische Biographie und Zeitgeschichte, Erlangen, 1986; Franz Loquai (Hrsg.): Christoph Meckel, Eggingen, Edition Isele, 1993; Wulf Segebrecht: Christoph Meckels Bücher, Bamberg, 1995
Preise:
Kurt-Tucholsky-Preis der Zeitschrift „Studentenkurier“ für das beste zeitbezogene Chanson (1958), Preis der Heinrich-Zille-Stiftung für sozialkritische Grafik (1970), Literaturpreis der Neuen Literarischen Gesellschaft, Hamburg (1973), Reinhold-Schneider-Preis (1974), Rainer-Maria-Rilke-Preis (1978), Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1981), Ernst-Meister-Preis der Stadt Hagen (1981), Georg-Trakl-Preis für Lyrik des Landes Salzburg (1982), Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (1993), Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung von 1859 (1998), Joseph-Breitbach-Preis (2003), Schillerring der Deutschen Schillerstiftung (2005).
Inventare des Limbo
Axel Helbig im Gespräch mit Christoph Meckel
Ich traf Christoph Meckel am 14. Februar 2005 in seiner Wohnung in Berlin-Wilmersdorf. Das Gespräch fand in einem halb als Grafik-, halb als Schreibkabinett und Bibliothek eingerichteten Raum statt und berührte zunächst das große Projekt der über 50 Jahre hin entstandenen Radierungen der „Weltkomödie“. Womit zugleich auch eine Art Bedrückung in das Gespräch Einzug hielt, denn Chri-stoph Meckel hatte wenige Monate zuvor erfahren, daß ihm wegen einer Schwäche der Hand ein weiteres Radieren nicht möglich ist, die „Weltkomödie“ also als abgeschlossen angesehen werden mußte. Wir sprachen von dem „Lebensfressenden“ und vom Vergnügen der Arbeit. „Wenn ich einen Zyklus zeich-ne“, sagt Meckel, „ … bin ich wenig ansprechbar …kann (ich) es mir nicht erlauben, Musik zu hören, und lese wenig, komme nicht viel mit Leuten zusammen.“ „Arbeiten, und wenn der Kaiser kommt“, zitiert er Otto Dix und meint damit jene höchste Konzentration, die von Leidenschaft und Wissen getragen wird. Die „Weltkomödie“ folgt einem epischen Grundzug, der die Existenz des Menschen in Raum und Zeit beschreibt und von den Horden der Vorzeit bis zu den Müllhaufen und Lebensgespenstern unserer Zeit reicht. Dieser Spannungsbogen findet sich auch im zuletzt erschienenen Erzählband „Einer bleibt übrig damit er berichte“, über den wir im weiteren sprachen. Es ist ein Buch, das jenseits des moralischen Appells Warnungen vermittelt. In der „Weltkomödie“, in den Romanen und Erzählungen der letzten Jahre gibt es immer wieder Kinderfiguren, die am Rande des Abgrunds zu existieren scheinen. Diese Kinder verkörpern für Meckel das Paradies und damit die Hoffnung. Während des ganzen Gespräches spürte ich eine von Christoph Meckel ausgehende Unbestechlichkeit, Summe einer Lebenserfahrung, in der Resignation nie aufkommen mag.
Axel Helbig: Herr Meckel, ich möchte zunächst auf die „Weltkomödie“ zu sprechen kommen, die nicht vom Schriftsteller, sondern vom Radierer und Grafiker gemacht wird. Sie sprechen vom „epischen Stil des Zeichnens und Radierens“, von „eigener Primitivität und eigener Verfeinerung“, die entwickelt werden mußten. Wie viele Arbeiten umfaßt der Zyklus der „Weltkomödie“ heute?
Christoph Meckel: Ich bin in Berlin geboren, habe aber
Kindheit und Jugend in anderen Orten verbracht. Mit 22 Jahren kam ich nach
Berlin zurück. Der Zusammenstoß mit diesem Babylon löste etwas aus, das
bis heute anhält, die „Weltkomödie“. Berlin war eine Stadt, in der die Nachkriegszeit
bis in die Siebziger Jahre dauerte. Das war nicht eine Stadt, eine Metropole,
es waren zwei. Es war eine Stadtlandschaft ohne Vergleich, weit aufgeris-sen,
von Trümmerbauten verstellt. Über Nacht war meine erste Kunstfigur, Moèl,
vor mir auf dem Papier. Ich hatte sie nicht erfunden, sie war da, und mit
ihr war der Name da. Der Name Moèl ist auf einen schottischen oder irischen
Dialekt zurückzuführen, dort bedeutet das Wort moell Berg. Das war mir gerade
recht, denn ich hatte ein Buch von John Bunyan gelesen, dem englischen Wanderprediger,
der die lovely mountains beschworen hatte, die lieblichen Berge. Es war
mein Wunsch, einen Lieblichen Berg zu zeichnen und mit ihm die „Weltkomödie“
zu beginnen. Das habe ich getan. Allerdings habe ich „Moèl“ zweimal gezeichnet.
Im ersten, der 25 Radierungen umfaßte, stirbt die Figur, sie wird gefangen
genommen, gefoltert, gevierteilt. Ich konnte meine Lebensarbeit nicht mit
ei-nem toten Moèl beginnen, verschwand aus Berlin, tauchte in München unter
und zeich-nete den „Moèl“ noch einmal mit dem Ergebnis, daß er überlebte.
Der Zyklus hatte 60 Radierungen und war der Prolog der „Weltkomödie“. Die
Arbeit an ihr ging bis in den Sommer des letzten Jahrs. Sie mußte beendet
werden, die rechte Hand war verbraucht. Diese Bildwelt umfaßt heute etwa
1.800 Blätter, sie besteht aus Zyklen, Serien, Tripty-chen, Diptychen, Einzelblättern,
Bildersammlungen und Friesen. Das sind erzählende und epische Formen, die
sich abwechselnd ergänzen und fortführen. Für alle diese For-men ist bezeichnend,
daß immer wieder dieselben Figuren auftauchen. Eine Figur ist Moèl und eine
Bobosch, andere heißen Rubim, Jemel, Balsam der Spieler. Sie sind Fix-punkte
in den epischen Bewegungen der Bilder, die erscheinen und verschwinden und
Kontinuität geben. Daß diese 47 Jahre lange Sache – ihr Arbeitstitel war
„Weltkomödie“, ein anderer Titel war nicht zu finden –, die am Anfang mehr
nach einer Tragödie aussah, sich im Verlauf der Arbeit in eine Komödie verwandelte,
das macht mich froh.
Primitivität ist etwas, daß man nicht erfinden, improvisieren noch auf andere
Weise her-stellen kann. Sie ist gegeben oder fehlt. Für die Kunstfiguren,
die ich gezeichnet habe, kann ich vielleicht eine ähnliche Art der Vereinfachung
geltend machen, wie sie bei Breughel erkennbar ist. Es geht um Reduzierung
der Formen auf ihre Urbilder, ob das Baum, Stein oder menschliche Gestalt
ist. Das Urbild ist primitiv und lapidar. Es geht um elementare Gesetzlichkeiten
und um das Organische aller lebenden Form. Alles, was ich zeichnete, war
darauf zurückzuführen. Verfeinerung dagegen ist eine Sache der Technik;
ich habe nicht viel Respekt vor Verfeinerungen, weil ich leicht gelernt
habe, sie herzustel-len, zeichnend mit ihr umzugehen. Verfeinerung ist eine
Sache des Trainings, des gestei-gerten Könnens im Technischen, und Technik
ist immer zu wenig. Jeder kann das lernen und anwenden. In den ersten zehn
Jahren der Arbeit bestand mein Lernen, meine Schule darin, die Technik so
zu handhaben, daß sie elementar blieb, magisch, etwas Elementare sich durch
sie gestalten ließ.
Axel Helbig: Es ist vom „literarischen Freund und Gegenspieler“ die Rede, an einer Stelle vom Glück des Zeichners, „von politischer Macht nicht beschlagnahmt zu sein“?
Christoph Meckel: Ich hatte als Kind den Zweiten Weltkrieg erlebt, die Bombenangriffe auf Freiburg und Erfurt, durch Zufall bin ich mit dem Leben davongekommen. Ich sah die Toten auf der Straße liegen, ich habe wohl alles erlebt, was man als normales deutsches Kind erleben mußte und erleben konnte. Man hatte Hunger und Angst, fror, verreckte fast und flüchte-te über die grüne Grenze. Man blieb vor Schwäche im Bett. Danach hatte ich das Glück, nicht noch einmal mit solchen Dingen in Berührung zu kommen. Ich hatte kein Geld, aber das spielte keine Rolle, denn ich lebte in dem, was Frieden heißt. Ich konnte leben, wo und wie ich wollte, konnte sagen, schreiben und zeichnen, was ich wollte, von mir hat niemand ein Bekenntnis verlangt. Von politischer Macht nicht beschlagnahmt zu werden, das ist ein Glück. Das betrifft den zeichnenden und den schreibenden Gegenspieler glei-chermaßen. Es geht nicht darum, sich dem Politischen zu entziehn, sondern darum, in Ruhe gelassen, davongekommen zu sein.
Aber es gibt einen Unterschied. Der Schriftsteller hat mit Öffentlichkeit zu tun, dadurch mit Politik und Zeitkritik, und zwar massiv. Es gibt für mich keine Literatur, keine Kunst, die heute unpolitisch sein könnte. Was man das Politische nennt, ist ein selbstverständli-cher Bestandteil eines Gedichtes, kann aber niemals der einzige sein. Der Zeichner und Grafiker hat nicht die Öffentlichkeit eines Schriftstellers. Zum Tagesgeschehen sich zu äußern, ist nicht die Angelegenheit eines Bildhauers oder Malers. Es gibt und gab Rich-tungen in der Kunst, große einzelne Fälle wie Goya, Daumier, Grosz und Dix, aber die Öffentlichkeit des Bildenden Künstlers und die seiner Person ist ganz anders, vielleicht bescheidener. Er kommt auf Vernissagen mit Leuten und Kritikern zusammen, in sein Atelier kommen Käufer. Er wird durch das Feuilleton nicht in dem Maß angegriffen wie der Schriftsteller, er wird sehr viel weniger einfach fertiggemacht. Peter Weiss war sich mit mir darin einig: Menschen, die Sprache machten und verantworteten, wurden als erste verfolgt, verboten, abgeführt. Die Deutschen haben das beste Beispiel gegeben: Die entar-tete Kunst im Dritten Reich wurde erst 1937/38 postuliert, die Sprache wenige Monate nach Hitlers Machtantritt durch Bücherverbrennung gebrandmarkt. 80 Prozent all dessen, was ich mit Öffentlichkeit zu tun habe, ist durch die Literatur bestimmt, selbst durch das Gedicht.
Axel Helbig: Sie sprechen von der „unerträglichen Intensität gesteigerter Produktion“, dem „Gefährlichen und Gefähr-denden“ darin, dem „Lebensfressenden der Arbeitsweise“?
Christoph Meckel: Wenn ich einen Zyklus zeichne, brauche
ich sechs Monate Zeit. Es kommen 60 bis 80 Blätter zustande. In dieser Zeit
bin ich wenig ansprechbar. Ich kann es mir nicht erlauben, Musik zu hören,
und lese wenig, komme nicht viel mit Leuten zusammen, feiere nicht mit Freunden
Nächte durch, dadurch kann vieles in die Brüche gehen. Hinzukommt, daß Arbeit
in der Kunst, wenn sie wirklich Arbeit in der Kunst ist, den, der diese
Arbeit macht, etwas kostet. Davon ist nie die Rede, auch vom Vergnügen der
Arbeit ist nicht die Rede. Es ist durch die Jahrzehnte zuviel geseufzt und
geschallt worden von der Verant-wortung des Dichters undsoweiter, das können
wir hier vergessen. Unverantwortlichkeit wäre realistischer und amüsanter.
Es kostet den Menschen etwas, der in der Kunst eine gültige Arbeit macht,
darüber kann man öffentlich nicht rechten. In der bildenden Kunst ist die
Mühe der Arbeit besser auszuhalten als in der Literatur. Der Zeichner hat
schon was, bevor er beginnt, er hat viel Werkzeug, Terpentin und Farben,
verschiedene saubere oder verkleckste Papiere, er hat ein Handwerk, das
ihm entgegenkommt und ihn körper-lich herausfordert. Das hat der Schriftsteller
nicht. Er hat seinen Kopf und seinen Com-puter oder, wie ich, eine Schreibmaschine,
ein gutes altes Hammerwerk, das ist alles.
Es gibt einen schönen Kernsatz von Otto Dix: „Arbeiten, und wenn der Kaiser
kommt.“ Aber das ist kein Fleiß, sondern Leidenschaft und genaues Wissen
davon, daß man schwindelerregend viel aufwenden muß, um ein gutes Gedicht,
ein gutes Bild zustande-zubringen.
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...
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Lesen Sie das gesamte Gespräch im Interviewband "Der eigene Ton", hg. von Axel Helbig.