Hubertus Giebe: "Der geschliffene Elfenbeinturm" (Auszug)
Frommholds Ateliergespräche – wider das Verdrängen der Geschichte
»Benennen heißt sein«, dekretierte der Mexikaner Octavio Paz in einem seiner
brillanten Essays. Frommhold war ein Mann, der mit aller Kraft in diesem
Leben »sein« wollte: Er schrieb, er bewegte den Geist universell, er stritt,
er eckte an. Bücher: Exegese der Geschichte, der Kunst, der Ideenbewegungen,
des Inkommensurablen der Existenz. Die Alphabete des Wissens waren seine
Konfession, ihm eine erregende, lustvolle, leidenschaftliche Konfession.
Er war ein Obsessiver ganz im Sinne von Lévi-Strauss’ Wildem Denken.
Frommhold, heute vor achtzig Jahren im thüringischen Altenburg geboren,
gelernter Bauklempner, antifaschistisches Elternhaus, anarcho-sozialistischer
junger »Edelweißpirat mit weißem Seidenschal«, verweigerte den Eintritt
in die HJ. Der Vater, Sattler, ein Arbeiter, der sich politisch engagierte,
saß im Zuchthaus der Nazis, Verwandte kamen ins KZ – das war prägend für
das frühe intellektuelle Weltbild Frommholds. Mit sechzehn kam er noch mit
Hitlers »letztem Aufgebot« der Wehrmacht an die Westfront, Gefangenschaft,
ab 1947 Studium in Jena (seine Diplomarbeit schrieb er über Oswald Spengler).
1952 wurde er dank mehrerer Zufälle und Fügungen, die es in diesen Zeiten
gab, Gründungslektor, später Cheflektor am Dresdner Verlag der Kunst. Er
war selbst ein Mann mit einem »Rammschädel«, wie er später den weltbekannten
mexikanischen Wandmaler Diego Rivera beschrieb, mit dem er 1954 in Dresden
zusammentraf.
Frommhold war ein schnörkelloser, geradliniger, manchmal martialischer Denker
und Akteur, dessen Mißtrauen gegen den »Zeitgeist«, den »Volksgeist«, den
»Schöngeist« von tief verwurzelter früher Erfahrung geprägt war. Er haßte
die Phrasen der Kultur-Parvenüs, der Zeitgeist-Claqueure, die schnellen
und billigen Kollaborateure des jeweiligen Mainstreams, ihren ewigen Smalltalk.
1946 wurde Frommhold, wie hätte es bei einem solchen Elternhaus anders sein
können, Parteimitglied der ersten Stunde, damals der KPD. Aber allzu schnell
sollten sich der Riß, die Desaster zeigen, die tiefe Verzweiflung einer
noch stalingläubigen Vätergeneration, sofern sie nicht »stramme Parteisoldaten«
waren. Im März 1951 begannen die unseligen »Formalismusdebatten«, die Diffamierung
der zurückgekehrten Westemigranten. »Intellektuelle«, Abweichler, wurden
gebrandmarkt. Das alte Taktieren, die Winkelzüge, das Mißtrauen der Genossen
untereinander kam wieder auf mit »Parteirügen«, entwürdigenden »Selbstkritiken«,
politischen Denunziationen – Ulbrichts Ära.
Für einen jungen, geistbesessenen Mann wie Frommhold, der das Schriftgut
des »linken Index« kannte und las, ein freier Geist, mehr und mehr auch
junger »Funktionär«, bald Kosmopolit, muß das eine immerwährende innere
Zerreißprobe gewesen sein. Gerade weil er im Sinne der früh verehrten Bertolt
Brecht, Hanns Eisler, John Heartfield, Ernst Bloch aus Herkunft, Verfaßtheit,
Haltung und Charakter wahrhaft links, linksdemokratisch dachte und fühlte,
konnte und wollte er kein Renegat sein. Wer aber, wie Frommhold, Ernst Blochs
Prinzip Hoffnung, Otto Rühles sozialpsychologische Schriften, später Peter
Weiss’ Ästhetik des Widerstands annahm und lebte, mußte renitent in den
»eigenen Reihen« werden, was Folgen hatte.
Dieses Getriebensein von einem weitgespannten, links-futuristischen Denken
par excellence, welches das sogenannte »Schicksal« und die »maskierte Welt«,
ihre alt-neue »Heuchelei und Blenderei« demaskieren wollte – alles wirklich,
tatsächlich wissen wollte – diesen elan vital habe ich bei Frommhold immer
elementar gespürt und bewundert. Sein Wissen, Frucht jahrzehntelanger, weit
ausholender Studien in Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie, Psychologie
und vielem mehr, war frappierend. Man wurde da vor ihm oft sehr klein!
Dieser plebejische Geistesberserker, der die Geschicke eines, seines Verlages
leitete, glänzende Bücher edierte, oft bahnbrechend im jeweiligen Metier,
unbequemen Autoren die Treue hielt, in Verruf geratene Stimmen schützte
und verlegte – ich denke an Wilhelm Fraenger, Ernst Niekisch, John Berger,
Ernst Fischer, Richard Neutra bis zu Diether Schmidt in Dresden – sollte
nur allzu bald die Tribunale seiner eigenen Partei, ihre inquisitorische
Bürokratie, ihren »Byzantinismus« kennen und erleiden lernen. Er überstand
diese Perfidien – eigentlich ein Wunder, das wohl nicht allzu viele aufrichtige
linke Intellektuelle vorweisen können. Er hatte wahrlich mit Adorno und
Horkheimer erfahren: »Die paranoiden Bewußtseinsformen streben zur Bildung
von Bünden, Fronden und Rackets. Die Mitglieder haben Angst davor, ihrem
Wahnsinn allein zu glauben.« (Dialektik der Aufklärung).
Er sprach darüber, je älter er wurde, desto direkter. Hier begannen sie
schon, die erhellenden »Geschichtslektionen« – oft im Freiraum des Ateliers.
Da war Frommhold ein so besessener, kolossaler wie lustvoller, neugieriger
Kombattant, kritisch, gleichwohl begeistert. Ich hatte das Glück, Frommhold
vor etwa 30 Jahren kennenzulernen. Das war, glaube ich, im »Secundo Genitur«
auf der »Brühlschen Terrasse«. Das war in den siebziger Jahren, als vieles
noch oder schon wieder »eng« war und ich an der Kunstakademie »auf dem Brühl«
studierte. Die Eiszeit nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« hielt
an. Am 16. November 1976 wurde Wolf Biermann ausgebürgert. Frommhold war
mit ihm befreundet. Pressekampagnen lehrten einem das Gruseln. Trotzdem
regte sich auch in meiner Generation ein bald nicht mehr zu reglementierender
Widerspruchsgeist. Man wollte endlich die ganze Welt wissen, die ganze Kunst,
die ganze Moderne erfahren. Für viele, die damals Studenten waren, auch
für mich, gab es einen Aufbruch und den Anspruch, das kennenzulernen, was
auf dem Index stand. Wir wollten das selbstbeschränkte, selbstgenügsame
Denken der geistes- und kunstgeschichtlich dünnen Oberschullehrpläne und
Stundenpläne der Akademie endlich überwinden – jene kleinbürgerliche »Gute-Stube-Infektion«,
wie Bloch das nannte. Freunde reisten aus, gingen über die Grenze, weil
sie es in der DDR nicht mehr aushielten. Das mußte jeder mit sich selbst
ausfechten. Die Lebenswege der Generation, ihre Bindungen, Überzeugungen
und Charaktere, waren sehr verschieden. Oft liefen sie aus politischen Gründen
unwiederbringlich auseinander.
Frommhold hatte ich öfters bei Veranstaltungen des Künstlerverbandes getroffen,
ihn bei Diskussionen gehört. Seine im kritischen Jahr 1968 erschienene fulminante
Kunst im Widerstand war mir bekannt und eine immense geistige Herausforderung.
Ich denke auch an die glänzenden Bände des Verlages über Dix, Grundig, Hegenbarth,
ebenso über Bosch, Picasso, El Lissitzky, Rivera, Tatlin – alles editorische
Pioniertaten in Dresden. Vom Reichtum der legendären Fundus-Reihe, die ich
seit Jahren las, teilweise verschlang, ganz zu schweigen. Herausragend die
beiden Bände Künstlerschriften, gesammelt und 1964/65 herausgegeben von
Diether Schmidt1, die mich tief berührten, oft erschütterten. Erinnert sei
auch an den großartigen Band mit Selbstzeugnissen, Erinnerungen und Interpretationen
der Fotomontagen von John Heartfield im Zentrum: Der Schnitt entlang der
Zeit, dokumentiert von Roland März, mit den Kapiteln Neue Jugend und Malik
Verlag, A.I.Z., Piscator-Bühne Berlin 1928-1931.2 Die kulturell ungeheuren
zwanziger Jahre der Avantgarde wurden lebendig: die George Grosz, Raoul
Hausmann, Wieland Herzfelde, Kurt Tucholsky, F. C. Weiskopf, Wolf Reiss,
Ernst Toller, Brecht, Kerr, Jhering, Rolland, Tretjakow, Aragon, Paul Westheim,
Bloch, Hanns Eisler – bis zu Erhard Frommholds mit Herzblut geschriebenem
Nachruf auf John Heartfield (1968). Das alles waren Frommhold gute Gewährsleute,
ja Väter.
Und dieser singuläre Dresdner Kunstbuchverlag wurde nach der Wende gefleddert.
Frommhold hat das geschmerzt, wenn er es später, altersbedingt, auch nur
noch mit Abstand verfolgen konnte.
Aber die »Ateliergespräche über Kunst – wider das Verdrängen der Geschichte«:
Nach einer Zeit bei Heisig an der Leipziger Hochschule war ich »heimgekehrt«
und Assistent an der Dresdner Kunsthochschule bei Günther Horlbeck geworden.
Zu dieser Zeit war ich mit Frommhold enger ins Gespräch gekommen. Er besuchte
mich in meinem im Vorderbau der Akademie im zweiten Stock oben links gelegenen
Atelier, neben Klotz’ Malhöhle. Ich war damals 28 Jahre alt, malte »Geschichtsbilder«,
inspiriert von den historischen Denkfiguren Walter Benjamins oder Peter
Weiss’ Ästhetik des Widerstands3, nahe bei Kokoschka und Dix, und las mich
Monate und Jahre durch das »Milieu der Geschichte« hindurch, wie Guy Debord
in seiner Schrift Gesellschaft des Spektakel (Paris 1967) formuliert. Das
gefiel Frommhold, so etwas interessierte ihn. Er war ein großzügiger Mann,
lieh ohne Bedenken seine seltenen Bücher her, wollte wissen, ob ich sie
auch tatsächlich las, wollte neue Arbeiten von mir sehen, diskutierte besessen
ein Thema. Dix, Kokoschka, ebenso ein Mann wie Querner waren malerischer
Maßstab.
Gustav Reglers Ohr des Malchus, Koestler, Orwell brachte er mit und Isaak
Deutschers Enthüllungen über Stalin, den ganzen »Giftschrank«. Das war »Gulag«
und »Komintern«, das war zum Beispiel das »Jahr des großen Terrors« 1937
in Moskau (der Terror hatte nicht erst mit Stalins Mord an Kirow 1934 begonnen).
Auf Solschenizyn wies er hin. Der kurze Sommer der Anarchie, Hans Magnus
Enzensbergers Biographie des spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti
(Suhrkamp 1972) und die Analysen des spanischen Bürgerkrieges waren ebenso
subversiv, aber eher harmlos. Natürlich war das alles in der Akademie nicht
zu diskutieren. Bestimmte Leute der »Theorie«, befaßt mit der »Reinhaltung
der Lehre«, witterten hier immer Ketzerei und Verrat.
Münzenberg hatte ich schon in Peter Weiss’ Ästhetik kennengelernt. Der legendäre
Willi Münzenberg, in der DDR als Renegat totgeschwiegen, später, als das
kaum mehr möglich war, in der »Weltbühne« durch Harald Wessel (damals stellvertretender
Chefredakteur des »Neuen Deutschland«) vereinnahmt und historisch verfälscht,
wurde mir bei meinen Geschichtsstudien eine zentrale Persönlichkeit im Labyrinth
der linken Exklusionen und Desaster. Dank einer nahezu unwahrscheinlichen
Verkettung von Umständen lernte ich 1989 durch den Westberliner Galeristen
Dieter Brusberg seine einstige Lebensgefährtin, die nun schon hochbetagte
Babette Gross, die ein jahrzehntelanges Exil nicht nur in Mexiko durchlebt
hatte, noch kurz vor ihrem Tod nach der »Wende« im Januar 1990 persönlich
kennen. Sie besuchte mich im Atelier in Dresden, um eines der Münzenberg-Bildnisse
im Original zu sehen, die ich in den achtziger Jahren gemalt hatte. In der
Biographie über ihren berühmten Lebensgefährten (erschienen 1967 mit einem
Vorwort von Arthur Koestler) schrieb sie, bezogen auf den VII. Weltkongreß
der Komintern 1935 in Moskau, an dem Münzenberg noch teilgenommen hatte:
»Alle schon damals umgehenden Geschichten, die vernichtenden Urteile von
Anhängern Trotzkis und Sinowjews, die auf Stalins Brutalität und Rachsucht
hinwiesen, die, wie Max Lewin, der zu jener Zeit in der Komintern arbeitete
und Stalins Aufstieg genau beobachtete, davon überzeugt waren, daß Stalin
vor keinem Mord zurückschreckte, wurden als lächerliche Übertreibungen beiseite
geschoben.«4 Wichtig auch das Kapitel VI Ein Antifaschist bricht mit Moskau,5
das einem H. Wessel natürlich schwer im Magen liegen mußte! Der französische
Historiker Francois Furet bemerkte später, daß Münzenberg »wegen seines
letztlichen Bruchs mit Stalin [...] in den Kellern der Lubjanka die Liquidierung
drohte.« Stalins Clique nannte Furet die »große bürokratische Heuchlergemeinschaft
Moskaus«. »1937«, schreibt er, »in der düsteren Periode des großen Terrors
wurde er nach Moskau vorgeladen, er zögerte, wurde krank, blieb schließlich
in Paris. [...] 1939 hatte er keine Heimat mehr: In Deutschland und in der
Sowjetunion trachtete man ihm nach dem Leben; die Franzosen internierten
ihn als Deutschen in einem Lager. Einiges spricht dafür – wenngleich es
keine Beweise gibt –, daß er, als er im Juni 1940 floh, um Hitler zu entkommen,
von einem Agenten der GPU ermordet wurde.«6
Diesen Nachweis, den Babette Gross in ihrer Münzenberg-Biographie nicht
erbringen konnte, dokumentierte in den neunziger Jahren der Schweizer Historiker
Fritz N. Platten, der Sohn des Schweizer Kommunisten Fritz Platten, einst
Leninanhänger der »Zimmerwalder Linken«. Stalin ließ ihn 1937 in Moskau
erschießen. Fritz N. Platten hatte in den neunziger Jahren unter Jelzin
die Gelegenheit, eine kurze Zeit im Moskauer Parteiarchiv forschen zu dürfen.
Seit Putin ist es wieder geschlossen wie einst die Grabkammern der Pharaonen.
Er konnte hier Stalins Mordbefehl gegen Münzenberg nachweisen. Dieses bislang
nicht publizierte Material befindet sich in seinem Nachlaß an der Universität
Zürich. Ich hatte das seltene Glück, auch ihn mit seiner Frau noch kurz
vor seinem Tode in Dresden kennenzulernen. Es hatte eine vorherige Korrespondenz
gegeben. Er besuchte mich im Atelier und wir sprachen, wie 1990 mit Babette
Gross, über Münzenberg, den »roten Hugenberg« und erinnerten an das ungeheuerliche
Schicksal von Margarete Buber-Neumann, der Schwester von Babette Gross.
Ihre Autobiographie Als Gefangene bei Stalin und Hitler ist eines der erschütterndsten
Dokumente der Epoche. Frommhold kannte das alles, zweifelte aber Münzenbergs
Ermordung durch den Geheimapparat der »Komintern« bis zuletzt an.
Auf ganz andere Weise kamen in unseren »Ateliergesprächen« Sigmund Freud,
Wilhelm Reich oder Magnus Hirschfelds berühmtes Berliner Institut für Sexualwissenschaft,
Fromms Haben oder Sein, hier etwa Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse
auf die marxistische Theorie (1956), ja selbst die Fraktionen der Psychoanalyse
bis hin zu Lacan in Paris zur Sprache. Ebenso diskutiert wurden die Dichter
der Moderne von Baudelaire und Rimbaud bis zu Aragon, Eluard, Camus und
Sartre, aber auch Ernst Jünger und Gottfried Benn oder Siegfried Kracauer
und seine Theorie des modernen Films.
Frommhold haßte »Kleinmut, der nichts wagt« (Ezra Pound). Sein Diktum, der
alte Spruch des Orakels von Delphi: »Mensch, erkenne dich selbst«, war eine
Forderung. Mit José Ortega y Gasset bekannte er: »Historisches Wissen ist
eine Technik ersten Ranges zur Erhaltung und Fortsetzung einer gereiften
Zivilisation.« (Der Aufstand der Massen, 1930). In ihm steckte das alte
Bildungsideal der Arbeiterschaft, »Selbstbefreiung durch Wissen«, das auf
Kant zurückgeht. Dafür setzte er alle Charakterstärke, allen Sinn für Gerechtigkeit
ein, wie es in Dresden ebenso Fritz Löffler, Ingrid Wenzkat (in der Tageszeitung
Die Union) und manch anderer taten. Mit dem Dichter Wulf Kirsten war er
freundschaftlich verbunden, mit Dieter Hoffmann diskutierte er bei mir im
Atelier auf der Herkulesstraße, bei Kettner und Klotz saß er gern im Atelier.
Er schrieb würdigend über Wolfgang Petrowskys Collagen und unterstützte
Gabriele Muschters mutige Arbeit in der »Galerie Mitte«. Wie gefährlich
die unvoreingenommene Offenheit und Rede, das »Durchdringen des Wissens«,
zuzeiten gewesen sein muß – die Partei mißtraute ihm immer –, kann man heute
nur ahnen.
Im Folgenden zitiere ich Erhard Frommhold aus seinem Text Diego Rivera und
Otto Rühle, der einige autobiographische Auskünfte enthält: »Ich stamme
aus einer Arbeiterfamilie, in der ich mit den Büchern vom ›Malik Verlag‹,
den Büchern aus Münzenbergs Verlag ›Universum-Bücherei‹ und natürlich auch
mit denen der ›Büchergilde Gutenberg‹ aufgewachsen bin. Ein Teil dieser
Bibliothek, die mein Vater aufgebaut hatte, ist bei seiner Verhaftung 1933
von der Gestapo beschlagnahmt worden. [...] 1951 [war] Literatur über Diego
Rivera in deutscher Sprache kaum vorhanden, Hans F. Seckers Buch war die
erste Monografie in deutscher Sprache. Secker hatte sein Buch, das 1957
erschienen war, und zwar mit Einband und Umschlag von John Heartfield, dem
Mäzen und Kunstsammler Dr. Kurt Stavenhagen, deutscher Emigrant in Mexiko-Stadt,
gewidmet und dazu ein langes Zitat von Michael Bakunin als Motto vorangestellt.
Alfred Donath ließ daraufhin stoppen. Immerhin war ja die zeitweilige Dreieinigkeit:
Rühle – Rivera –Trotzki politisch verfemt. Und nun noch Bakunin! Eines Tages
kam Bodo Uhse in den Verlag und fragte, ob ich ein Selbstmörder sein wolle.
Ich fragte ihn, weshalb und wieso ich ein Selbstmörder sein wolle. Kurt
Stavenhagen war 1952 im ›Slansky-Prozeß‹ und im Prozeß gegen Paul Merker
als ›Zionist‹, als ›USA-Waffenschieber‹ bezeichnet worden. Das war weit
gefährlicher als Bakunin. Keiner, der Bescheid wußte, hat diese Widmung
erwähnt, obwohl Anna Seghers 1947 noch im Briefwechsel mit Stavenhagen gestanden
hatte und ihm freundschaftlich verbunden war. Gewiß lag der XX. Parteitag
der KPdSU (B) von 1956 bei Erscheinen des Buches hinter uns, aber die Wirkung
war 1957 gleich Null. Man kann diese Nachwirkungen im Buch von Georg Hermann
Hodos ›Schauprozesse ... in Osteuropa‹ nachlesen.«7
In den achtziger und neunziger Jahren hatte ich das große Glück, Frommhold
hin und wieder auch in seiner Wohnung Prohliser Allee 33, in der 11. Etage
eines Plattenbaus, besuchen zu dürfen. Ich klingelte unten im Vorbau dieser
monströsen Wohnmaschine, und er meldete sich knapp: »Hier Frommhold, komm
rauf!« Oben wartete er schon, halboffenes Hemd über der behaarten Brust,
an der Tür zum Gang, der mich an meine Kasernenzeit erinnerte. Aber dann
wurde man geschluckt von der Bücherhöhle, Bücherburg, die alle Räume klaustrophobisch
ausfüllte. Die Stapel vor den überbordenden Regalen waren labile Stalagmiten,
gespickt mit Notizzetteln, an den wenigen freien Wandflächen Bilder, Farblithographien
von Dix, Blätter von Querner, Kretzschmar, Rudolph. Allein im hinten liegenden
Wohnzimmer war ein schöner Blick nach Osten hin zur Sächsischen Schweiz
verblieben. Der Schreibtisch hatte nur noch ein kleines freies Areal, der
Ascher quoll über, Stapel von Büchern und Manuskriptblättern umzingelten
ihn, Zettelkästen und Ordner, Karo-Rauch stand unter der Decke, Stifte,
Brieföffner, Locher, Schere und Kleber lagen herum – Frommhold schrieb mit
der Hand! Das Drängende, Intensive, Direkte, Schöpferische vereinten sich
hier und beherrschten fast körperlich den Raum.
1964 porträtierte ihn Curt Querner frontal sitzend, konzentriert, im dunklen
Anzug mit Krawatte, mit schwerer Hornbrille unter der massigen Stirn. Später
malte ihn Siegfried Klotz, hemdsärmlig, die buschigen Augenbrauen nun weiß,
der Oberkörper schwer, aber vital nach vorn gebeugt, gleich wird Polemik
aus ihm hervorbrechen, klare, kehlige Sätze ... Ein Mann, ein Massiv!
So vergingen manchmal die Stunden, bei Bier, bei Rotwein. Die herbeigezogenen
Bücher fingen an sich zu türmen. Die langen, mitunter hitzigen Gespräche,
der letzte Disput, die letzte Polemik, standen, Denkraum, schwer in den
Gängen und Winkeln seiner Wohnkatakombe. Er war – ein »Mensch in der Revolte«.
Er hatte nun so vieles gesehen, überstanden, die Tribunale hinter sich,
fuhr wegen einer Ausstellung – Max Ernst, Cranach, Bacon – nach Köln, Hamburg,
London oder Wien »um es zu sehen!« »Unbedingt mußt Du das selbst sehen!«.
Er schrieb exzellent, sei es über Politischen Expressionismus – expressionistische
Politik (Albert Ehrenstein, Gustav Landauer bis Bruno Taut) im Expressionistenkatalog
der Berliner Nationalgalerie (1986) oder über Otto Rühle, Ein vergessener
Revolutionär in den Sächsischen Heimatblättern (1997). Der heute fast vergessene
Anarchosozialist Otto Rühle faszinierte ihn, etwa seine Faschismusanalyse,
seine Schriften über das proletarische Kind, Erziehung, Familie und Ehe.
Es waren die Zeiten des »Deutschen Freidenkerverbandes« mit einer halben
Million Mitgliedern, des »Verbandes proletarischer Freidenker« und der Lebensreformer
wie Vegetarier, Lebenskünstler, Sonnenbadfreunde und Tierschützer. Es gab
vor dem Ersten Weltkrieg sogar eine »Freidenkerische Freimaurerloge«.
Bei Querner rühmte er nachdrücklich die »gute Malerei«, den »Sinn für Nuancen«,
auch den alten ASSO-Impuls des »Bildes als Gebrauchsding«. »Geschichtliches
Denken hat mich gefurcht«, heißt es in Querners Tagebuch.
Kitsch war ihm der »Bruch zwischen Wahrheit und Schönheit«, nicht anders
als bei Carl Einstein oder Aby Warburg, »ein falsches Versprechen von Schönheit
für alle« (Konrad Paul Liessmann). Die »Affirmierung einer heilen Welt«
war ihm zuwider. Er blieb in der Malerei letztendlich ein Sohn der Bosch,
Goya, Dix, der Heartfield und Grosz, in der Dichtung ein Bruder von Verlaine,
Brecht und Döblin.
Frommhold lebte denkbar einfach, karg, proletarisch und unsentimental, allein
im Reichtum der Bücher, aufs Werk bezogen. Ein Familienmensch war er gewiß
nicht. Alles Devote war ihm fremd, über Dummheit konnte er sich direkt und
deutlich echauffieren. Er achtete die klare Argumentation. Aller einigermaßen
potenten Kunst ist ein Moment des Widerstands, der Opposition wesenseigen
und eingeschrieben. Wie in Julien Greens Tagebüchern hätte er sagen können:
»Ich habe immer abseits aller Moden gelebt und nichts hätte mich davon abbringen
können. [...] Ich schere mich nicht um Moden, oder sie kümmern mich einen
feuchten Dreck, um mich wie André Malraux auszudrücken. Sie vergehen mit
denen, die sie gemacht haben, und es bleibt von ihnen nur eine dunkle Erinnerung,
die nach kurzer Zeit verblaßt. Es lebe die innere Freiheit.«8
Für den Katalog meiner Ausstellung Geschichtsbilder. Memorial in den ehemaligen
Räumen des Konzentrationslagers Osthofen bei Worms schrieb er 1999:
»Das Schicksal der als ideal vorgestellten Personen endete zumeist in einer
Tragödie. Sie ist der Anlaß für Giebes Darstellungen, aber sie bleibt nicht
sein Thema. Hinzu kommt die geistige Individualität der Dargestellten, die
den Künstler zu ihnen hingeführt hat. Ein Lebensweg steht hier symbolisch
für solche Motivationen.
Walter Mehring über Carl Einstein, der als spanischer ›POUM‹-Partisanenhauptmann
Carlos in der Mancha (›No pasarán!‹)
die Goliath-Windmühlen der Philister
die Weinschläuche des Kapitalismus
die Leithammel des Bolschewismus
attackierte.
Und dann: ›Marseille, Oktober 1940
An diesem Strick vom knorrigen Ast einer Romantiker-Korkeiche der Nordostpyrenäen, wo trüffelsuchende Schweine ihn aufstöberten, hing der Kadaver einer Literaturbewegung ... und wir konnten ihn nicht einmal mehr abschneiden. Wir zappelten selber im Netz der Vichy-›Súrété Nationale‹ des zu Wasser, zu Lande abgedrosselten Marseille-Hafens. Gescheitert war unsere vorgestrige Prophetie; verschollen der Hilferuf.‹«9
Frommhold verkörperte geistig und charakterlich fast alles, was heute in einem flachen, postmodern-uferlosen und sinnlos gewordenen Ich-Wahn fehlt.
(copyright LLV 2010)