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Gertrud Katzenstein

Inventur I

Die erste Station war ein Junge im zarten Alter. Seine strahlenden blauen Augen himmelten ihr entgegen, die weiße Haut schmiegte sich etwas zu weich an ihr Fleisch, beinahe wie eine etwas dickliche Rokokodame an einen lederhäutigen Kavalier. Sein Geruch bewegte sich zwischen Senf, Olivenöl und Weinessig. Er strahlte Wohlstand ab, sein einziges Verdienst war es, ein verwöhntes Kind regionaler Berühmtheiten zu sein. Sie wurde seine erste Liebe. In dieser Hinsicht versorgte er sie mit allerlei Nährstoffen. Für das Wohl ihres Geistes hatte er nichts zu bieten. Sie ließ es ihn spüren, er verwies unschuldig auf die Verdienste seiner Eltern. Seine ungeheuere Papageienbegabung verhalf ihm zu frühen Erfolgen. Er hörte einen lehrhaften Satz aus der phänomenologischen Philosophie, und schon sang er von allen Dächern die Arien von den Noëmata oder dergleichen. Jeder noch so große Gedanke verkam zur Plattitüde, wenn er ihn in seinem sinnlichen Mund zerknautschte. Im Grunde blieb ihm nichts anderes übrig, als darstellender Künst­ler zu werden. Hierfür war er prächtig disponiert, diese Aussicht war die erfolgbestickte Decke seiner elterlichen Wiege. Immerhin, was er zu geben imstande war, das gab er offen. Ein gutes Kind mit unglaublich schönen Augen und einer Treue im Leib, die später aus allen Löchern stank. Aber da war sie bereits über alle Berge, seine erste Liebe.

Ersetz mir die Mutter, imitiere ihre Stimme oder koch Königs­berger Klopse nach Art von Heimatver­triebenen. Steck dir dazu gefüllte Milchtüten unters Hemd. Du sollst wie sie aussehen. Jetzt laß die Mundwinkel hängen und deine Stimme in die Kniekehle rutschen. Nein, nicht so, ich höre noch deine Stimme heraus. Höre dir Mamas Probeaufnahmen unter Papas Regie an. Ja, ja, ich singe dir dafür „Amsterdam“ von Jaques Brel. Das mußte ich schon immer für Papa tun. Und als er weg war, für meine verlassene Mutter.

Sie wird gleich anrufen. Sag ihr, ich habe gut mit dir geschlafen und ab und zu dabei an die Staubflocken auf ihrem Parkett gedacht, aber auch an ihren dumpfen Liebhaber. Sie macht ihn alt, und sie wird durch ihn auch nicht gerade verjüngt. Ihre Verteidigung ist: ‚Dumm fickt gut.‘ Darauf trinkt sie triumphierend ihre Wodkapullen aus. Sie säuft sich dick und dämlich. Dabei wollte sie die Neuberin des 20. Jahrhunderts werden. Jetzt ist sie eine komische Alte mit rauher Stimme und grellfarbenen Sweatshirts am Leib.

Ist es dir auch aufgefallen, wie sie mich immer häu­figer mit ihren häuslichen Auftragszetteln attackiert. Es wird Zeit, daß sie wieder eine polnische Putze bezahlt. Aber dann kann sie mich nicht mehr sinnlos beschäftigen. Das tut sie so gern, weil ihre Beschäftigungen sie nicht mehr ausfüllen. Die Arbeit langweilt sie. Mehr und mehr verfällt sie in ihre angeborene bigotte Rohheit zurück. Die Verfeinerung ihres Wesens war nur temporär, ein biß­chen Abfärbe von Papa, der sie mit seinem romanischen Gemüt verzaubert hat. Für die Aufbaustücke brauchte Papa allerdings die teutonischen Heidenkräfte von Mama. Als ich Papa noch sehr ähnlich war, da nannte sie mich immer ‚Schwuler‘. Jetzt läßt sie es sein. Du bist ja da.

Sag ihr, daß ich ihr nicht mehr den Abhördiener für die nächste Scheiß-Inszenierung mache. Der Herr Wirfweg hat gar nichts von Brecht gelernt, nicht einmal das rechte Maß für den Genuß von Alko­hol. Stattdessen rennt Wirfweg verklemmt mit einer Colaflasche herum, dieser entzogene Trockene. Kein Wunder, daß die feuchten Hosen im Pu­blikum bei so viel Trockenheit ausbleiben. Ach ja, ich habe das schreckliche Stück vom Theatertürschließer gelesen. Dieses bläßliche Strichlippengesicht findest du so nett. Wie kann der sein Stück nur ‚Durstiges Graubein‘ nennen? Mit solchem Mist belästigt er Mama. Richte ihr aus, daß sie es nicht zu lesen braucht. Ich werde es Herrn Schmidt, unserem Weltdramatiker, weiterreichen. Soll der sich mit der ehrgeizigen Jugend plagen. Sonst heißt es gar nach Schmidts Tod, er habe sich nie um den Nachwuchs gekümmert. Hähähä, soll der sich den Scheiß reinziehen. Vielleicht liefert dein Türsteher neuen Stoff für Schmidts prothetisches Lachen. Wenn er sich dann durch Schmidts Neu­­bautür mit schmierigen Floskeln drängelt, wird Schmidt ihn prompt einladen: ‚Ich habe nichts gegen Fleisch einzuwenden. Fleisch – so oder so – ist immer gut, wenn es nicht stinkt.‘

Komm, wir zerschlagen Mamas Meißener Lieblingsporzellan, die Trophäen ihrer Kunst. In sechsundzwanzig Tagen lebt sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr mit Papa zusammen. Sie will sich immer noch nicht trennen, obwohl Nadia, seine neue Frau, durch Papa schon kinderreich geworden ist.

Mama soll sich auch unbedingt die altersschwarzen Augenränder mit Penatencreme übertünchen, sonst wird sie in Zukunft nur noch von ihren depressiven Studienkollegen besetzt. Ich finde nicht, daß meine Mama eine Tragödin ist. Wie soll sie denn Jammer und Schauder erregen? Sie wirkt doch sehr komisch mit den dünnen Beinchen unter dem aufgeblasenen Körper. Vergiß nicht, ihr auszurichten, daß sie ihren dumpfen Drögeheinrich nicht von der Schicht abzuholen braucht. Er ist bei seiner Zahnärztin Britta. Natürlich fickt er wieder mit dieser Riesenmöse, die von solchen Ausmaßen ist, als ob man eine Bockwurst in den Saal werfen würde. Hahahaha. Wenn du so weitermachst mit deiner Enthaltsamkeitstour, dann werde ich ganz gewiß Stammkunde bei der.

Mein Moschuswürmchen, würdest du für mich abwaschen. Ich koche dir dafür Papas Lieblingsgericht. Du willst zu deinem Liebsten, ich weiß. Diese C-Kategorie von Bühnenmensch. Ein blasierter Christdemokrat mit maulheldigem Antikommunismus. Dabei ist er mit seinem Schwaben-Charme den SED-lern zu Kreuze gekrochen. Er brachte ih­nen kistenweise Wein von seinen süddeutschen Tour­neen mit, damit sein Reisepaß aufs Neue ver­längert wird.

Ich verkaufe Papas Studienausgaben, den anderen Kram erst recht. Vom deutschen Geist hat er genug, dem fehlt nämlich die Naivität, sagt Papa. Seine Bücher hat er längst ver­gessen. Mama haßt volle Regale. Sie liest gar nicht gern, nur das, was sie dienstlich muß.

Ich heirate dich, die Mama freut sich. Sie weiß ja nicht, daß du sie und nicht mich liebst. Der Erlös ihres neuen Films ist für uns beide. Sie stapelt ihre Scheine in ihrem Sekretär. Schau nach, wieviel du ihr wert bist.

Warum sperrst du dich, obwohl es so schön mit uns beiden ist. Weil mein Vorgänger Bilder malt, Stücke schreibt, Regie führt und jeder Tätigkeit nachgeht, verspricht sie nur den richtigen Erfolg. Vorgestern schlief ich in einer Villa von San Francisco, gestern mit meiner Halbschwester in Paris, die behauptet, daß ich sogar besser als Papa sei, und heute schlief ich an der Werk­bank ein. Du freust dich über Mamas Schwank, der gestern im Fernsehen lief. Sie hat getanzt. Ich dachte, daß ihre Schenkel schon längst Spinnweben angesetzt haben.

Läßt du mich wieder allein? Den Spielzeugrevolver hier habe ich euch aus Paris mitgebracht. Damit könnt ihr euch in den Liebestod befördern. Ich richte währenddessen deine neue Wohnung her.

Mama weiß, daß du mir schadest. Sie steht aber tapfer ihrem Geschlecht bei. Solange ich dich lecke, wird sie dir hörig sein. Leg ihre Tagebücher wieder an die richtige Stelle, du neugieriges Mädchen! Das ist ein Ding, die hat ihre Karriere mit einem richtigen Fick begonnen. Mir spielt sie immer die keusche Liese vor. Wenigstens willst du dein Ziel ohne das erreichen. Steck mir etwas in den Arsch, damit ich mich zwischen Amerika und Asien nicht allzusehr langweilen muß. Vergleich mich nie wieder mit einem metamorphosischen Marsmenschen, sonst setz ich dir eine Orwellsche Ratte an die Halsschlagader. Einmal werde ich dich schlagen. Dann ist es endlich aus mit uns. Es klin­gelt. Ich bin nicht mehr da.

(aus: Inventuren. Stories und Begebenheiten aus dem Osten, © ERATA 2004)


Eine halbe Stunde Asyl

Ohne Halt flieg ich ins Abteil. Für eine halbe Stunde von da nach hier, wer weiß wohin. Etwas stellt sich in den Weg. Kein Kind, aber klein mit einem dreieckigen Hut. Ich kante mich mit spitzem Ellenbogen frei zum Sitz. Hörbares Zittern bedrängt den Raum. Hier ist einer noch übler dran. Da ist guter Aufenthalt. Doch schon nagen sich an meinem Knitterkleid schwarze Scheiben, blöde Augen fest. Nicht weit von mir das Rasseln und Bibbern, vor dem Gesicht eine Inflation von Schutzmitteln: gelbgerauchte Finger, bereifte Arme, Knisterstoff und stichflammiges Haar. Die zwei schwarzen Disken von meinem Gegenüber sind schon durch die Knitterfalten meines Kleids hinein ins Fleisch gelangt. Nächste Station: Eine rotbestrichene Mundwunde durchstöckelt das Abteil, gibt kurz dem Rasseln und Bibbern das Metrum an. Setzt sich mit krachender Naht. Nächste Station: Ein Rudel von Hunden mit seinen Gerüchen, Parfüm von Männerpissoirs, tritt ein, manche zweibeinig, gefolgt von einem glattrasierten Herrn mit festen Sohlen. Nächste Station: Den von Gebell, Gewimmer und Gestank konsonanten Raum stört das Rufen eines Marktschreiers für Jesus: Machet die Tore weit … Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld … Der Herr wird euch erlösen. Die dreieckbehutete Zwergin reißt die Türen auf, der Glattrasierte stößt den Erlösungsmichel unter kräftiger Parole ins Freie: Wir befreien dich zuerst, du Arschloch. Schuld war der zu schnelle Zug. Das Wimmern schläft endlich, und ich sehe eine verbrannte Masse statt Gesicht. Dann steige ich aus, das Kleid zu bügeln.

 

 


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