Maria Gabriela Llansol
____________ neben meinem Arbeitstisch steht der Tisch, wo Bach Kinder
unterrichten könnte,
wenn es Kinder gäbe. In der Mitte zwischen beiden würde ich die unsichtbare
Trennlinie einer Achse einzeichnen, die er sie gerne überschreiten sehen
würde; doch als sie hereinkamen ___ wahre Maschinen an Härte ____________
erstarrte alles im Raum und nahm plötzlich wieder seinen eigenen Hauch an.
Sie brachten eine eisige Welle von Aggressivität und abscheulicher winziger
Macht in die Umgebung.
Der Arbeitstisch der Schrift, der Arbeitstisch der Musik drehten sich verzweifelt
um sich selbst und verknäulten sich ineinander. Was auf keinen Fall geschehen
darf, denn der einzige Leib der Sprache, der den Faden der Musik enthält,
kann nur einverleibt werden von dem, der den Unterschied erahnt.
Daher haben wir in regelmäßigen Abständen immer wieder Sehnsucht nach einem
wahren Kind. Und Kinder zu haben, ist nicht dasselbe. (15. Januar 1983 –
Herbais)
Als Bach mir noch einmal den Traum erzählt, den er hatte, ehe er seine
erste Frau heiratete, versuche ich, mich nicht dafür zu rechtfertigen, keine
Mutter zu sein. Ich hatte mich in der Grotte versteckt, mit dem Anfang meiner
Musik (er besteht immer darauf, daß die Musik nicht im Körper drinnen ist,
sondern an seinen äußersten Enden – Fingern, Kehle, Knöcheln).
Gegenüber gab es eine sandige Fläche, wo Frauen-Mütter schrien und sich
weigerten, eine Karavelle zu besteigen, da jemand sie gezwungen hatte, fortzugehen
und die begrabenen Kinder an Land zurückzulassen. „Ringe und Fesseln von
Ehemännern und Kindern“, dachte ich. Unschlüssige Wesen, die niemals das
Maß gemessen haben, das sie in sich hatten.
Ein gesichtsloses Kind entwischte und kam in die Grotte. Ich wickelte es
in meinen Röcken ein und wünschte, mich in die gewaltige Kraft zu verlieben,
die es meinem Willen nach haben sollte. Ich hüllte es in die Kühnheit, die
uns erwartet. Ich bedeckte den Kopf und zog es an die Brust, denn das Sprudeln
des Wortes begann größer zu werden als das der Milch.
Woher sollte mir die Milch auch kommen, wenn das Kind nicht mein eigenes
war? Mit meinen wachsenden, noch unfähigen Musikerfingern formte ich das
Gesicht, das ihm fehlte.
Künftige Augen von Aossê , künftiges Gehör von Hölderlin, künftige Stimme
von Anna, künftige Haltung eines Armen.
„Ich habe große Angst, seine Mutter zu sein“, sagte ich zu mir selbst. Ich
fühlte mich auf einmal von großer Angst durchdrungen, denn wer stillt, stellt
sich die Chimäre nicht vor, die er an der Brust trägt. (28. Juni 1984 –
Herbais)
Infausta öffnete die Tür und sagte zu ihnen:
– Bach ist gestorben, doch er hat einen einzigen Sohn hinterlassen – die
Stille. – Sie schien in übertragenem Sinn zu sprechen, indem sie die letzten
Gegenstände ergriff, die sie Aossê und den Mäandern seiner Spekulation zu
übergeben dachte.
Und fragte sie, ob sie noch immer abfahren wollten, ob die Gestalt der Karavelle
der Realität entspreche – wenn es sie gäbe. (15. April 1983 – Herbais)
Infausta kannte mich, ehe sie mich tatsächlich kennenlernte:
„sanft ist die Schiffahrt im Juni, mit ihrer Besatzung von Personen und
Früchten.“
Man sah immer mehr Meer und mehr Erde, ohne einen Konflikt zwischen ihnen;
Schreiben und Komponieren
wurden zu einer zweiten Natur ______ Schreiben ist im Mittelpunkt des Körpers__________,
und die nebensächlichen Leidenschaften beruhigten sich.
„Dein Gesicht wird älter mit dem Umblättern der Seite, und ich frage dich
jeden Tag, wohin du gehen wirst, denn immer sah ich, wie du in deiner anscheinenden
Unbewegtheit doch Sinn und Ort wechseln willst.“
Ich erinnerte mich an viele Begebenheiten, doch im Augenblick des Schreibens
vergaß ich sie, oder mein Schreiben kam also nicht von der Erinnerung.
„Dein Leben entspricht dem Sinn, den du ihm geben möchtest; es gelingt dir
nicht, aus dem Zustand beständiger, fließender und fortlebender Lektüre
herauszukommen“.
Laut lesen hat mit der Akustik zu tun – lehrte mich Bach –, es gibt Wellen
und Schwingungen in seiner Gestaltung, die nie geschrieben erscheinen. Doch
ich will keine Lektüre, die ein Rezitativ wäre. (3. Juni 1978 – Jodoigne)
„Ein Teil meines Lebens paßte sich dem Innenhof an“.
Da ich diesen Satz schreibe, sehe ich den Innenhof, doch wer nicht liest,
weiß nicht, wessen Leben es ist, das sich dem Raum des Innenhofs anpaßte.
Es könnte das von Infausta sein, von Hadewijch , von Ana de Peñalosa , und
es könnte auch mein eigenes sein.
Viele von denen, die mich lesen, haben Schwierigkeiten, sich einzulassen
auf den Pakt der Lektüre, den meine Texte voraussetzen: den, zu wissen,
wer gerade spricht. Und es zu wissen ohne einen Schatten von Zweifel.
Meine Texte setzen einen Pakt von Unbehaglichkeit voraus ______ sie sind
nun einmal genau so, wenn ich will, daß sie existieren_____;
das Wort „Unbehaglichkeit“ ist dennoch verfänglich, es verweist auf Unbequemlichkeit
und beklommenes Herz, in der Hoffnung auf einen heiteren Freund. Ich muß
zugeben, daß sich mein Text, indem er das ausdrückende Subjekt im Ungewissen
läßt, tatsächlich an die Beklommenheit des Herzens richtet und es in den
Schatten des Zweifels versetzt. Doch wenn das Herz auf dem Lesen besteht,
so deshalb, weil es einen ästhetischen Glanz in ihm gibt, der den nächsten
Schritt erleuchtet und es sich auf das richtige und unwiderlegbare Detail
stützen läßt. (10. August 1993 – Colares)
Ein Teil meines Lebens paßte sich dem Innenhof und der Wohnung in Jodoigne
an; er ist gerade;
er verläuft rechtmäßig und unparteiisch; ein anderer Teil läßt mich aus
mir herausgehen, nahezu täglich; ich würde gerne ins Weite aufbrechen, und
rasch, doch würde ich nicht ohne eine Notwendigkeit, nicht ohne Grund mit
einer Landschaft konfrontiert sein wollen. Die Teile geraten aus dem Gleichgewicht.
In diesem Augenblick etwa habe ich die Landschaft von Müntzer und von
Ibn’ Arabi bereits hinter mir gelassen; und ich verlange allmählich nach
der Begegnung mit einem anderen Meister, den ich morgen verlassen werde.
Doch was ich in diesen Tagen, Ende September, wirklich zu wissen suche,
ist, was das exakte Maß eines vollständig verbrachten Tages ist. Ich will
jedoch nicht, daß diese Suche zu einer Befragung wird, sondern nur, daß
sie die Form von Unbehaglichkeit sei, wie ein Stich in den Nieren oder ein
Anzeichen von Befremden.
In diesem Sinne sage ich, daß das Leben hier ein gerades ist und unparteiisch
verläuft. Wir haben es hier mit einer halboffenen Wunde zu tun. Manchmal
sehe ich sie auf dem Tisch, ein anderes Mal scheint sie ein Fleck auf dem
Fußboden zu sein, ein anderes Mal ist sie nicht da – doch sie ist da –,
verborgen, im Kleiderschrank, wie es den Leben geschieht, die nach außen
keine Stimme haben, im Innern jedoch die Wirkung eines endlosen Leuchtens
hervorbringen.
Mein Leben ist wie dieses Licht, das Helligkeit in das andere Zimmer durchläßt.
Daher ist es diesem Tag angemessen, dem nächsten, dem Tag darauf, und bringt
Ähnlichkeit hervor, ohne die Last der Monotonie. Ich habe das Gefühl, in
der ganzen Wohnung und auf den Möbeln einfache Stückchen loser Texte zu
hinterlassen, die von vorneherein niemals ein Buch sein werden.
Ich fand dieses Schriftstück gestern, nachdem ich das Geschirr abgewaschen
hatte: _________ im Fuß von Eleanora öffnete sich ein Wundmal; eine Liebeswunde,
die sie als Zeichen dafür liest, bereit zu sein, um aufzustehen,
die Stickerei mit dem Bild des Falken hinzulegen,
und wegzugehen. „Das Tuch, das ich sticke, sagt sie mir, ist der leichteste
Teil dieses Vogels. Ich unterscheide deutlich mehrere Punkte der Wirklichkeit.
Als ich die Tür zur Speisekammer öffne, entdecke ich, daß die Kunst, eine
Frau aus mir zu machen, bedeutet, in meinem Schatten mein Gegenbild an Macht
wachsen zu lassen. Luís M. sagt mir in der Liebe: ‚schenk mir deinen Willen,
und ich werde dir die Kraft schenkenʻ. Ich betrachte mich im Spiegel, und
falls sein Widerschein mich dazu anhielte, wieder mit der Stickerei zu beginnen
_______“.
„Weißt du, wer der Falke ist?“, unterbreche ich sie. Sie hört mich nicht,
doch sie antwortet mir, daß sie auf die Liebe warten muß, daß die Rhythmen
des Schlafs verschieden und die Gesichter der Liebe veränderlich sind.
Eine stille Unruhe ergreift uns von oben und jemand kommt, um uns zu rufen:
„Es ist Zeit für das Abendessen.“ Eleanora lacht: „Ist es Zeit für das Abendessen
oder dafür, aufzubrechen zu dem, den ich liebe?“
Eleonora, was du denkst, denke ich schon nicht mehr. Laß dich nicht täuschen,
denn kleine Worte können den Schatten von großen besitzen. Wahrscheinlich
ist die Bewegung dieser Kraft, die du für gewaltig hältst, noch fast nicht
vorhanden.
Ich kann nicht, Anna. Da ist eine Stimme, draußen, die sich mit meiner kreuzte,
meiner armen Stimme ohne Ort, und sie hat noch Kraft für „wo bist du, mein
Geliebter“, fragte ich, doch meine feste und stille Absicht war, es endgültig
zu unterlassen, irgendeines dieser Worte auszusprechen, denn sie sind ein
durchsichtiger Schleier, der mein Unterscheidungsvermögen erstickt, doch
ich kann nicht, Anna.
Ich ergriff ihre Hand, damit sie zur Stickerei zurückkehrte. Wieder würde
man uns zum Abendessen rufen.
Denk nur daran, Eleanora, was das, was sich verflüchtigt, bewirkt. Wenn
du dich in deinem eigenen Körper verflüchtigst, wer wird dann die Stimme
der Liebe bei ihrer nächsten Wiederkehr hören? Die Liebe löst und hat keine
Schuldigkeit. Sie läßt zum Himmel hinaufsteigen und löst auf.
„Doch wie ohne sie leben?“, fragt sie mich noch.
„Doch wie mit ihr leben, wenn niemand ihre Begegnung überlebt?“, frage ich
sie________
Ich lasse den Text auf dem Bett liegen.
Ich werde hinuntergehen, um das Abendessen für Augusto zuzubereiten. Auf
jeder Stufe der Treppe werde ich mich von diesen Bildern lösen, indem ich
standhaft daran denke, daß Schreiben heißt, die Lektüre auf ihrem Weg zu
führen, so daß der, der liest, die Begegnung mit ihr überlebt. Wenn ich
nur der Körper wäre, der liest ____________ dieser Gedanke macht mich zutiefst
traurig. Ich würde Eleonora gerne unterweisen. (25. September 1978 – Jodoigne)
aus:
Lissabonleipzig
1. Die unerwartete Begegnung des Verschiedenartigen.
Aus dem
Portugiesischen von Markus Sahr, 2012