Sascha Heße
Noch über dem Genie steht mir derjenige, der schöpferisch ist, ohne genial zu sein.
Ein Künstler ist nichts anderes als ein Verbrecher, der intelligent genug ist, sich legal auszudrücken.
Wir wissen, daß Hitler ein verhinderter Künstler war. Gut, daß wir nicht wissen, wer von den Künstlern ein verhinderter Hitler ist!
aus: Den Anker in die Luft werfen, © ERATA 2008
Die Furcht vor dem Tod ist der höchste Ausdruck der Sorge um das Leben,
deren Wesen ganz ebenso – nur an Intensität geringer – in der Bangigkeit
darum zum Ausdruck kommt, was man essen und trinken, was anziehen soll.
Sind Letzteres „Bekümmernisse der Heiden“ – wie Kierkegaard sagt –, so ist
die Furcht vor dem Tod erst recht ein solches Bekümmernis. Jesus sagt in
der Bergpredigt: „Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken
werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das
Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung?“ In Bezug
auf die Todesfurcht könnte er vielleicht hinzusetzen: „Sorget ebenso nicht
um euren Tod. Ist nicht das Leben mehr, als was in ihm zugrundegeht?“
Im Menschen – mehr oder weniger tief und mehr oder weniger bewußt – lebt
die Sehnsucht, von den heidnischen Bekümmernissen frei zu werden, den Bann
zerschlagen zu bekommen, der ihn der Sorge um sein Leben verfallen sein
läßt – zuletzt der Sorge wegen des Sterbenmüssens, zuerst jedoch wegen all
der Probleme, die sich aussprechen lassen in Fragen wie: „Womit soll ich
künftig meinen Lebensunterhalt verdienen? Welcher Sache soll ich mich widmen,
welchen Beruf ergreifen? Wozu reichen meine Fähigkeiten? Was vermag ich
überhaupt? Wie kann ich mir in den Augen der Andern Geltung und Ansehen
verschaffen?“ – bis hinab zu den Fragen, die den heutigen Tag und die nächste
Zeit betreffen: „Was soll ich heute essen und trinken, was anziehen? Womit
muß ich mich heute beschäftigen, um meinen Pflichten nachzukommen?“
Die Antwort Schopenhauers auf jene Sehnsucht ist „die Verneinung des Willens
zum Leben“, die Askese – und zwar aufgrund des Gedankens, daß demjenigen
die Sorge um das Leben ersterben muß, der das Leben von sich weist. Der
Asket versucht, die Sorgen der Heiden dadurch zu überwinden, daß er die
Bedürfnisse nach dem, worauf die Sorgen jeweils sich richten, in sich ausrodet.
Abgesehen von der Frage, ob eine solche Lebensverneinung praktisch überhaupt
möglich sei, steht fest, daß dies nicht der
christliche Weg ist. Jesus predigt nicht die
Negation des Lebens, um von dessen Sorgen frei zu werden, sondern die Erhabenheit
darüber. Er sagt nicht: „Tötet alle Bedürftigkeit in euch ab!“, sondern:
„Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden
wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allen trachten die
Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürfet.“ Das
heißt doch: Ihr habt eure Bedürfnisse und sollt sie weiterhin haben. Nur
sollt ihr nicht in ihnen befangen sein, sondern
mit dem Innersten eures Daseins über ihnen stehen
– in dem Bewußtsein, daß es etwas Größeres gibt, dessen ihr würdig seid
und daran ihr teilhaben könnt.
Das Schwere freilich ist, diesen Aufschwung, der gefordert ist, wirklich
zu vollziehen. Denn wovon er geschehen soll,
ist ja das unmittelbar Erfahrbare, wohin aber,
ein bloß Gedachtes. Der Mensch kann sich subjektiv nur insofern erheben,
als er das Gegebensein eines Objektiven annimmt, daran er in seiner Erhabenheit
Halt zu finden vermag. So wenig er die Landschaft von oben betrachten kann,
ohne zu fliegen oder auf einem hohen Gebäude oder Berg zu stehen, das heißt
ohne ein von ihm Verschiedenes, Objektives in Anspruch zu nehmen, so wenig
kann er über die Sorge um das Leben, in allen ihren Erscheinungen, erhaben
sein, ohne zu glauben, daß ein Höheres, worauf er sich stellen könne, objektiv
da sei. Dieses Höhere aber ist das absolute Sein, das Ewige, Gott.
aus: Bewegungen des Zweifels, © ERATA 2006