Velibor Čolić
aus: "Bei Alberto"
Epilog
Es erinnerte anfangs an eine zornige und verrückt gewordene Wespe, die
summt, in den Bauch eindringt, das zarte Gewebe des Darms durchbohrt und
am Rücken wieder austritt. Es ähnelte einem wütenden Peitschenhieb, ein
scharfes und brüskes Geräusch, als würde man altes, trockenes Papier zerreißen.
Es schien, als würden zehn Tonnen schweren Bleis seinen Atem zum Stillstand
bringen, als wären die Berge aus der Umgebung herab gestiegen und hätten
sich auf seine Brust gelegt. Im Augenblick des Todes spürte Ekrem Boxer,
wie ihm die Makkaroni von gestern Abend auf die Knie fielen, bleich wie
Würmer, schon fast zersetzt von der Magensäure. Der Schmerz kam erst später.
Einen Moment, eine Zehntel Sekunde später, doch dem Soldaten kann noch der
Gedanke kommen, dass gar nichts passiert ist, dass diese verrückte, scharfe
und unangenehme Wespe, die sein Fleisch durchschneidet, nicht der Tod ist.
Es hätte auch ein Film in Zeitlupe sein können, fast schon eine Fotografie
– völlig unbedeutend für uns, nur einige Augenblicke, aber für den Sterbenden
bedeutete es alles.
Der letzte Atem, während die durchschossene Lunge pfeift und das schwarze
innere Blut sprudelt und sich dabei in eine Fontaine verwandelt, die zähflüssig
und stinkig ist wie ranzige Butter.
Als er danach auf seine Knie fiel, schwer wie tote Dinge zu fallen pflegen
und mit dem Gesicht zur Erde, dachte der Soldat an Zigaretten, er dachte
an die heiligen Sternennächte, an die merkwürdige Freude des Säufers, wenn
er sich das erste Glas Bier in seine trockene Kehle gießt. Der Soldat des
französischen Verteidigungsrates kam, während er stürzte, beinahe fröhlich
auf den Gedanken, dass der Tod nicht weh tut, dass der Tod eigentlich eine
Rose sei, die sich zur Ewigkeit hin öffnet, zum Purpur, zur roten Farbe.
Das letzte, was er spürte, waren Spucke und Staub, der sehr unangenehm war,
wie eine Ameise, die einem ins Nasenloch krabbelt. Dann eine merkwürdige,
zittrige und glitschige Entleerung der Hoden, ein lauwarmer Orgasmus, der
ihn leicht und zärtlich an die Hand nahm, die Tür des Dunkels öffnete und
ihn in das kalte und heisere Walhalla entführte. „Woher, zum Teufel, diese
Frauen?“, fragt sich verwundert der Soldat, der schon tot und lauwarm ist,
„Ist es nicht so, dass die Seelen der Toten von Engeln in den Himmel begleitet
werden? Wieso, verflucht noch mal, diese Frauen?“
Und wirklich – eine Horde schrecklicher, in Schwarz verhüllter Frauen beginnt,
den Soldaten zu zerteilen, ein blutiges Fest, sie zerfleischen ihn mit ihren
Zähnen und aufgerissenen Mäulern, und sie tragen seine Hände, seine blasse
Hüfte, seine Ohren, seinen Kopf empor in schwindelnde Höhen, dorthin, wohin
nur die Seelen gefallener Krieger und jene zart rosafarbenen, wilden Flamingos
gelangen. Schwarz und laut setzen sich die verwunschenen Witwen wie kreischende
Krähen zu einem Kreis und warten auf die nächste Kanonensalve von den Bergen.
Die Soldaten in den Schützengräben hören das Lied, aber sie können die Frauen
nicht sehen, denn das ist den Lebenden nicht gegeben. Sie hören das Klagen
der Witwen, monoton und schwer, das wie die Erleichterung nach der Geburt
Gottes über der ganzen Front liegt; wie das eintönige Hecheln eines Menschen
im Fieber. Die schwarzen Frauen sangen, die Soldaten hörten es, trübe und
undeutlich, aber lebendig, so wie der wahre physische Schmerz besungen wird.
Wütend und unwiderstehlich, in allen Sprachen, mit einem weißen Tuch vor
dem Mund schlugen sie mit ihren bloßen Händen auf die Erde, als wollten
sie diese zwingen, die Wahrheit über sich selbst preiszugeben. Die Frauen
hatten lange gesungen, schwer und lange, und sie blickten dabei in eine
unerklärliche Ferne, in ein Morgengrauen, das nicht kommen wird, in alle
vier Himmelsrichtungen. Als wollten sie mit ihrem Lied eine Schlange an
ihren trockenen Brüsten voller Unruhe und Angst stillen. Die Soldaten sehen
nicht, aber sie ahnen. Die schwarzen Frauen zünden Feuer an, und überall
um sie herum wird ein schwaches, zitterndes, kaum wahrnehmbares Licht erkennbar.
Einige von ihnen sind – wie wir schon sagten – Witwen, andere aber waren
jung und unverheiratet. Einige von ihnen stehen, andere sitzen, singen und
starren in die Feuer. Sie sind unsichtbar und einsam, und seltsam gefasst
erwarten sie die Kanonenkugeln vom Berg.
Als die zweite und keinesfalls feierliche Artilleriesalve niederging,
unterbrach eine von ihnen, die Älteste, ihr Lied. Sie zog ihr Kleid hoch,
schloss die Augen, als würde sie beten, und verwandelte sich wieder in einen
Schatten. Der Soldat Gilles, genannt Sauterelle, der im nächsten Moment
sterben würde, schob seinen Kopf aus dem Schützengraben, es kam ihm vor,
als würde er dort neben den Feuern seine Mutter sehen.
„Welche Feuer“, sagte sein Kumpel Swan, „Brüderchen, es gibt hier weit und
breit keine Feuer.“
„Da sind doch welche“, sagte Gilles und zeigte mit einer ausholenden Armbewegung
in Richtung Niemandsland.
Aus der Ferne betrachtet erinnerte diese Granate an einen Stern, sie sah
aus, als würde sich ein Riesenglühwürmchen aus dem Himmel loslösen, und
geleitet von unsichtbarer Hand schlug sie direkt vor dem Gesicht unseres
Soldaten Gilles ein. Schwer und zischend wie eine Schlange, wie ein himmlisches
Feuer, das den Kiefer, die Nase, die Ohren, die Zunge herausreißt und den
schweren Geruch verdorbenen Fleisches hinterlässt. Der kopflose Rumpf stand
einen Augenblick lang da, als wundere er sich. Er fiel dann ganz langsam
in den Schützengraben, als würde er sich hinsetzen und dabei eine geeignete
Stelle auswählen. Der unglückliche Gilles sah aus wie ein Fliegenpilz, dem
übermütige Kinder in einem bösen Spiel den Kopf abgetrennt haben. Der Soldat
ähnelte einem ganz gewöhnlichen fortgeworfenen und fast schon vergessenen
Gegenstand. Da er kein Gesicht mehr hatte, konnte man auch nichts mehr daraus
lesen. Keinen Schmerz, keine Angst und noch weniger Überraschung. Nur die
Finger seiner linken Hand hielten immer noch die glühende Zigarette fest,
und am Zeigefinger der rechten Hand glänzte ein goldener Siegelring. Der
getötete Körper reckte sich noch einmal wie nach dem Erwachen, entspannte
sich dann und begann steif zu werden.
„Hier gibt es keinen Gott“, stellt der vierte Soldat, Wolk, düster fest,
„Nur Angst. Hier ist nicht mal der Teufel am Werk, denn auch die Taten des
Teufels haben irgendeinen Sinn. Das hier ist einfach nichts, das hier ist
Krieg.“
Danach beugte er sich nieder und nahm die Zigarette aus Gilles schon kalter
Hand. Er zog gierig daran, als wollte er die Seele aus ihr saugen. Er nahm
ein paar Züge und starrte stumpf in die stürmische Nacht.
Dort in der Ferne, hinter unserem Rücken, brannte Narseille wie bei einer
heidnischen Feier.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer, © ERATA 2009