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Wladislaw Hedeler

Aus dem Vorwort

Zu den wenig bekannten und durch die Gulagforschung kaum erschlossenen Seiten der Geschichte der sogenannten Besserungsarbeitslager gehört die Herausgabe und Verbreitung von Lagerzeitungen. Alla Gortschewa legte 1996 in Rußland eine erste Überblicksdarstellung zur Gulag-Presse vor, die eine unvollständige Bibliographie von 137 Lagerzeitungen enthält.
Von 1923 bis 1960 existierten in der UdSSR insgesamt 476 solcher Haftorte, die unterschiedlich lange, zwischen einem Jahr und dreißig Jahren, bestanden. Von Anfang 1920 bis Ende der 1950er Jahre wurden zwischen 15 und 18 Millionen Häftlinge zu „Besserungsarbeit“ in den zu unterschiedlicher Zeit gegründeten und unterschiedlich lange bestehenden Lagerkomplexen mit ihren Tausenden Haupt- und Nebenlagern verurteilt.
Am verbreitesten waren in der UdSSR von 1931 bis 1960 Besserungsarbeitslager, die zwischen einem und fünf Jahren existierten. Davon gab es ca. 275. An zweiter Stelle folgten 102 maximal ein Jahr bestehende Lager. An dritter Stelle 84, zwischen fünf und zehn Jahren bestehende Lager. Diese Rangfolge änderte sich nur in den Kriegsjahren 1941 bis 1945, als die maximal ein Jahr existierenden Lager auf Platz eins aufrückten.
In der erwähnten Bibliographie Gortschewas, die trotz ihrer Unvollständigkeit im-mer noch als die zu diesem Thema umfangreichste gilt, ist die im Karlag, dem Karagan-dinsker Besserungsarbeitslager, in den 30er Jahren herausgegebene Lagerzeitung „Put-jowka“ nicht verzeichnet. Nur die in den 1940er/50er Jahren verlegte Nachfolge-Zeitung „Für die sozialistische Landwirtschaft“ wird erwähnt. Beide Zeitungen waren ausschließlich für den Vertrieb innerhalb des Lagers bestimmt, das von 1929 bis 1959 auf dem Territorium Kasachstans existierte.
Der Name „Putjowka“ (Dienstreiseauftrag) wurde in Anlehnung an den Titel des da-mals populären ersten abendfüllenden Tonfilms „Putjowka w shisn“ (Der Weg ins Le-ben, 1931) von Nikolai Ekk gewählt. Er handelt von der Befreiung verwahrloster Jugend-licher von ihrer Vergangenheit, von ihrer Weihe zu gleichberechtigten Mitgliedern der neuen Gesellschaft.
Bei der russischsprachigen „Putjowka“ und ihrer von März 1934 bis Februar 1935 er-scheinenden insgesamt 49 Parallelausgaben in kasachischer Sprache („Shana Shol“ – „Neues Leben“) handelte es sich um das Sprachrohr der für kultur-erzieherische Arbeit zuständigen Abteilung der Lageradministration. Der Chefredakteur war als Leiter dieser Abteilung einer der Stellvertreter des Lagerkommandanten. Die im Lager zu sozialisti-schen Menschen „umgeschmiedeten“ Häftlinge erhielten nach verbüßter Zwangsarbeit in der kasachischen Steppe ihre „Putjowka“ in die Sowjetgesellschaft, um hier ein neues Leben zu beginnen.
Welcher Stellenwert der auf Disziplinierung und Mobilisierung ausgerichteter Lagerpresse beigemessen wurde, könnte auf dem Hintergrund der zur gleichen Zeit er-folgten Einstellung von 15 überregionalen sowjetischen Zeitungen im Jahre 1933 erläutert werden. Die „Putjowka“, die ihrem Escheinungsbild nach dem Zentralorgan der KPdSU(B), der „Prawda“, folgte, erschien anfangs dreimal monatlich, dann als Wochen-zeitung, später alle drei Tage, wobei Formate, Gestaltung, Auflagenhöhe und Umfang (zwischen 2 und 4, selten 6 Seiten) wechselten. Sie wurde von Häftlingen gesetzt und in der lagereigenen Druckerei in einer Auflage bis zu 5.900 Exemplaren gedruckt, im Abonnement vertrieben, an Wandzeitungen ausgehangen, in den Häftlingsbaracken verlesen und in für Häftlinge zugänglichen Orten, wie z. B. den Barbierstuben, ausgelegt.
Im Karlag mußten in der Entstehungsphase des Lagers zwischen 12.000 und 30.000 Häftlinge Zwangsarbeit leisten. Zum 1. Januar 1934 waren es 24.148 Häftlinge, darunter 3.011 Frauen. Sie waren die eigentlichen Adressaten der Artikel. Sie nutzten die Zeitung auf ihre Weise. Im Befehl des Kommandanten vom 23. Mai 1935 „Über die Versorgung der Häftlinge mit der Lagerzeitung“ heißt es, daß sie zweckentfremdet verwendet wird, als Tischdecke, als Zigarettenpapier zum Rauchen, oder als Unterlage für die unter den Betten abgelegten Sachen dient.
Im ersten Jahrgang 1932 erschienen 28 Ausgaben, auf deren Inhalt nur aus Artikeln und Leserbriefen geschlossen werden kann, die in den Ausgaben von 1933 publiziert wurden, da im Archiv des Karlag in Karaganda leider keine Exemplare dieses Jahrgangs überliefert sind. Daher konnte für diese Publikation nur der fast lückenlose Bestand für die Zeit von Januar 1933 bis März 1935 ausgewertet werden.
Vom 10. Januar bis 6. Dezember 1933 erschienen 50 Ausgaben, 1934 waren es 78 (die ersten 15, bis März 1934 herausgegebenen Ausgaben fehlen leider im Archiv), der archivierte Bestand bricht mit der Nr. 23 vom 12. März 1935 ab. Insgesamt sind 190 „Putjowkas“ erschienen. Von Januar bis zum 12. Mai 1933 wurde die Zeitung in einer Auflage von 2.000 Exemplaren gedruckt, danach stieg die Auflage zunächst auf 3.000 Exemplare, der Preis von 3 auf 5 Kopeken, an. Von nun an erschien sie nicht mehr dreimal im Mo-nat, sondern wöchentlich. Auf vier Zeitungsseiten fanden im Durchschnitt 20 bis 30 Artikel Platz.
1933 übte I. D. Schtschigarow, bis Mai 1934 A. Schitow, nach ihm M. L. Kljuschin die Funktion des Chefredakteurs aus. Im Juli 1934 übernahmen I. Kostromin und W. Iwanow abwechselnd die Leitung der Redaktion. 1935 zeichnete P. Sokolow als verantwortlicher Redakteur.
Im Regelfall betrug der Umfang 4 Seiten, sechsseitige Ausgaben waren die Ausnahme. Die Auflage betrug 1934 zeitweilig 4.300 Exemplare. Mit steigender Auflage änderte sich das Format, die Zeitung wurde kleiner, 28 x 40 cm. Nur im November 1934, aus Anlaß des Jahrestages der Oktoberrevolution, erschien die Zeitung wieder im Großformat und Zweifarbdruck.
Am 7. November 1933 erschien die Putjowka erstmalig mit Porträtzeichnungen von Regierungsmitgliedern auf der Titelseite, elf Tage später mit Fotos. Bis dahin enthielt die Zeitung ausschließlich Textbeiträge. Die Zeitung vom 6. Dezember enthielt darüber hinaus graphisch gestaltete Rubriken. Karikaturen, in denen die Mißstände im Karlag aufs Korn genommen wurden, sind in den Ausgaben der „Putjowka na posewnoj“ ab April 1934 zu finden.
Einzelne Zeichnungen wie der „kranke Traktor“, das die Rübe würgende Unkraut, der auf dem Tintenlöscher schaukelnde Bürokrat, oder der Faulpelz mit dem großen Eß-löffel wurden mehrfach verwendet. Ab Juli 1934 kamen weitere oft seitenbreite Schmuckelemente mit Motiven aus der Landwirtschaft hinzu, wie Viehtrieb, Heu- bzw. Gemüseernte, Schweine und Kühe.
Es gab auch einige wenige Ausgaben mit im Lager aufgenommenen Fotos aus dem Bereich der Tier- und Pflanzenproduktion. Häftlinge, die sich durch ihre Arbeit aus-zeichneten, wurden seit August 1934 mit Porträtzeichnungen geehrt, Fotos von Häftlin-gen durften nicht veröffentlicht werden. Im letzten Quartal des Jahres 1934 verdräng-ten sie die Karikaturen völlig. Mit dem Wegfall der innen- und außenpolitischen Be-richterstattung verschwinden auch die Fotos.
In diesen drei Jahren wurden in der „Putjowka“ über 3.300 Artikel von über 1.200 Autoren publiziert. 1937, mit Beginn des „Großen Terrors“, änderten sich die Umerziehungsambitionen der GULAG und folglich auch der Administration des Karlag und die Zeitung wurde eingestellt.
Am 28. März 1935 erließ der Lagerkommandant aus Anlaß des 3. Jahrestages des Er-scheinens der 1. Nummer einen Befehl „Über die Lagerpresse“. Die Zahl der Lagerkorre-spondenten hat sich im Vergleich zum Vorjahr verfünffacht, die Auflage ist siebenmal so hoch wie im ersten Jahr.
Außer der regulären „Putjowka“ erschienen während der Alphabetisierungskampagne im Karlag Ende 1933 zwei Extraausgaben der „Putjowka für jene, die Lesen lernen“. Noch Anfang 1937 waren nach Angaben der Lageradministration 4.000 der 27.000 Karlag-Häftlinge Analphabeten. Letztere wurden in Gruppen zu je 20 Häftlingen zusammengefaßt, um vom 25. Februar bis 5. März 1937 einen Alphabetisierungsgrundkurs zu absolvieren.
1934, mit der beständigen Ausdehnung des Lagers, der weiteren Erschließung der Steppe, kam ein neuer Aufgabenbereich – die gezielte Verbreitung von Expertenwissen in den über das Territorium verstreuten Produktionspunkten des gewaltigen Lager-komplexes hinzu. Das auf Viehzucht und Landwirtschaft spezialisierte Lager bestand aus sogenannten Lagerabteilungen, die ihrerseits wiederum in Abschnitte, Farmen und Punkte untergliedert waren.
Am 21. April 1934 erschien die „Putjowka“ zunächst mit einer Beilage, aus der später eine eigene großformatige Zeitung „Sa nowuju techniku“ („Für eine neue Technik“) hervorging. In den 10 Ausgaben des Jahres 1934 (bis Februar 1935 stieg deren Zahl auf 12) kamen die im Lager beschäftigten Spezialisten, in erster Linie Tierärzte, Agrono-men, Hydrologen und Botaniker, zu Wort. Als Chefredakteur fungierte bis Februar 1935 Iwanow.
Außerdem erschienen in den Monaten April und Mai 1934 insgesamt 12, die Aus-saatkampagne begleitende Ausgaben der „Putjowka na Posewnoj“. Ihre Auflage betrug 500 bis 700 Exemplare, ihr Inhalt (im Durchschnitt 12 Artikel) war auf die anstehenden Aufgaben der Lagerabteilungen Samarka, Tschurbaj-Nura , Zentraler Produktionspunkt, Kotursk und Wolkowskoje zugeschnitten.
Schwerpunkt der Berichterstattung aller Zeitungen war die Durchsetzung der Planerfüllung. Im Rahmen dieser Aufgabenstellung war auch Kritik an Mißständen im Lager und einzelnen Funktionsträgern erlaubt. Hierfür standen gleich mehrere Rubriken zur Verfügung.
Die Ersetzung der Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“ durch das Stalinzitat „In der Sowjetunion ist die Arbeit eine Sache der Ehre, des Ruhmes und des Hel-dentums“ in der Ausgabe vom 18. Mai 1933 spiegelt die laufende inhaltliche Profilierung der Lagerzeitung wider. Die anfangs vorhandene Berichterstattung über außenpoliti-sche Ereignisse und wichtige innenpolitische Themen wurde im März 1934 zugunsten der ausschließlich auf das Lager bezogenen Meldungen eingestellt. Eine Welt außerhalb des Lagers schien nicht zu existieren. Entsprechend änderten sich auch die Diktion und die Themen der Beiträge.
Sonderausgaben erschienen zur Zeichnung der Staatsanleihe im Mai 1934, dem Bau des Weißmeerkanals, der Alphabetisierungskampagne sowie zum Tod von Partei- und Staatsfunktionären wie des Vorsitzenden der OGPU , Wjatscheslaw Menshinski (Mai 1934), des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission Walerian Kujbyschew (Januar 1935) und des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow (Dezember 1934).

 

Text- und Übersetzungsprobe: Der „Verhinderer“

Wespe

Der „Verhinderer“ ist ein Mensch, der etwas verhindert. In unserem Fall ist ein solcher Verhinderer der Hauptbuchhalter der Produktionsabteilung Bidaik . In der gesamten Abteilung wird man keinen mit ihm vergleichbaren Bürokraten finden. Der als Hauptbuchhalter tätige Häftling K. L. Galoschin hat sich in den vier Jahren seines Dienstes als Offizier in der Armee der Weißen von 1915 bis 1919 so an das „Ruhe – Maul halten!“ gewöhnt, daß er bis heute nicht davon lassen kann. Prügel, Mutterflüche und ein gebrülltes „Ich befehle!“ sind sein gewöhnlicher Umgangston mit Häftlingen, die zur Arbeit eingesetzt sind. Einmal kam der Vorarbeiter des 6. Produktionsabschnitts zu Kaloschin in die Kanzlei, um eine dienstliche Angelegenheit zu klären. Während ihres „Gespräches“ erinnerte sich Kaloschin offensichtlich an seine alte Gewohnheit, den Leuten eins aufs Maul zu geben, und prügelte den Vorarbeiter zur Türe hinaus. Jagodin, einen Boten, der ihm einen Befehl überbrachte, der den Häftlingen verlesen werden sollte, jagte er unter Flüchen davon.

Mit den untergebenen Buchhaltern springt er so um, wie es Offiziere früher mit ih-ren Soldaten taten. In der Buchhaltung hört man ständig nur Flüche und sein „Ich befehle!“

Putjowka, hilf dabei, ein passendes Plätzchen für diesen Administrator zu finden, um die Buchhalter der Abteilung vom Joch zu befreien und auf diese Weise die Arbeitspro-duktivität zu erhöhen.

aus: Vom Schmieden neuer Menschen. Artikel der Lagerzeitung des Karlag „Putjowka“.
Ausgewählt und übersetzt von Wladislaw Hedeler , LLV 2011


 

 

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