Zurück zur Bibliographie

 


Herkus Kunčius

aus dem Roman: Ornament

Die Wahrheit verbirgt sich irgendwo im Jenseits

In Lissabon sind es 16 Grad plus, bei uns – genau das Gegenteil. Immer ist es so. Warum nur? Ich bin wieder dabei, ein Bernsteinsouvenir anzufertigen. Diesmal einen eindrucksvollen Glücksleuchtturm, der das Bücher- oder Weinregal eines Intellektuellen zieren könnte.
Als ich auf die Spitze des Leuchtturms einen Strahl aus Bernsteinsplittern setze, klingelt das Telefon. Das ist Dora. Dora! Endlich! Der Strahl fällt herunter. Ich bin nervös. Sie spricht ziemlich aufgeregt. Ganz unerwartet schlägt sie vor, sich zu treffen. Es ist dringend. Ich stottere etwas von Bergen oder dem Meer, wo wir zu zweit sein könnten. Sie unterbricht mich jedoch, daß es sich um eine ernste Angelegenheit handelt, und sie für Witze nicht aufgelegt ist. Ich stimme ihr zu, daß alles in diesem Leben sehr ernst ist, aber Dora läßt sich auf kein Gespräch ein und sagt, daß sie mich bei sich in der Zahnklinik erwartet. Wann? Sofort. Jetzt gleich. Sie wartet bereits.
Schnell mache ich mich fertig. Ich bin etwas erregt und rasiere mir deshalb die Achselhöhlen. Beim ersten Rendezvous will ich möglichst elegant erscheinen und suche mir ein weißes Hemd und eine Krawatte, an die ich einen Bernstein stecke – ein Geschenk meines Bernsteinlehrers für die künstlerischste Darstellung der Kreuzigungsszene aus Bernstein. Fertig? Nichts vergessen? Der Hosenstall ist zugeknöpft, Portemonnaie in der Tasche, Zigaretten, Feuerzeug etc. Soll ich Blumen kaufen? Oder lieber nicht?
„Darf ich vorstellen? Das ist mein Mann, Mistislaw Rostropowitsch“, empfängt mich Dora kalt, kaum daß ich die Zahnklinik betrete, mit einem Kasten Konfekt und einer Flasche Sekt in der Aktentasche.
Ich bin überrascht.
„Angenehm, sehr angenehm“, überfällt mich mit ausgestreckter Hand Professor Rostropowitsch, der, wie mir scheint, dem legendären Swjato­slaw Richter verblüffend ähnlich ist.
Ich verstehe, daß all die Aufregung und das Sichfeinmachen umsonst waren. Das ist betrüblich. Das tut weh. Die Krawatte fängt an, mir den Hals abzuschnüren. Ich stelle die Aktentasche auf den Boden.
„Mein Mann, Professor Mistislaw Rostropowitsch, hat sein gesamtes aktives Leben der Untersuchung von Zahnbelägen gewidmet“, stellt Dora ihren Mann vor, der, meiner Meinung nach, diese Frau nicht verdient hat. „Seine Arbeiten sind in den angesehensten stomatologischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Professor Mistislaw ist mehrfach ausgezeichnet worden. Auf seine Forschungen greifen die NASA und andere seriöse Organisationen zurück. Seinen Empfehlungen folgen der CIA, die UNO und das Europaparlament. Der Professor hat bereits Vorlesungen an der Columbia University, in Cambridge und Yale gehalten. 2000 ist er zum Mann des Jahres gewählt worden.“
„Es ist nicht zu fassen, einfach ein Wunder.“ Rostropowitsch schüttelt meine Hand, ohne sie loslassen zu wollen.
Ich verstehe nicht, woher diese Euphorie rührt, möchte jedoch höflich bleiben, lächle und versuche unwillkürlich, Blickkontakt zu Dora aufzunehmen. Sie bemerkt aber meine Hilflosigkeit gar nicht. Natürlich steht sie auf Mistislaw Rostropowitschs Seite.
„Gerade hat mir Dora die Aufnahme von Ihren Zähnen und dann die Proben gezeigt. Ich habe sofort ein Treffen mit Ihnen verlangt“, bestürmt mich der Professor, in dessen Augen ein Anflug von Wahnsinn liegt. „Das ist eine Revolution in der Stomatologie. Die Bergbaulehrbücher kön­nen wir wegwerfen. Das wird die Wissenschaft grundlegend ändern. Das wird sogar das Mendelejewsche Periodensystem verändern.“
Ich nicke. Nicke wieder. Und bereue, daß ich Konfekt und Sekt gekauft habe. Nicht um das Geld ist es mir schade, sondern um die vertane Chance eines Tête-à-tête. Eine sehr unangenehme Situation.
„Vertrödeln wir keine Zeit.“ Der Professor wird plötzlich geschäftig. „Setzen Sie sich auf den Stuhl und machen Sie den Mund weit auf. Ich brenne vor Ungeduld. Ich möchte es mit eigenen Augen sehen. Ich will es ...“
Ich verstehe, daß ich von Dora keine moralische Unterstützung zu erwarten habe. Sie schaut nicht einmal in meine Richtung.
„Machen Sie den Mund auf, weit auf. Worauf warten Sie noch“, sagt der Professor, und ehe ich mich besinne, stopft er mir Watte in den Mund.
„Das Licht hierher, hierher“, kommandiert er Dora.
Ein Lichtstrahl schlägt mir ins Gesicht. Ich sitze wie gebannt auf dem Zahnarztstuhl. Ich bin niedergeschlagen. Äußerst angespannt. Ich merke, wie der Professor mit einem Haken etwas von meinem Zahn entfernt, dann von dem nächsten usw. Ich sehe, wie er vorsichtig mit der Pinzette den entfernten Belag herausholt und ihn interessiert im Licht betrachtet.
„Nein, wirklich, Irrtum ausgeschlossen. Alles stimmt. Alles!“
„Ich habe es Ihnen doch gesagt, Mistislaw“, redet Dora auf den Professor ein. „Ich sagte doch, daß es sich hier um einen außergewöhnlichen Fall handelt.“
„Phänomenal. Ein Wunder“, wiederholt sich der Professor und beginnt, wieder mit Hingabe zwischen meinen Zähnen herumzufuhrwerken.
Und diesmal verspüre ich keine Schmerzen. Ganz im Gegenteil, nach jeder Zahnsteinentfernung wird mir leichter zumute. Ich fühle mich, wie von etwas Schwerem, einem irgendwie nichtzutrennenden Teil meines Körpers befreit.
„Doktor Freidheim“, wendet sich Professor Rostropowitsch an seine assistierende Frau. „stecken Sie den Belag in unsere Speziallösung.“
„Gleich?“
„Sofort.“
Dora taucht meinen Zahnstein in eine vorbereitete Lösung. Es kommt zu einer Reaktion, bei der Dampf und ein unangenehmer Geruch entstehen. Ich versuche, nicht zu atmen. Ich beobachte alles von meinem Stuhl aus und traue mich nicht aufzustehen. Konzentriert wartet Professor Rostropowitsch, ohne seine Augen von dem Glas abzuwenden, in dem eine mir unverständliche Reaktion abläuft. Jetzt zieht er mit der Pinzette einen glitzernden Stein heraus, von dem ein Lichtstrahl ausgeht und mich direkt in der Pupille trifft. Ich muß blinzeln.
„Was denken Sie, Doktor Freidheim, zu welcher Gruppe gehört er?“ erkundigt sich der Professor kollegial bei Dora.
„Es könnte vielleicht ...“
Dora nimmt vorsichtig mit den Fingern mein von der Pinzette zusammengedrückten Zahnbelag, besser gesagt, das, was von ihm in der Lösung übriggeblieben ist, und geht zum Fenster. Als sie im Licht, das durch das Fenster fällt, stehenbleibt, kann ich mich ein weiteres Mal davon überzeugen, daß sie unter dem weißen Arztkittel nichts trägt. Vor Erregung läuft mir ein Schauer über den Rücken. Ich bin ganz aufgewühlt. Noch eine Sekunde, und ich kann mich nicht mehr beherrschen ...
„Schauen Sie mal, Professor.“ Dora zieht mit meinen Zahnsteinresten eine Linie im Glas. „Sehen Sie?“
„Die Medizingeschichte kennt bisher keinen Fall dieser Art“, murmelt Professor Rostropowitsch und hält sich das Glas zur Begutachtung unter die Nase.
„Ich glaube, daß ist ein Mineral der Korundgruppe.“
„Der Korundgruppe?!“ ruft vor Erstaunen der Professor und klatscht mir mit der Hand auf die Schulter.
„Noch kann ich nicht genau sagen, ob es ein Rubin, ein Saphir oder ein Sternrubin ist, aber es ist ein Edelstein, mindestens Härte 9.“
„Edelstein?“ wundere ich mich. „Woher soll denn hier ein Edelstein kommen? Edelstein ...“
„Ja, Edelstein, mein Junge“, spricht Professor Mistislaw Rostropowitsch väterlich nachsichtig zu mir. „Und nicht nur ein Edelstein hält sich in Ihrem Mund verborgen. Das ist eine organische Edelsteingrube, die in Zukunft nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen Probleme des Landes lösen könnte.“
„Darf ich mal sehen?“
„Bitte sehr.“
Ich sehe mir die verschiedenfarbigen Minerale an und kann nicht glauben, daß ich sie wie ein passionierter Gärtner in meinem Mund gezüchtet haben soll. In meinem Mund! Unbegreiflich.
„Das“, erklärt mir Dora, „ist wahrscheinlich ein Saphir. Sehen Sie, er ist blau und klar und gehört deshalb zur Gruppe der natürlichen Saphire. Und das ist bestimmt ein Rubin, denn er ist durchsichtig rot. Oh, wie interessant, ich erkenne auch einen echten Korund. Echte Korunde sind immer farblos.“
„Wovon ernähren Sie sich, junger Freund?“ unterbricht Professor Rostropowitsch Dora.
„Na ja“, überlege ich, „ich esse alles: Fleisch, Gemüse, Obst. Manchmal mache ich mir Buchweizen oder Grießbrei. Wenn ich es eilig habe, esse ich Wurst und Käse.“
„Mögen Sie Reis? Hammelfleisch?“
„Nicht besonders.“
„Und welches Fleisch schmeckt Ihnen am besten?“ fragt der Professor ohne Unterlaß weiter.
„Schweinefleisch mag ich. Und Fisch.“
„Also kein Vegetarier?“
„Professor“, unterbricht Dora ihren Mann, „sehen Sie sich nur dieses Exemplar an. Hier!“
Dora holt mit der Pinzette noch ein Zahnsteinmineral aus der Lösung, ohne ihre Verzückung zu verstecken. Ich versuche, in ihrem Blick eine Spur Habgier zu entdecken, kann jedoch darin nur das wissenschaftliche Interesse einer Zahnärztin finden. In der Pinzette steckt ein korkengroßer Stein, bei dem sich rote, rosa und blaue Farbschichten abwechseln.
„Das ist ein polychromer Korund“, jauchzt Professor Rostropowitsch unbeherrscht auf. „Er ist sehr selten. Ein polychromer Korund!“
„Sehen Sie sich das mal genauer an, Professor“, rät ihm Dora. „Schauen Sie weiter unten.“
Der Professor nimmt die Pinzette mit dem Mineral, hebt sie hoch wie der Priester bei der Messe die Monstranz. Ich möchte so gerne die Funde meines Mundes aus der Nähe betrachten, doch Mistislaw Rostropowitsch drängt meinen Körper regelrecht an den Rand des Arztzimmers. Ich könnte natürlich mit ihm um das Recht auf Raum kämpfen, aber er ist dreimal älter als ich. Andererseits, all diese Korunde, Rubine, Saphire gehören doch letztlich mir!
„Doktor Freidheim, wollen Sie etwa damit sagen, daß dies ein Sternrubin ist?“ will der Professor wissen.
„Davon bin ich überzeugt. Ein echter Sternrubin.“ Dora läßt keinen Zweifel aufkommen. „Sehen Sie, wie im Inneren ein sechszackiger Stern funkelt? Sehen Sie den Stern?“
„Ich sehe ihn, ich sehe den sechszackigen Stern“, wiederholt der Professor und ist einer Ohnmacht nahe.
Ich drehe mich um. In mir steigt der Verdacht auf, daß beide im nächsten Moment verrückt werden könnten. Schrecklich, plötzlich mitten unter Irren zu sein. Darauf war ich nicht gefaßt. Man muß handeln, denn so wie Dora und auch ihr Mann Professor Rostropowitsch den Sternenkorund mit den Augen geradezu verschlingen, könnten sie sich jeden Moment daran verschlucken.
„Sollten wir dies nicht feiern?“ schlage ich ängstlich vor.
„Was glauben Sie, Doktor Freidheim, wieviel Karat könnte der haben?“
„Mindestens zehn.“
„Sollten wir dies nicht feiern?“ wiederhole ich etwas lauter.
„Was?“ Professor Rostropowitsch kommt plötzlich wieder zu sich.
„Es gibt einen Anlaß. Sollten wir ihn nicht feiern?“
„Unbedingt!“ kreischt Dora, wie aus Somnabulie erwacht. „Ich habe Spiritus.“
„Den Spiritus brauchen wir nicht“, sage ich und hole aus der Aktentasche die Flasche Sekt und den Kasten Konfekt.

Spiel ohne Trumph. Die Rachen-Mission

Und so ging es weiter ...
Nachdem der Sekt alle, und man zum Spiritus übergegangen war, veränderte sich auch der Inhalt der Gespräche. Professor Rostropowitsch begann auf einmal von irgendeiner stomatologischen Stiftung zu faseln, die meine Edelsteingrube finanzieren könnte. Er sprach viel und emotional über Zahnärzte, die im Alter verarmt wären, und über ganz einfache Leute, die Unterstützung brauchten. Ich dachte nach. Trank einen zweiten Schluck Spiritus, zündete eine Zigarette an und begann plötzlich zu widersprechen, denn in diesem Moment erschien es mir wichtiger, die Grundlagenforschung von Religionen zu finanzieren. Ich stellte mir Labors, Exkursionen und haufenweise Monographien über Islamismus, Buddhismus vor. Dora, die mit dem Atheismus sympathisierte, lehnte meine Idee ab. Sie meinte, dies wäre Angelegenheit der Geistlichkeit und nicht der Weltlichkeit, die sinnvollere Aufgaben erfüllen sollte. Voll Eifer sprach sie von neuen Technologien, der Informationsgesellschaft, Ökoprodukten, vom Flugwesen, dem Ballett usw. Um die Idee nicht zu vergessen, trank ich ein paar Schluck Spiritus, obwohl ich nicht an der Reihe war. Es war guter Spiritus – kein technischer. Nach dem zweiten Schluck hörte ich Professor Mistislaw Rostropowitsch von Amsterdam erzählen, wo es sehr viele Kanäle gibt. Dora fragte, was für Kanäle, aber der Professor hörte sie nicht. Er habe in Amsterdam viele Kollegen, die sich un­eigennützig unserem (er sagte: unserem) Edelsteingeschäft annehmen würden. Angeblich lebt und arbeitet dort auch sein sehr guter Freund, der Dissident Arkadi Aniskin, der zu Beginn der 70er Jahre emigriert ist. Dieser, so der Professor, wäre gerne bereit, die Edelsteine in Umlauf zu bringen und bei verschiedenen Fragen behilflich zu sein. Dann begann er sich auszumalen, wie ich die rohen und noch nicht aus dem Gestein gelösten Edelsteine in meinem Mund fördern könnte, die später befreundete Juweliere, denen er wie sich selbst vertraue, veredeln würden. Ich erkundigte mich nach Arkadi Aniskin, Professor Rostropowitsch aber beteuerte, daß er den nicht kenne. Ich begann an der Logik und dem Gedächtnis des Professors zu zweifeln, und sagte deshalb nach einem weiteren Schluck Spiritus, daß ich nie Kurier sein könnte und außerdem Angst vor dem Fliegen habe. Dora stimmte mir zu. Ich sei für so eine Sache absolut nicht geeignet und würde mich verraten, geschnappt werden und dann in einem geheimen CIA-Labor den Rest meines Lebens isoliert verbringen.
Rostropowitsch, der bei der Spiritusvernichtung ebenfalls nicht zurückhaltend war und schon etliche Zigaretten geraucht hatte, sagte, daß es sich lohnen würde, über eine Zahnarztpraxis direkt in Amsterdam nachzudenken, wo sich viele Möglichkeiten bieten. Er sah schon die Inneneinrichtung der Praxis, sprach viel von den Patienten, dem Blick aus dem Fenster, Seeleuten, Prostituierten etc. Dora war auch ganz aufgekratzt und bekannte, daß sie schon immer davon geträumt hätte, in einem liberalen Land, wo die Arbeit eines Spezialisten noch zählt, zu leben.
Hier gingen meine Nerven durch, und ich behauptete kategorisch, nur dort leben zu können, wo das Meer Bernstein anschwemmt. Außerdem fügte ich hinzu, daß ich nicht ohne meine geliebte Arbeit – die Bernsteinbearbeitung – existieren kann. Ja, das sagte ich: Bernsteinbearbeitung. Da fielen beide über mich her und machten mich fertig. Sie wollten mir weismachen, daß, wenn wir aus meinem Mund genügend Edelsteine erhielten, das Meer von alleine Bernstein heranspüle. Ich verstand nicht recht und bat deshalb, den Satz noch einmal zu wiederholen. Sie wiederholten: du wirst reich sein und wenn du es wünscht, spült das Meer alles an, was du nur willst – Bernstein und viele Mädels. Ich war gekränkt und sagte, daß ich mich niemals mit solchen Dingen befassen würde, wieviel Tonnen Bernstein auch der Ozean mir bieten würde. Rostropowitsch korrigierte, daß Amsterdam nicht am Ozean liegt. Ich sagte, daß es mir piepegal wäre, selbst wenn es an einem See oder Teich liegt, ich würde trotzdem dort nicht wohnen wollen, denn meine Wurzeln sind hier.
Da verstummten beide. Eine unangenehme Stille machte sich breit. Dora beendete das Schweigen. Sie sagte, daß wir zwar Vertreter verschiedener Nationalitäten wären, aber untereinander gut miteinander auskämen, und keiner dem anderen etwas vorzuwerfen hätte. Ich fragte nach, an was sie bei dem Wort vorwerfen denken würde. Rostropowitsch erklärte: er sei ein orthodoxer Russe, Dora eine deutsche Protestantin und ich ein katholischer Litauer, und wir alle hätten voreinander nichts zu verbergen. Pure Eintracht. Ich trank vom Spiritus und äußerte den Verdacht, daß man mich betrügt, doch Dora beteuerte, daß sie wirklich eine Deutsche sei – Dora Freidheim. Rostropowitsch schlug sich gegen die Brust und rief: Ich bin Russe. Ich bin Russe! Er versuchte sogar einige Male, in die Hocke zu gehen, wie es in russischen Volkstänzen üblich ist, konnte aber das Gleichgewicht nicht halten und fiel hin. Er war anscheinend unverletzt geblieben. In diesem Moment begann bei mir alles zu verschwimmen. Dora und ich halfen ihm wieder auf die Beine, und ich fragte höflich nach dem Vatersnamen des Professors. Mistislaw bekannte stolz: Benjaminowitsch. Daraufhin beschloß ich, dieses Thema nicht weiter auszuwalzen, und schlug vor zu trinken. Wir tranken.
Wir leerten wieder die Gläser. Dann gedachten wir kurz des Holocausts. Uns war traurig zumute. Die Stimmung wurde noch erhabener. Da erwähnte Dora ein kleines Problem: die Sprechstundenhilfe Anja, die aus einfachen Verhältnissen stammte. Diese hatte anscheinend den aus meinem Mund geförderten Saphir gesehen und könnte sich jetzt verplappern oder sogar eine Anzeige erstatten, und das würde alle unsere Pläne zerschlagen. Ich erschrak. Und begann Anja noch mehr zu hassen, nachdem ich mich erinnerte, wie unfreundlich sie zu mir gewesen war.
Da bewies Professor Rostropowitsch den nur Russen innewohnenden eisernen Willen und schlug vor, sie umzubringen. Ich fand diese Idee anziehend und durchaus sinnvoll. Ich dachte an Kyrill und Method, die mich schon einige Male auf eindrucksvolle Weise besucht hatten. Ich könnte (über Bekannte) mit ihnen Kontakt aufnehmen. Sie würden für eine bestimmte Summe die uns störende Anja beseitigen. Dora gefiel der Vorschlag. Sie ließ mich feierlich schwören, Wort zu halten.
Ich schwor und versprach, daß wir uns bald zu Anjas üppigem Leichenschmaus treffen würden. Darauf stießen wir an und leerten die Gläser. Professor Rostropowitsch wurde es schlecht. Dora und ich hielten ihn über das Spuckbecken, der Professor kotzte. Nachdem er gekotzt hatte, wurde er ein ganz anderer Mensch und schlug uns verschiedene Namen für die zu gründende Firma vor: Leerer Sarg, Das Herz des Borkenkäfers, Kurzer Abriß der Geschichte der USA, Interview mit einem Vampir usw. Mir gefiel keiner davon und deshalb sagte ich, daß der beste Name Gintaras* Bernstein und Partner oder Gintaras Bernstein und Co. sei. Dora und Rostropowitsch widersetzten sich. Sträubten sich. Zeigten sich gekränkt. Argwöhnisch schauten sie mich an. Zwei gegen einen. Offenbar wollten sie, daß auch ihre Namen genannt werden. Diese Ehrgeizlinge. Rostropowitsch sagte, daß man mit Freunden so nicht umgehen darf, gestikulierte und drohte sogar, auszusteigen und sich nicht an dem Geschäft der neugegründeten Aktiengesellschaft zu beteiligen. Ich konnte ihn davon abhalten. Redete beruhigend auf ihn ein und setzte ihn auf den ehrenvollsten Platz im Sprechzimmer – auf den Zahnarztstuhl. Dann tranken wir wieder etwas, und Dora schlug den Namen BerRosFrei vor. Ich sagte, daß dieser Namen nicht richtig sei, und mit einer Lüge, die ich einem Verbrechen gleichsetze, sollte man kein Geschäft beginnen, wie edel es auch sein mag. Ich erklärte, daß die Grube mir gehört, daß ich der Eigentümer bin, daß ich mich gekränkt fühle. Außerdem, fügte ich hinzu, verstehe ich nicht, warum von mir nur drei Buchstaben, von Dora aber vier enthalten sind. Außerdem sind sie eine Familie. Rostropowitsch und Dora wollten meine Argumente nicht gelten lassen. Dora holte den Äther hervor, ich roch daran und stimmte augenblicklich ihrem Vorschlag zu.
Von diesem Augenblick an hieß unsere Firma BerRosFrei. Aus gegebenem Anlaß schnüffelten wir zu dritt an Doras Äther und tranken Spiritus. Professor Rostropowitsch wurde wieder schlecht und Mistislaw Benjaminowitsch bekleckerte sich, doch das konnte mich nicht davon abhalten, mit ihm Brüderschaft zu trinken. Wir umarmten uns wie alte Freunde, und später wurde ich feierlich aufgefordert, neben dem Professor im Zahnarztstuhl Platz zu nehmen. Ich weiß nicht, wer auf die Idee kam, unsere Schwänze zu vergleichen, ich erinnere mich aber an Dora Freidheims Urteilsverkündigung: gleich groß. Dann begann sich alles sehr schnell zu drehen. Wie durch Nebel erinnere ich mich, Dora bekniet zu haben, den Bohrer einzuschalten. Sie lachte, denn sie war ebenfalls ausgelassen fröhlich, besonders als ich dem schon schlummernden Professor Rostropowitsch den rotierenden Bohrer in den Mund steckte. Was dann passierte – ich erinnere mich an nichts mehr ...

Aus der Charakteristik des Bürgers Mistislaw Rostropowitsch

Professor Mistislaw Rostropowitsch ist ein außerordentlich freier Mensch. Sein geniales Auge erkennt sofort das Wesentliche, das Normalsterblichen verborgen bleibt. Immer möchte er der Menschheit etwas Wichtiges und Bedeutungsvolles mitteilen. Mistislaw Rostropowitsch ist Vertreter der romantischen Zahnarztschule und dieser Tradition, die er vertieft und weiterentwickelt hat, treu geblieben. Er ist ein Mensch, bei dem psychologische Ausstrahlung und bezaubernde Persönlichkeit auf ungewöhnliche Weise miteinander korrespondieren. In seinem Beruf, in dem er schon seit über 40 Jahren unermüdlich tätig ist, überschüttet Professor Mistislaw Rostropowitsch auf nahezu mystische Art seine Kollegen mit Liebe, Achtung und Dankbarkeit.
Der Zahnarztprofessor ist stets von Menschen umringt. Er fühlt sich mit der Natur und den Tieren sehr verbunden, zu denen er sich als na­turwissenschaftlicher Spezialist metaphysisch hingezogen fühlt. Schnell findet Mistislaw Rostropowitsch mit Bekannten wie auch Unbekannten eine gemeinsame Sprache, als wären es seine besten Freunde. Jeden umfängt die Wärme seiner Seele, für jeden hat er ein herzliches Wort übrig, oft ermuntert er andere, weicht aber auch den kritischen Bemerkungen seiner Kollegen nicht aus.
Der Professor ist ein Spaßvogel. Frauen, Männer, Kinder und ältere Menschen beglückt er mit seinen Komplimenten. Sein vertrauensseliger Blick bringt alle zum Lächeln. Er scheint nicht einmal zu merken, wie sich überall Licht, Güte, Liebe, Verehrung für die Schönheit und Zahnheilkunde verbreiten. In seiner Umgebung kommt man nicht umhin, voller Entzückung auf dieselbe Weise zu reagieren.
Er ist zum fünften Mal verheiratet.
Seine erste Frau: Silvestra von Veler, Volleyball-Trainerin, mit der er zwei Jahre zusammenlebte, tödlich verunglückt. Kinder: Peter und Paul, ums Leben gekommen.
Seine zweite Frau: Odette Louisa Pak, Archäologin, mit der er zwei Jahre zusammenlebte, vermißt. Kinder: Roman und Tiberius, vermißt.
Seine dritte Frau: Sofia Gubaidulina, Bankangestellte, mit der er zwei Jahre zusammenlebte, gestorben. Kinder: Alexej, Nikolaj, Olga, Umert und Selma Lagerlöf, gestorben.
Seine vierte Frau: Placida Irma Minkewitsch, Semiotikerin, mit der er zwei Jahre zusammenlebte, ertrunken. Kinder: André, Audronė und Laima, ertrunken.
Seine fünfte Frau: Dora Freidheim, Zahnärztin, mit der er seit anderthalb Jahren zusammenlebt. Kinder aus der fünften Ehe: Kyrill und Method (Zwillinge).

(aus dem Litauischen von Mala Vikaite, © ERATA 2005)


Verraten, verleugnen, verleumden

Mein pathologisches Verlangen nach Europäisierung ist ein Atavismus, ein stichelnder Schwanzknochen.
Zunächst wurden zwei große Bernsteine und ein Fernseher der Marke „Šilelis“ verkauft, um an den Generalschlüssel nach Polen zu gelangen. Die kriselnden Zeitschriften „Projekt“ und „Sztuka“, Farbfotos von Papst Johannes Paul II., christliche Bücher – heißbegehrt und en masse gekauft, die „Trybuna ludu“, Kurt Vonnegut, Steven King, Giorgio Vasaris Werke und sogar eine in Leder gebundene Prachtausgabe der Adventistenbibel, die ich trotzdem nie gelesen habe.
Nein, General Wojciech Jaruzelski und sein Kriegsrecht haben mir nie gefallen. In Paris – Kastanien und Derrida, hier aber ist alles grau, Kaffee mit Bodensatz, weinerliche Intellektuelle, die sich immer noch verpflichtet fühlen, von Wilno, Rosy, Ostra Brama, Serdce Syna zu sprechen, was ich von Adam Mickiewicz halte, das schwere Leben przy komunie: stundenlanges Anstehen nach Fleisch. Aber es war doch, es war doch einmal ein Staat, eine Kultur, die fortschrittlichste Verfassung ... Beredtes Schweigen, man hat Mitleid mit einem, der von der Geschichte an den Rand des Sumpfes geschleudert wurde.
Valuta-Shops „Pewex“, „Pewex“, „Pewex“ – eine Ikonostasis voll unbekannter Getränke, die mir vermeintliche Dissidenten für D-Mark kauften, heute weiß ich: mich haben CIA-Agenten geködert. Ihnen muß ich dankbar sein, daß sie meine Geschmacksnerven erweckt haben, die bis zu jenem Zeitpunkt nur Wasser von Wodka unterscheiden konnten. Danke! Danke, Amerika, daß ich nun Gin von Tonic unterscheide!
Die wirkliche intellektuelle Bildung: Streifzüge an der Weichsel, Kantors „Cricoteka“, Pornovideos in einem Samtkeller, Konzeptualismus, Plakatkunst, das Kabarett „Pod Baranami“, Wodka wyborowa, feilgebotene Lederjacken und die ambitionierte Hoffnung, daß sich die Welt eines Tages verändern wird:

Und an den Bäumen.
Werden statt Blätter
Hängen
Die Kommunisten.

Dann das Jahr 1989 – in Vilnius kauften wir zehn Wasserpumpen namens „Malyš“.
Ich hatte ein T-Shirt mit der Aufschrift „Canada“ und eins mit „Toronto“. Das war fast eine Kampfansage an Moskau. Wir wollten nicht mehr mit M.C. Russen sein, sorgfältig planten wir die Details unserer Flucht – über Ungarn nach Österreich, Deutschland ... Südafrika, dort war gerade das Apartheid-System zusammengebrochen. Die Schwarzen – nicht auf Rache bedacht, sondern besorgt, daß alle davonlaufen könnten – sicherten den Weißen nachdrücklich Vergünstigungen zu. Solche wollten wir sein. Wir fühlten uns würdig, Afrikaner zu werden und keine Sklaven zu sein.
Sommer. Die rasch demokratisierten ungarischen Grenzer schossen nicht mehr auf die ostdeutschen Ratten, die Admiral Honeckers Schiff verließen, höchstens aus Versehen. Hunderte, Tausende von ihnen flohen über Sopron nach Österreich, die Mauer war löchrig geworden – ein Sieb der Hoffnung. Wir versuchten, uns ihnen anzuschließen, Verrat zu üben an der SSSR – unserer Heimat, unserer zusammenbrechenden sowjetischen Heimat, die uns einen Tod im Ostblock garantierte.
Wir blieben in Budapest. Nein, nicht im Flüchtlingslager, wie mieteten uns eine ethnographische Luxuswohnung – der Verkauf der Wasserpumpen machte dies möglich.
Nach zwei Monaten hatten wir alle Museen besucht, Bekanntschaft mit dem Sexgeschäft geschlossen, bis zum Abwinken in die Donau gespuckt, in den Parks herumgelegen, Wein probiert, uns an Gulasch vergiftet, Buda und Pest durchwandert, sogar das angebliche Grab von Imre Nagy gefunden und dort eine Schweigeminute eingelegt. Dann war das Geld alle. Es gab keinen anderen Ausweg, als nach Österreich zu fliehen und dort ...
In Sopron – vom Alkohol aufgedunsene junge Ostdeutsche mit riesigen Rucksäcken. Ein Haufen Verräter am Sozialismus genauso wie wir – alle Schweine. Bis zur Mauer sind es etwa 10 Kilometer. In den Kapitalismus muß man nachts flüchten. Ja, wir hatten Appetit und Lust zu naschen. Natürlich, so der Verkäufer im Feinkostladen von Sopron, würden die Ungarn nicht mehr schießen. Hier entlang, zeigte er uns auf der Karte, ist es am besten. Aber ein Zurück wird es nicht geben. Niemals.
Wir tranken Kaffee. Tokajer. Zweifel beschlichen uns.
Wir bestellten noch eine Runde. Und kamen zu dem Schluß: nein, wir werden keine Afrikaner, die Kultur ist zu fremd: Voodoo. Wir sind noch jung. Über Lemberg, wo wir Aufenthalt hatten und hoffnungslos an einer Schießbude herumballerten, kehrten wir heim in die Litauische SSR. Wir wurden wieder Russen und dachten – für immer.
Im sowjetischen Vilnius bin ich aus dem Komsomol nicht ausgetreten, habe ich mir das dreifarbige Abzeichen nicht angesteckt, meinen Wehrpaß nicht zerrissen, und hätte ich einen Freifahrtsschein gehabt, hätte ich auch ihn aufbewahrt. Ich wollte in die Partei – aber man nahm mich nicht. Warum? Bis heute finde ich darauf keine Antwort. Unzuverlässig? Abtrünnig? Ein krummer Hund?
Ich wäre Kommunist geworden. Ein richtiger Russe. Ein bißchen Litauer. Heimlich in der Seele – ein Pole. Die Freundschaft der Völker – ein in meiner Brust köchelnder Eintopf. Seine Ingredentien – international zusammengewürfelt: Gombrowicz, Žemaitė, Nabokov, Šimonis, Gorki, Witkiewicz. Gewürzt mit französischen Existentialisten, Neuen Wilden, dem Bariton Josif Kobzon, McDonald’s. Nur gemeinsam sind wir stark! Leider konnte ich mich in keine der Parteien einschleichen. Vor nicht allzu langer Zeit haben sogar Rußlands radikale Nacboli zugeben müssen, daß sie mit mir nichts am Hut haben. Das sollte mir zu denken geben.
Demokratie. Ein Christentum mit menschlichem Antlitz ohne Inquisition, das aufbricht wie eine Eiterbeule. Priester. Predigten. Patriotische Stehaufmännchen auf den Gediminas-Säulen. Prozessionen. Taumelnde Alte mit wehenden Fahnen. Tragik. Tränen. Kreuze. Klagen. Kirchenlieder. Das reinste Horrormärchen.
Der gelähmte Mathematikprofessor U.V. aus Norwegen, der mit seinem muskulösen Adlatus zu einer wissenschaftlichen Konferenz nach Vilnius gekommen ist, bittet mich, ihm das Ghetto zu zeigen. Es gab hier ein Ghetto, ja, ich weiß, daß es nicht nur in Warschau existierte. Ja, ja, auch hier.
Der Rabbiner in der Synagoge erzählt mit bewegten Worten von Paneriai, einem Litauerbataillon namens Fliegender Holländer und sieht mich mißtrauisch an. Welcher Nationalität ich sei? Meine Nationalität?! Nicht mehr Russe, vielleicht adaptierter Litauer, kastrierter Pole ... Ich lese Hesse, interessiere mich für Vydūnas, Albert Camus. Ja, ich vergaß, ich bin fast ein Litauer, ein vom wiederaufkeimenden Bazillus des Nationalismus à la Kudirka unfreiwillig Infizierter: alles geschieht ja jetzt in seinem Namen.
Die norwegische Hakennase U.V. verteidigt mich gegenüber dem Rabbiner – ein ordentlicher, junger Mann, unschuldig. Ausgiebig zeigt er mir das Ghetto, erzählt vom Litauischen Großfürstentum, Čiurlionis, vom Barock, der Kunstschule Kaunas, dem Aufstand in Memel, wirklich finster, wie vieles noch unbekannt ist. Was ich alles nicht weiß? Nicht weiter schlimm, das Leben vor den Augen werde ich schon alles verstehen lernen, beruhigt mich U.V. und lädt mich zum Abendessen ein. Ich argwöhne, daß sich mein Horizont erweitern wird.
Wir heben den gelähmten U.V. aus dem Auto. Im Restaurant gibt es keinen freien Platz. Wieder zurück. Woandershin. Dort ist auch nichts frei. Schieben. Absetzen. Noch einmal anheben. Auch hier ist nichts frei.
Schneeregen. Ich fange an, mich, die Mathematik, Norwegen, diesen Adlatus – einen erfolglosen Teilnehmer an den Olympischen Spielen von Moskau – zu hassen. Vilnius ist das Loch im Arsch, und ich bin mitten drin. Nicht verzweifeln, in Oslo ist es abends auch schwer, einen Platz ihm Restaurant zu bekommen, beruhigt mich U.V. Das glaube ich nicht, daß Mittwoch abend um sieben Uhr in Oslo alles reserviert ist. Ich hasse Vilnius, ich tue so, als ob ich mit der Groteske des heutigen Tages nichts zu tun habe, ich bin nicht von hier, ich bin geistig anders disponiert.
Im Restaurant „Lokys“ gibt es freie Plätze, natürlich im Keller. Der Rollstuhl bleibt zwischen den Stufen stecken. Wir können nicht weiter, kommen nicht vorwärts mit dem Professor im wiedergeborenen Litauen. Nirgendwohin. Schließlich essen wir im Hotelzimmer des „Lietuva“ ein Brathähnchen mit den Händen. Der fettige Mund von U.V. erzählt vom Holocaust, ohne jemanden zu beschuldigen, nennt einfach die Fakten, schmatzt mit Wohlbehagen. Nein, ich bin kein Litauer, ich verzichte auf meinen Anteil am Blut. Nein, ich bin kein Litauer! Solche Leute gibt es hier nicht! Wer dann? fragt U.V. Ich werde nachdenken – ein ganzes Jahrzehnt bis zum Jahre 2000 werde ich lesen, vielleicht kapiere ich es dann. Hallelujah!
Die Nationalität verfolgt einen jetzt aufdringlicher als die Kultur. Wie lästig. Besonders Byzanz, das es nicht mehr gibt, könnte meiner Meinung nach jederzeit auferstehen. Das beunruhigt mich.
Sie sind Russe? – eine nichtversiegende Frage im vereinten Deutschland. Nein, Nazi, Faschist, so wie Sie – von der Gestapo. Sie machen wohl Witze. Wollen Sie sich überzeugen? Litauen, Litauen, wo liegt denn das? Bei Stuttgart. Nein, das kann nicht sein! – beleidigt wendet man sich ab. Neein, es liegt an der Ostsee, Teufelsmuseum, Maciunas, Fluxus, Sabonis ... Quatsch, bei Stuttgart, ich schwöre es! Dann überfällt man mich mit der Frage, ob ich nicht in Deutschland bleiben, mich assimilieren möchte. Ja, allein davon träume ich, im längst schon freien Litauen – nur Wälder und Holzböcke, immer noch umgibt uns ein Hauch von Kannibalismus, uns, die Faschisten, Judenmörder, es ist schwierig – die Kommunisten haben wieder die Wahlen gewonnen. Aber Sie schreiben doch auf Russisch? Ich verliere nie die Lust, mich zu erklären. Wir schreiben nicht nur, sondern komponieren auch, malen, schnitzen, Wasserleitung und Umweltschutz – alles aus Byzanz übernommen – die alte Rus, vielleicht haben Sie schon einmal vom asiatischen Kiew gehört? Interessant, sehr interessant. Ja, für mich ist es auch interessant, da zu leben, gebe ich zu: Lotterien, Selbstmörder, viele sinnträchtige Ballspiele, die Idioten laufen frei herum, ganz ohne Käfig und lernen schöne Lieder, Rostropowitsch kommt oft auf Besuch, Lord Menuhin hat sogar gesagt: Lietuva – ašara mano aky. Und welchen Eindruck hinterläßt die freie westliche Welt? Welchen? Einen freien. Phantastisch, unverwechselbar, ich habe Jeans auf Bäumen wachsen sehen! Da haben Sie sich wahrscheinlich geirrt. Wissen Sie eigentlich, daß wir, die sogenannten Litauer, nicht fünf sondern vier Zehen haben? Irgendwo habe ich das doch gelesen, ja, jetzt erinnere ich mich, ja, ja, in der Encyclopaedia Britannica – Irrtum ist ausgeschlossen.
Die Hoffnung, daß ich für jemanden notwendig oder interessant bin, wird zerschlagen wie der Rubel. Die Welt ist in dieser Hinsicht nicht gerecht, eine andere wird es nicht geben, obwohl ich Schreibmaschine gegen Computer, Wodka gegen Wein eingetauscht habe, immer mehr Grünzeug futtere und sogar Schröder in Hannover die Hand geschüttelt habe. Die verführerische Rettung – sie immer weiter in eine nicht zu erkennende, nicht zu benennende, fremde Welt zu verzerren und bis zum Ekel abzuwandeln. Täglich. Den Wunsch zu beweisen hat das Verlangen zu täuschen, sich selbst zu täuschen, abgelöst. Bekennen, leugnen, besudeln, verachten, demütigen – als Schnellstraße, damit die anderen dich nicht einholen, du mußt dich nur konzentrieren.
Herumrotzen und motzen – das bin ich, der in jeglicher Beziehung nicht korrekte litauische Schriftsteller Herkus Kunčius, der de Sade gegen Celine, Pasternaks „Doktor Schiwago“ gegen Makarenkos pädagogisches Poem „Der Weg ins Leben“ eingetauscht hat.
Nichts verwundert mehr heutzutage, würde sich Jesus Christus unvorsichtigerweise auf dem Berg der Kreuze zeigen, würde ich ihn verraten wie einen Mosad-Agenten, sollen sich doch die Gelehrten den Kopf zerbrechen, was mit ihm geschehen soll. Weshalb sollte sich das eigentlich nicht noch einmal wiederholen? Die Bedingungen sind wieder günstig: das dritte Jahrtausend hat gerade erst begonnen, und wir sind immer noch jung und voller Energie.


Erklärungen

„Trybuna ludu“: polnische Tageszeitung
Rosy (poln.): Rasų-Friedhof in Vilnius, auf dem litauische, polnische und weißrussische Berühmtheiten begraben sind
Ostra Brama (poln.): Aušra-Tor: katholische Wallfahrtsstätte in Vilnius – eine Kapelle in der Stadtmauer mit wundertätigem Marienbildnis
Serdce Syna (poln.): Herz des Sohnes – das Herz von Marschall Józef Piłsudski (1867-1935), zusammen mit seiner Mutter Maria auf dem Rasų-Friedhof (Rosy) begraben
przy komunie (poln.): unter den Kommunisten
M.C. – Michail Sergejewitsch Gorbatschow, hier nur mit den Initialen seines Vor- und Vaternamens genannt. Das kyrillische S gleicht dem lateinischen C.
SSSR (russ.): UdSSR
SSR (russ.): Abk. für Sozialistische Sowjetrepublik
Komsomol (russ.): kommunistischer Jugendverband
dreifarbiges Abzeichen: Abzeichen mit der litauischen Fahne (gelb, grün, rot)
Žemaitė: litauische Schriftstellerin (1845-1921)
Šimonis: litauischer Maler aus der ersten Hälfte des 20. Jh.
Nacboli (russ.): Nationalbolschewisten
Gediminas-Säule: an drei Säulen erinnerndes Symbol in einem alten litauischen Siegel, das Ende der 1980er Jahre zum Symbol der Wiedergeburt Litauens wurde
Paneriai: bei Vilnius gelegener Wald, in dem von 1941 bis 1944 ein Großteil der jüdischen Bevölkerung, auch unter Beteiligung Einheimischer, erschossen wurde
Vydūnas: litauischer Schriftsteller und Philosoph (1868-1953), mystisch beeinflußt, trat für die nationale Besinnung ein
Kudirka: litauischer Schriftsteller und Publizist (1858-1899), in der litauischen Nationalbewegung engagiert
Čiurlionis: litauischer Maler und Komponist (1875-1911)
Aufstand in Memel: im Januar 1923 besetzten litauische Freischärler Memel (Klaipėda), das durch den Frieden von Versaille erst Mandatsgebiet des Völkerbundes war, dann treuhänderisch durch Frankreich verwaltet wurde.
Maciunas: Begründer der Fluxus-Bewegung (1931-1978)
Sabonis: international erfolgreicher litauischer Basketballspieler
Lietuva – ašara mano aky (lit).: Litauen – du Träne in meinem Auge
Berg der Kreuze: Hügel in der Nähe der litauischen Stadt Šiauliai, der mit Kreuzen übersät ist

(© aus dem Litauischen von Mala Vikaite)

 

 


Ihre Meinung zu den Texten per eMail.

Zum Autor

Zum Übersetzer

Zum Buch !