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Inger Kock


Aussicht

Ich setze mich ganz dicht an den Rand und schaue herum. Hier oben herrsche ich über die Aussicht. Mit diesem Satz gebe ich mich zufrieden, mit diesem Sprung in die Gedankengänge dahinten. Mit hinten meine ich das Bewußtsein.
Ich habe mich heute fein ausstaffiert. Nicht immer ist es so. Heute ist eben das Besondere groß geschrieben, einfach so. Meine Beinchen baumeln hinunter, es ist sehr hoch hier, aber schließlich bin ich fast so etwas wie die Hausherrin.

Das Haus – meins – ist umschlossen von riesigen Grenzen. Den­noch, hier von oben ist es fast bloß ein Sprung und ich bin draußen. Meistens, ich erinnere nichts Gegenteiliges, genügt es mir, von hier zu schauen. Weit, weit nach draußen. Hm, nach Innen ist es noch viel weiter. Im Innen ist selbst das, was noch nicht ist. Vielleicht wird es klarer, wenn ich einfach weiterspreche.
Mit “ausstaffiert” meine ich meine hübschen weißen Söckchen. Sie sind etwas kurz, aber trotzdem immer umgeschlagen an den Knöcheln, denn Mama meint, es sei besonders neckisch und mädchenhaft, und das wolle ich doch sein, nicht? Aber die­se Söckchen werden von den Schuhen aufgegessen, wenn ich zu viel laufe. Manchmal ist es arg viel. Den ganzen Tag. Mama meint es ja gut, sagt sie, sagen alle. Aber ... sie ermüden dabei. Ich will aber weiter, und dann fressen die Schuhe meine Söckchen. Es ist ein unangenehmes Gefühl, die Söckchen da eingerollt auf halben Fuß im Schuh ... und ich habe gar keine Zeit, das zu richten, denn ich will doch weiter, spielen, laufen, springen.

Mama hat mir ein Kleidchen angezogen. Süß, sagt sie, ich soll ja süß aussehen, meine ich auch. Hat sie selbst genäht aus einem wunderschönen Blümchenstoff, hellblau. Leider hat die andere dort – ich mag sie jetzt nicht nennen – aus demselben Stoff ihr neues Kleid. Manchmal werden wir wie Schwestern angezogen. Obwohl wir es ja sind, denke ich oft, daß es vielleicht nicht so ist. Sie ist so anders. Sie meint, ich sei anders, ich sei ja nachgekommen, sei bestimmt irgendwo falsch bestellt wor­den und bloß so eine Nachahmung einer von ihr gewollten Schwester. Sie meint, eher eine billige Nachahmung. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Jetzt habe ich sie ausgetrickst, sie weiß nicht, wo ich bin, und ob sie mir bis hierher folgen kann, ist fraglich.

Die Zöpfchen sind auch frisch geflochten, mit hellblauen Schleifen an den Enden. Es tut immer weh. Das Flechten. Aber ich soll ja so eine niedliche kleine Kreatur sein, zum Aufessen hübsch, das muß ich alles hinnehmen, ich soll so sein, nicht anders, nicht wie ich vielleicht wirklich bin. Ich sitze ja deshalb hier oben, weil ich wirklich ich sein will. Habe mich hier versteckt. Wenn die Erwachsenen richtig hinschauen, werden sie mich sehen, sie werden aber denken, es sei ein Hirngespinst, von ihnen, nicht von mir, sie sähen schlecht, werden sie denken, und die Wirklichkeit verwerfen. Die Wirklichkeit ist, daß ich hier oben sitze, die Beine hängen lasse, die Welt begucke und dabei mein Gleichgewicht zurückgewinne.

Um mich herum ist es etwas feucht, fast naß, eine kristallklare Ausbuchtung dient mir als Rückenlehne, sie ist strahlend warm. Daneben ist ein sehr großes Rad, die Farben kommen mir immer wieder sehr bekannt vor, sie ändern sich ein wenig mit der Zeit. Manchmal ist die Farbe sehr rein, dann wieder sind Flecken oder Streifen oder beides drin. Ich habe schon versucht, ein System aufzustellen, wann was geschieht. Wenn ich traurig bin, falle ich irgendwie durch. Deshalb denke ich an einen Zusammenhang. Zwischen dem Auge und mir. Auf jeden Fall ist der Hintergrund meist eine Landschaft und darin spielt sich die Welt ab. Nicht unbedingt meine, aber still, schscht, das ist ein Geheimnis!

Eigentlich wollte ich nackt sein, mich einkuscheln mit meiner Haut in diese warme Feuchtigkeit neben dem grünen Rad und mich satt sehen am Gleichgewicht. Ach so: Wenn jemand nicht alles versteht, was gerade geschieht, also wovon ich spreche, das macht nichts, man versteht immer sowieso nur den angeleuchteten Teil. Was man nicht weiß, ist, daß man ja selber das Licht hält. Nun gerade halte ich das Licht so, daß bloß ich weiß, was ich meine, es handelt sich ja um mein Bewußtsein. Also nicht deines oder eures. Ach so, ich muß ja gar nicht mit euch oder dir sprechen, es lenkt mich ab.

Also ja, Mama würde es erschrecken, wenn sie mich nackt hier oben sähe. Obwohl, wie gesagt, sie sich nicht erlauben würde zu sehen. Ich sitze zwischen den Wimpern des unteren Augenlides und lasse die Beine hängen, sie schaukeln ein wenig, manchmal drehe ich mich um und schaue durch die Pupille, das ist eine Einbahnstraße, auch wenn ich da ein- und ausgehe. Zu mir. Zu meinem Bewußtsein. Oder manchmal zu meiner Er­wachsenen. Manchmal trete ich auch ins Absolute zurück. Manchmal ist es ein Spiel, sehr selten eine Pflicht. Denn auch ich verstehe die Dinge aus anderer Sicht zu nehmen. Meine Erwachsene hat schon lange keine Mama mehr. Ich spiele bloß, daß ich sie habe, ich bin ja klein geblieben, ich muß nicht wachsen. Also stelle ich mir vor, Mama sei immer noch neben und auf mir. Sie hüpft auf mir herum, nicht körperlich, aber was ist der Unterschied? Sie hüpft. Damit es klarer ist: hüpfte. Sie ist schon lange fort. Ich bin lange fort von ihr, trotzdem, wie gesagt, ziehe ich sie her und unterstelle ihr das mit den Zöpfen und Kleidchen und Söckchen. Charakterisiere sie als eine mistige Mutter. Das ist eine literarische Aktion, sage ich mir, ich will ja nicht moralisch mit mir und den Geschehnissen umgehen.

Ich erwäge, dabei recke ich meinen Kopf seitlich, was mich an die Hühner dort im Hinten einer anderen Zeit erinnert, ins andere Auge zu gehen, ich habe nämlich dieses Lieblingsauge. Aber ich muß es mir sehr gut überlegen, denn irgendwie scheint es mir, daß ich doppelt da bin, und so, wie ich bin, hier, so wie ihr mich seht, oder nicht seht, bin ich nur eine. Die. Ich denke dabei an eine andere seelische Belastung. Jetzt wird es anders genannt, aber der technische Name sagt es nicht so treffend. Ich habe keine doppelte seelische Belastung, mal so oder mal so. Ich habe bloß die, die mir angeboren ist. Die mich schon immer begleitet. Die keinen Namen hat, die ich auch nicht wirklich kenne. Ich fühle sie. Also, das mit dem anderen Auge... nein! Das Spiel wäre, wir wären zwei und könnten uns von drüben her und umgekehrt Zeichen geben? Es ist mir suspekt.

Ich sitze am Auge, es ist ein Auge, obwohl mein Ich zwei hat, und beide in Funktion. Aber mit einem Auge ist die Allmacht zu verstehen, das Wissen, die Weisheit an sich und das Bewußtsein. Das habe ich alles gelernt. Etwas kryptisch, klar, ich mag das so, denn manchmal bin ich wirklich doppelt und lokalisiere mich selbst nicht mehr. Dann gehe ich meistens in das große Mich, schließe meine Augen und lege meine Gefühle, vor allem die Gefühle, auch die Gedanken, schlafen. Die großen Lider gehen zu, ich zerre von innen, damit sie sich senken, dann wird es fast dunkel, und ich sehe den roten Vorhang pulsen um mich herum. Das ist schön, warm, wunderbar gemütlich und nicht dasselbe wie das Absolute, das ich eigentlich nicht mag. Dort ist es nämlich ganz dunkel. Das ist dann, wenn mein Ich, das die Augen herumträgt, mich vergißt. Wenn es mich ausschaltet.
Ich sitze manchmal hier, weil das Ich mich herausschwemmt. Es sagt, es habe Kontakt zu mir über die Tränen. Ein Witz. Eher ist es so, daß mein Ich, wenn es Kontakt mit mir bekommt, über das Herz erfährt, aber sobald das geschieht, quellen die Tränen hervor. Ein kleiner, warmer Bach im Auge. Ich kauere mich in die Ecke und bade. Ja, dazu muß ich eben das Kleid und den Rest ausziehen, die Schuhe und die runtergerutschten Socken und sogar die Schleifen an den Zöpfen, denn die werden dann auch naß, vor allem salzig. Dann muß man sie auswaschen und bügeln, und wir haben ja kein elektrisches Licht und das Bügel­eisen mit den Kohlen muß lange vorbereitet werden und wegen einer Schleife oder zwei, tut das niemand ... Eigentlich gehört dieser Gedanke nicht hierher, der ist von der Kindheit von meinem Ich. Aber da ich die Kindheit per se bin, kann ich es sagen.

Wenn ich bade, mit den Beinen wild im Wasser plansche und die Tränen aus aufgescheuchten Wellen fließen, dann ändert sich das Auge. Die Iris verliert ihre Landschaften, wird grün mit Sprenkeln und Linien, die schwarze, strudelige Netzhaut ist einfach ein lichter wunderschöner Weg nach Haus. Zu meinem Zuhaus. Dort bin ich. Ach, ich wollte das nicht erzählen, vielleicht findet mich jemand dort? Es ist mein Geheimnis, ein dickes, festes, notwendiges Geheimnis. Vergiß es!
Heute bin ich hier der Aussicht wegen. Ich wollte eine Probe machen, ob mich jemand sieht. Es ist wie immer, niemand bemerkt etwas. Und dann schaue ich. Es tut gut, einfach zuzusehen! Aber nun ist es genug, ich ziehe mich jetzt über den nun nicht mehr dunklen Gang zurück, komme aber wieder, bestimmt!

(aus: Flüsternder Eukalyptus, © ERATA 2006)

 

 


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