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Herberto Helder

Stil

– Wenn ich wollte, würde ich verrückt. Ich kenne eine Menge furchtbarer Geschichten. Sah derart viel, bekam von außergewöhnlichen Fällen erzählt, ich selbst... Nun, manchmal bringe ich in all das keine Ordnung mehr. Denn, wissen Sie, nachts um vier wacht man auf, in einem leeren Zimmer, zündet sich eine Zigarette an... Verstehen Sie? Plötzlich läßt das kleine Licht des Streichholzes die Masse der Schatten hervortreten, das über den Stuhl fallende Hemd gewinnt einen ungeheuerlichen Umfang, unser Leben... verstehen Sie? ... unser Leben, das ganze Leben, da ist es wie... wie ein zu großes Ereignis... Ganz rasch muß man eine Ordnung hineinbringen. Zum Glück gibt es den Stil. Sie wissen nicht, was das ist? Also: der Stil ist eine subtile Art, das Verworrene und Gewaltsame des Lebens auf die gedankliche Ebene einer Bedeutungseinheit zu verlagern. Bin ich Ihnen verständlich? Nein? Wir ertragen nun einmal diese verdammte Unordnung des Lebens nicht. Und dann greifen wir nach ihr und reduzieren sie auf zwei oder drei Gemeinplätze, die sich irgendwie zusammenfinden. Dann, mittels einer verstandesmäßigen Vorgehensweise, sagen wir, daß diese Gemeinplätze sich in einem gemeinsamen Gemeinplatz treffen, dem der Liebe nehmen wir einmal an oder dem des Todes. Verstehen Sie? Eine dieser Abstraktionen, die zu allem taugen. Man raucht die Zigarette zu Ende, nicht wahr, wird wieder ruhig. Doch können Sie sich vorstellen, wie das ist, jede Nacht, über Wochen, Monate oder Jahre hinweg?
Einmal ging ich zu einem Arzt.
– Doktor, ich bin verrückt – sagte ich. – Ich muß verrückt sein.
– Haben Sie Geisteskranke in Ihrer Familie – fragte der Arzt. – Alkoholiker, Syphilitiker?
– Ja. Alles miteinander. Verrückte, Alkoholiker, Syphilitiker, Mystiker, Prostituierte, Homosexuelle. Bin ich wahnsinnig?
Der Arzt hatte Sinn für Humor und verschrieb mir Barbiturate.
– Ich brauche keine Medikamente – sagte ich. – Ich kenne finstere Geschichten über das Leben. Was helfen mir da Barbiturate?
Die Wahrheit ist, ich hatte noch keinen Stil gefunden. Doch hören Sie, mein Freund: ich kenne da zum Beispiel die Geschichte eines alten Mannes. Auch die eines jungen Mannes kenne ich. Die des alten ist besser, denn er war sehr alt, was hatte er noch groß zu erwarten? Doch sehen Sie, hören Sie gut zu. Dieser uralte Mann würde nie ablassen von der Liebe. Er liebte Blumen. Inmitten seiner Einsamkeit hatte er Vasen mit Orchideen. Die Welt ist so, was wollen Sie? Unbedingt muß man einen Stil finden. Es wäre gut, große Plakate in den Straßen anzubringen, im Fernsehen und in den Kinos zu warnen. Suchen Sie Ihren Stil, wenn Sie nicht im Sumpf landen wollen. Ich fand meinen Stil, als ich Mathematik studierte und etwas Musik hörte. – Johann Sebastian Bach. Kennen Sie das Brandenburgische Konzert Nr. 5? Bestimmt kennen Sie diese ganz einfache, so harmonische und endgültige Sache, ein System aus drei Gleichungen mit drei Unbekannten. Ursprünglich, elementar. Ich habe Tausende von Gleichungen gelöst. Danach hörte ich Bach. Brachte es zu einem Stil. Nachts, wenn ich aufwache, um vier Uhr morgens, wende ich ihn an. Es ist einfach: wenn ich hochfahre, voller Entsetzen, und sehe, wie sich mitten in meinem Zimmer die gewaltigen unverständlichen Schatten erheben, wenn an den Fingerspitzen das kleine Licht entsteht und die ganze gewaltige Melancholie der Welt mit ihrer verborgenen Stimme aufzusteigen scheint aus dem Blut... Dann beginne ich, meinen Stil zu kreieren. Bewundernswerte Übung, das. Manchmal gebrauche ich den Vorgang, die Wörter zu entleeren. Wissen Sie, wie das geht? Ich greife ein fundamentales Wort auf. Fundamentale Wörter, merkwürdig... Ich greife also ein fundamentales Wort auf: Liebe, Krankheit, Angst, Tod, Metamorphose. Sage es leise, zwanzig Mal. Schon bedeutet es nichts mehr. Es ist eine Art und Weise, es zum Stil zu bringen. Beachten Sie nun folgenden Kniff:

Die Kinder werden irrsinnig in den Dingen der Poesie.
Lauschen Sie einen Augenblick, wie sie gefangen bleiben
auf der Höhe dieses Schreis, wie die Ewigkeit
ihnen Gehör schenkt,
während sie schreien und schreien.
(...)
– Und wir sind nichts weiter als das Gedicht, in dem
die Kinder sich irrsinnig entfernen.

Es handelt sich um den Auszug aus einem Gedicht. Mögen Sie Poesie? Wissen Sie, was das ist, Poesie? Haben Sie Angst vor ihr? Eine teuflische Freude daran?
Schauen Sie. Auch das ist ein Stil. Der Dichter stirbt nicht am Tod der Poesie. Das ist der Stil.
Hören Sie, wie diese riesigen Kinder schreien und immerzu schreien und dabei in die Ewigkeit eingehen? Bedenken Sie: wir sind das Gedicht, in dem sie sich entfernen. Wie? Irrsinnig. Wer würde diese herrlichen Schreie schon ertragen? Der Dichter aber bringt es zum Stil.
Verzeihen Sie, seien Sie etwas aufrichtiger. Seien Sie doch wenigstens intelligenter. Man sieht doch wohl, daß ich nicht irrsinnig bin. Ich nicht. Die Kinder sind es, die irrsinnig werden, und zwar deshalb, weil es ihnen an einem Stil mangelt.
Wissen Sie, wovon ich sprach? Vom Leben? Von der Art und Weise, sich darin zurechtzufinden? Na ja, Sie sind ja nicht blöde, doch sehr helle sind Sie eben auch nicht. Ich kenne das. Kenne das Kaliber. Vielleicht war ich auch schon so. Sie üben die Künste mit Zurückhaltung aus: nicht die Poesie, sondern die Poesien. Es läßt sich kultivieren, offensichtlich. Vielleicht unterliegen Sie zu sehr der Macht eines Stils. Doch lauschen Sie einmal, der Irrsinn, der finstere wunderbare Irrsinn... Wäre das am Ende nicht nobler, sagen wir, angemessener dem großen Geheimnis unseres Menschseins?
Vielleicht sind Sie ja intelligenter als ich.

Aus dem Portugiesischen von Markus Sahr

© ERATA 2006



 

 


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