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Interview

Ich gehe durch die Adverbien wie ein Hund durch die Weingärten

Gespräch mit Yvette K. Centeno in Lissabon am 20. 10. 2006

Viktor Kalinke: Meine erste Frage ist ganz banal. Wir sitzen hier in deinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Ist das auch der Ort, an dem du schreibst, an dem du deine Gedichte schreibst? Welches sind die Orte, an denen die Gedichte entstehen?

Yvette Centeno: Ja, die Orte, das sind Hefte. Die Gedichte entstehen nicht vor dem Tisch. Ich schreibe in Heften, wo es gerade kommt, im Garten, im Zimmer, im Wohnzimmer, ich schreibe in Heften.

Viktor Kalinke: Welche Orte spielen für dich, für dein Schreiben eine Rolle?

Yvette Centeno: Ein Ort etwa ist Tavira, es sind Orte, an denen ich mich in Ferien befinde, zufällige Orte. Orte, wo ich mich zurückziehen kann. Ich brauche Stille, ich muß alleine sein. Die letzten Gedichte habe ich z.B. im Garten des Hotels geschrieben, als ich auf Medeira war. Ich war dort alleine, es gab sonst niemanden. Ich schreibe dann in Heften und auch auf Zettel. Wenn ich hier bin, schreibe ich schon mehr ins Reine und arbeite daran. Dort aber fallen mir Ideen ein oder manchmal auch ein Vers.

Viktor Kalinke: Ist das Unterwegssein wichtig für dich? Der Aufenthalt an anderen Orten?

Yvette Centeno: Ja, sehr wichtig! Man ist dann freier. Man ist freier, wenn man sich außerhalb der normalen Umgebung befindet. Vor allem, da meine Umgebung ein bißchen verwirrend ist. Ständig kommt und geht da jemand. Kinder. Enkel.

Viktor Kalinke: Ich beziehe mich jetzt vor allem auf den "Garten der Nußbäume" und auf "Matriz" ("Anfang"). Gestern habe ich auch das erste Mal, in Paris auf dem Flughafen, Übersetzungen der Gedichte gelesen. Aber vor allem beim Lesen von "Im Garten der Nußbäume" ist mir ein Gedanke gekommen, der mich sehr beschäftigt und viele Fragen in mir aufgeworfen hat. Was sind literarische Figuren und was sind reale Figuren? Es gibt da Jacques, Eva, den Vater, den Großvater, die Tante, José-Maria, dann David u.a. Die Frage, die mich dabei beschäftigt ist, welche Anlässe dich zum Schreiben bringen. Was ist der Impuls? Ein Erlebnis? Eine Erinnerung? Ein Gedanke? Wann sagst du: „Jetzt schreib ich“?

Yvette Centeno: Also ich schreibe immer. Ich schreibe immer, aber, dieser Roman datiert aus den 70er Jahren, aus einer besonderen Phase meines Lebens, in der ich mit meinem Vater Shakespeare übersetzt habe, damit er sich etwas von seinem unmittelbar bevorstehenden Tod ablenken konnte. Zu diesem äußerst schmerzlichen Zeitpunkt hatten die Geschichten, die mir einfielen, alle etwas mit meiner Kindheit in Tavira zu tun. Dort war das Haus meiner Großmutter väterlicherseits. Auf eine bestimmte Weise hatte das alles mit einer sehr alten Erinnerung zu tun, die bis ins Mittelalter zurückgeht. Es war eine Legende in unserer Familie in Umlauf, die meine Großmutter erzählte: daß die Familie meiner Großmutter vom letzten Abencérrage abstamme. Dazu gibt es diese wunderbare Novelle/Erzählung aus dem 15. Jahrhundert: „Der letzte Abencérrage“ Er flieht aus Granada, als die katholischen Könige Granada besetzen, und sucht Zuflucht in Tavira. Aber wegen dieser Sorge um meinen Vater und der Aufmerksamkeit, die ich ihm widmete, erlebte ich all diese Kindheitsgeschichten noch einmal im Haus meiner Großmutter. Und dadurch ergab sich eine Verbindung / Brücke zu meinem damaligen Leben: Ich war bereits verheiratet, hatte Kinder und ein großes kulturelles Gepäck, nicht gerade typisch portugiesisch, eher französisch, polnisch und deutsch. Und das alles gab dem eine eher philosophische Dimension. Es ist eine Erzählung, die auf einer einzigen Ebene bleiben könnte, die aber verschiedene Schichten vereint. Aber das ist eine Sache, die ich erst später verstanden habe. Erst wenn ich sehr viel später das Geschriebene durchsehe, finde ich den Ort für die einzelnen Passagen. Wenn ich schreibe, ist es das Schreiben selbst, das mich beschäftigt. Erst hinterher, wenn ich es beendet habe, schaue ich mir an, was ich gemacht habe, hier auf dem Bildschirm, früher auf der Schreibmaschine.

Viktor Kalinke: Du hast jetzt schon ein wenig deine Arbeitsweise beim Schreiben angesprochen. Und auch in den Büchern selbst, sowohl in "Anfang" als auch "Im Garten der Nußbäume" schreibst du über dein Schreiben, ist das Schreiben selbst Thema. Es ist eine Selbstreflexion über das Schreiben an sich. Inwiefern spielt das Experimentieren für dich eine Rolle? Wie wichtig ist es für dich, etwas Neues auszuprobieren durch das Schreiben? Inwiefern ist das Schreiben für dich ein Experiment mit offenem Ausgang?

Yvette Centeno: Es ist ein Experiment mit offenem Ausgang, weil ich am Ende nicht weiß, was da wirklich steht. Ich muß es noch einmal lesen und bearbeiten, um besser zu verstehen, was ich geschrieben habe. Das was nicht interessant ist, nehme ich raus, das kommt nicht mit ins Buch hinein. Das Schreiben ist interessant. Der Moment, in dem ich sehe, daß etwas passiert ist, aber erst im Nachhinein kann ich sagen, ob etwas herausgekommen ist oder nicht. Was ich verstehe von meinem Schreiben ist, daß ich nicht so sehr daran interessiert bin, Figuren auszuarbeiten, sondern die Bewegung der Figuren. Für mich ist interessanter, auszuführen, wie diese innere Bewegung der Figuren aussieht, als eine Figur zu beschreiben – dick, mager, groß, klein – das sind sekundäre Eigenschaften. Und das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, daß ich mich mehr zur Lyrik hingezogen fühle als zur Prosa, denn der Leser eines Romans erwartet die Beschreibung der Figuren. Aber das interessiert mich selber nicht so stark wie die Bewegung von Figuren. Obwohl ich jetzt auch einen neuen Roman schreibe. Mein Schreiben hat vielleicht auch etwas mit der Notwendigkeit zu tun, Ordnung zu schaffen, Ordnung in einer recht ungeordneten Welt, in meinem Land z.B., wo es doch immer wieder drunter und drüber geht, aber auch in meinem Leben, Ordnung zu stiften, etwas zu ordnen. Prosa ist ein Bemühen um Ordnung in einer ungeordneten Welt. Das brauche ich. Wenn ich das nicht mache, eine längere Zeit, dann geht es mir nicht gut. Poesie ist etwas anderes. Ich kann nicht wissen, ob sie an die Tür klopft und sagt: "Schreib, schreib!" Aber dieses Ordnung schaffen in Prosa, das brauche ich, auch durch meine Arbeit an der Universität, die sehr viel Verwirrung mit sich bringt. Ich komm da sehr müde und durcheinander aus dem Unterricht heraus und brauche dann wirklich abends oder nachts so um zwei, halb drei eine Weile. Ich setze mich hin, und versuche ein bißchen Ordnung zu schaffen.

Viktor Kalinke: Du hast vorhin gesagt: „Später schaue ich, was bleibt und was ich nicht verwende“. Was ist der Maßstab, nach dem du entscheidest, was bleibt und was nicht? Gibt es für dich eine ideale poetische Form und wann ist diese Form gegeben?

Yvette Centeno: Ja, weißt du, die Form kann wechseln durch die Jahre. Ich schreibe nicht mehr, wie ich geschrieben habe als ich 18 Jahre alt war. Damals hab ich schon Gedichte geschrieben, die waren sehr surrealistisch, ein bißchen provozierend und so. Jetzt schreibe ich in einer beherrschteren, auch bescheideneren Weise, ganz anders, als ich früher geschrieben habe. Der Geschmack verändert sich, die Sensibilität, die Empfindlichkeit verändert sich. Auch Rhythmus ist für mich sehr, sehr wichtig. Auch in Prosa und oder in einem Essay. Den Rhythmus der Sprache finde ich sehr wichtig. Aber ein Ideal? Ich weiß nicht, ob ich ein Ideal habe, weil Ideale sich verändern. Zum Beispiel, was ich in den letzten Tagen geschrieben habe, das sind sehr lineare Verse, die von einem einzigen Bild leben. Diese Einfachheit mag ich. Früher war das anders, da war mein Schreiben eher barock. Einfachheit könnte ein Ideal sein, aber das ist schwer zu erreichen, diese Einfachheit der Sprache. Es hat nichts mit der Form zu tun, sondern mit dem Inhalt, dem Sinn, der Essenz des Schreibens.

Viktor Kalinke: Mir ist "Im Garten der Nußbäume" und in "Anfang" aufgefallen, daß es da einen Unterschied gibt in der Hinsicht, daß "Im Garten der Nußbäume" eher Monologe vorkommen und in "Anfang" eher Dialoge. Mich hat gerade diese dialogische Form sehr fasziniert, weil sie genau das erlaubt, was du eben beschrieben hast: eine einfache Sprache, eine raffinierte Einfachheit. Du beschreibst da ganz alltägliche Abläufe und Dinge und trotzdem ist es spannend sie zu lesen. Alltägliches zu beschreiben, finde ich, das ist eine sehr hohe Kunst, weil das erst einmal langweilig wirkt. Das ist ein Buch, das langweilig erscheint und das in Dialogform zu bringen, das fand ich genial. Wie ist diese Dialogform entstanden? Was hat dich auf die Idee gebracht, den Roman als Dialog zu schreiben?

Yvette Centeno: Ich habe beim Schreiben gemerkt, daß mich das Leben immer wieder unterbrochen hat, daß es das Schreiben selbst unterbrochen hat – die Kinder kamen herein, die Freunde. Da habe ich gemerkt, daß das auch ein Stilprinzip sein kann, in dem Augenblick, in dem man über das Leben schreibt, dem Leben auch Zugang zu lassen in das, was man schreibt, indem ich eine doppelte Struktur entwickle: die Struktur der Geschichte, die erzählt wird, und der Unterbrechungen. Aber es muß gleichzeitig auch noch lesbar sein, es darf nicht zu hermetisch werden, zu kompliziert. Ich lasse also zu, daß das banale, alltägliche Leben die Literatur unterbricht.

Viktor Kalinke: … und damit auch zur Literatur wird. Und umgekehrt: Die Literatur unterbricht das Leben. Welche Rolle spielt der Körper für dich beim Schreiben und auch für die Inhalte deines Schreibens? Welche Rolle spielen körperliche Empfindungen, der Bezug zu deinem eigenen weiblichen Körper, zum Muttersein? Welche Bedeutung hat das körperliche Erleben? Wie ist für dich das Verhältnis zwischen einer sinnlichen Beschreibung und abstrakten Gedanken?

Yvette Centeno: Leidenschaft ist in diesem Schreiben, aber das wechselt natürlich, das verändert sich mit den Arbeiten. Es ist nicht einfach. Der Körper mit 30, 40 Jahren ist natürlich ein anderer als der später. Die Beziehung zum Körper wandelt sich, auf subtile Weise hin zu einer Harmonie, die man auf andere Weise sucht. Das ist nicht leicht, die Leidenschaft loszulassen und zu akzeptieren, daß es andere Formen von Beziehung gibt, zum Leben und zum Schreiben, die harmonischer und demütiger sein müssen. Ich denke, daß das Leben ab einem gewissen Alter Geduld und Bescheidenheit lehrt. Es ist dieselbe Leidenschaft, aber in einer anderen Form. Ich kann jetzt mit 63 nicht mehr so schreiben, wie mit 30 oder 40.

Viktor Kalinke: Von Schopenhauer gibt es im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung ein Kapitel über die Anschaulichkeit. Er sagt, ein Begriff, der so abstrakt ist, daß man ihn nicht mehr auf ein Bild zurückbringen kann, daß es kein Bild mehr gibt hinter diesem Wort, das ist ein hohler, leerer Begriff, damit kann man nichts anfangen in der Sprache. Das sagt er sehr radikal.

Yvette Centeno: Aber er hat recht.

Viktor Kalinke: Mich interessiert, welches Verhältnis du beim Schreiben zum Bild hast. Gibt es geistige Bilder oder vielleicht auch reale Bilder von Künstlern oder Fotografien, die beim Schreiben vor deinem inneren Auge sind?

Yvette Centeno: Normalerweise treten Ideen und Bilder zusammen auf. Es trifft alles zu. Ich kann den Ausgang nehmen von einem Bild, das mich anspricht, von einem Kunstwerk von Hieronymus Bosch z.B. Es kann aber auch eine Landschaft sein, die mich berührt, und es können Rhythmen sein. Der Rhythmus ist schön, vielleicht ein Bild der Zeit. Und man kann das auch innerlich fühlen und die Notwendigkeit spüren, diesem Rhythmus eine Form zu geben. Es kann auch Musik sein.

Viktor Kalinke: Also der Rhythmus ist auch ein Bezug zum Körper und zur Welt?

Yvette Centeno: Ja.

Viktor Kalinke: Hier im Hintergrund ist dein Bücherregal zu sehen. Da stellt sich mir die Frage, welche literarischen Vorbilder du hast. Welche Bücher und Autoren haben dich inspiriert, mit wem stehst du – vielleicht virtuell über die Zeiten hinweg – in einem Austausch?

Yvette Centeno: Das sind eine Menge. Ich habe immer sehr viel gelesen. Als ich jung war, waren es Dostojewski, Tolstoi und Prévert, weil ich Prévert kennengelernt habe in Paris. Er war mein Freund meiner Familie. Und dann waren die Surrealisten alle wichtig. Und die Portugiesen, Fernando Pessoa, Almada Negeiros, Agustina Bessa-Luis, Herberto Helder, die große und die kleine Literatur. Ich habe immer gelesen, und ich brauche es zu lesen. Ich finde es wichtig in meinem Leben. Wenn ich nicht schreibe, lese ich. Deutsche Literatur habe ich mit Parzival von Eschenbach angefangen, und dann kamen Grimmelshausen, Goethe, Schiller, Novalis. Es gibt eine ganze Menge Schriftsteller, die ich sehr, sehr gerne habe. Paul Celan fand ich spannend. Er schreibt sehr intensiv und konzentriert, auf verdichtete Weise, und das hat meine Art, Gedichte zu schreiben, modifiziert. Ich habe dadurch gelernt, konzentriert und gereinigt zu sein. Das suche ich jetzt, wenn ich schreibe. Keine Adjektive und Adverbien und so. Das braucht man nicht wirklich. Die Essenz der Wörter ist wichtig. „Ich gehe durch die Adverbien wie ein Hund durch die Weingärten.“ [Yvette Centeno zitiert aus "Anfang"] Auf so etwas achte ich nicht. Wenn ich schreibe, schreibe ich. Danach schaue ich, was ich behalte. Ich streiche dann sehr viel und was bleibt, ist sehr wenig von dem, was ich geschrieben habe.

Viktor Kalinke: Das ist mir bei den Gedichten auch aufgefallen. Die Gedichte sind fast minimalistisch, sehr reduziert dadurch, aber gleichzeitig auch von einer existentiellen Schwere. Es sind existentielle Themen vom Inhalt her, also Frau-Sein, Mutterschaft, die da angesprochen werden. Es ist keine minimalistische Spielerei – das fand ich beeindruckend. Auf der einen Seite dieses Wegschneiden dessen, was zu viel ist, und auf der anderen Seite das stehen zu lassen, was für das Leben wesentlich ist, das "herauszuschreiben", ja zu befreien von den Hüllen, den Masken.

Yvette Centeno: Masken hab ich gehabt, als ich sehr jung war, in den ersten Büchern. Aber im Leben weiter zu kommen, heißt auch, sich von dem eigenen Leben zu befreien, sich zu befreien von dem, was man sich nicht wünscht, von Überflüssigem. Das werden dann „Knochen der Wörter“, wenn es möglich wird, ja.

Viktor Kalinke: Früher waren Masken wichtig für dein Schreiben, aber jetzt ist das anders. Wie ist heute dein Verhältnis zu deinem ersten erschienenen Buch, also zu deinem Erstlingswerk?

Yvette Centeno: Mein Erstlingswerk, das war eine große Freude. Es kam ganz, ganz unerwartet. Ich war sehr zufrieden damit, sehr zufrieden. Ich glaubte nicht, daß es so einfach wäre. Ich hatte schon viel geschrieben, und dann war dieses Buch akzeptiert bei dem Verleger, der ein Freund von mir war, und da war ich wirklich zufrieden. Aber dieses Buch ist sehr surrealistisch und sehr in der Nähe von Préverts Schreiben: Humor, Satire. Ich war dieses Buch. Ich würde nicht sagen "Ich mag dieses Buch oder ich mag es nicht", aber es gehört zu dieser Epoche. Ich war 20 Jahre alt, als dieses Buch herausgegeben wurde. Ich war sehr jung. Aber das war eine große Freude wirklich, eine große Aufregung: Erstes Buch. Gute Kritiken. Ein kleiner Scheck.

Viktor Kalinke: Du hast es vorhin schon erwähnt: Andere Autoren haben eine Rolle gespielt für dich, das Lesen ist für dich fast so wichtig wie das Schreiben selbst. Es ist vielleicht eine Balance, ein Wechselspiel zwischen Lesen und Schreiben. Doch es geht für dich ja auch darüber hinaus, weil du auch übersetzt, selbst übersetzt: Shakespeare, Stendhal, Goethe, Celan. Was liegt dir näher? Das Übersetzen oder das Schreiben?

Yvette Centeno: Schreiben ist sehr wichtig für mich. Wenn ich nicht schreibe, übersetze ich, manchmal aus Vergnügen, ohne die Idee, die Übersetzungen herauszugeben. Ich habe vieles übersetzt. Ich habe z.B. eine große Menge Lieder übersetzt für Freunde, die Pianisten sind oder Sänger und für die Konzertprogramme. Ich habe Gustav Mahler mit Texten von Friedrich Rückert übersetzt für meinen Sohn Pedro. Aber dieses Liederbuch ist nicht publiziert. Ich habe auch eine Menge Übersetzungen angefertigt für Radiosendungen, die ich zusammen mit einem Freund drei Jahre veranstaltet habe. Es ist ein Vergnügen zu übersetzen. Aber es ist schwer. Manchmal, wenn ich noch mal ein Gedicht lese, das ich übersetzt habe, denke ich: „ Ah, das gefällt mir nicht mehr, ich werde es noch mal übersetzen.“ Das geschieht mit Goethe z.B. Ich mag Goethe, er schrieb wunderschöne Gedichte, aber manchmal geht es nicht mehr mit dem Rhythmus, und ich mach es noch mal anders. Ja, es ist ein Vergnügen, aber Schreiben ist auch wichtig. Beim Schreiben schreib ich mich selbst und beim Übersetzen schreib ich einen anderen Autor. Ich mag es besonders, Poesie zu übersetzen. Prosa hab ich auch schon übersetzt, aber das Vergnügen liegt bei der Poesie. Prosa zu übersetzen ist hard work. Prosa ist sehr schwer zu übersetzen, schwerer als Gedichte. Aber Theaterstücke oder Gedichte zu übersetzen, das ist ein Vergnügen.

Viktor Kalinke: Es gibt auch die Haltung, daß es schwer ist Prosa zu übersetzen, aber Gedichte zu übersetzen, das ist unmöglich.

Yvette Centeno: Ja, du hast recht. Gedichte zu übersetzen, ist unmöglich und deswegen machen wir es immer noch einmal und noch einmal.

Viktor Kalinke: Welche Aufnahme haben die Übersetzungen, die du veröffentlicht hast, gefunden? Celan und andere Gedichtübersetzungen sind ja im Unterschied zu den Liedern im Portugiesischen auch schon veröffentlicht worden. Ich habe z.B. diese Ausgaben gesehen: Paul Celan zweisprachig Portugiesisch – Deutsch und René Char Portugiesisch – Französisch. Welche Aufnahme hat es in Portugal gefunden?

Yvette Centeno: Die Kritik hat diese Übersetzungen sehr gut aufgenommen, und man druckt die Bücher immer wieder neu, legt sie immer wieder neu auf. Noch jetzt bekomme ich Mails von Leuten, die in Brasilien diese Übersetzungen gelesen haben. Dort findet es große Anerkennung. Sie haben vorher nie Paul Celan auf Portugiesisch gelesen. Und das war natürlich sehr schön, diese Mails zu bekommen.

Viktor Kalinke: "Im Garten der Nußbäume" spielt ja auch die Politik eine Rolle. Es wird die Revolution erwähnt, es wird Verfolgung erwähnt, es werden Wanderungen erwähnt, also Umzüge von Land zu Land, von Polen nach Paris, von Mexiko nach Paris. Welche Rolle spielt die Politik, nicht die Tagespolitik, sondern politische Strukturen, Systeme, die Gesellschaft, für dein Schreiben, für deine Prosa?

Yvette Centeno: Ich war immer sehr aufmerksam gegenüber der sozialen Wirklichkeit, sozialen Problemen, sozialer Realität vor der Revolution. In Portugal ging es darum, um die Freiheit zu kämpfen. Nach der Revolution ging es dann darum, dafür zu kämpfen, daß eine soziale Gerechtigkeit sich verwirklicht. Ich bin in einem Elternhaus groß geworden, in dem mein Vater Revolutionär gewesen war. Er hat frontal gegen die Salazar-Diktatur gekämpft. Meine Mutter hatte mit ihrem Bruder die erste kommunistische Zeitung Polens gegründet. Meine Eltern haben sich in Frankreich kennengelernt. Meine Mutter ist meinem Vater nach Portugal gefolgt, weil sie sich in ihn verliebt hatte. Das sind die Gründe des Herzens. Mein Vater kämpfte auf eine sehr direkte Weise gegen Salazar und geriet dadurch mehrmals in Haft. Er mußte nach Argentinien emigrieren. Deshalb haben wir in Argentinien gelebt und ich erhielt in der Schule eine französisch-kastilische Erziehung. Wir sind nach Portugal zurückgekehrt, als ich zehn Jahre alt war. Meine Mutter ging nach Frankreich, und mein Vater wurde in Tavira unter Hausarrest gestellt. Und ich blieb ein Jahr in Tavira im Haus meiner Großmutter. Ich bin also inmitten von sozialen und politischen Fragen aufgewachsen. Ich habe mich daran gewöhnt, aufmerksam zu sein für meine Umgebung und die Probleme anderer. In Portugal gab es sehr viel Elend, Hunger, Analphabetismus. Dagegen kämpfte meine Familie. Nach der Revolution gab es andere Probleme. Was mir sehr leid tat, ist, daß mein Vater ein Jahr vor der Revolution gestorben ist, für die er so sehr gekämpft hat. Ich habe die Revolution erlebt und gern an ihr teilgehabt und ich setze mich weiter dafür ein, daß man die soziale Frage in Portugal wahrnimmt: die Armut gibt es weiterhin, den Analphabetismus, Kinder gehen nicht zur Schule... Wir haben die Freiheit, aber wir haben noch nicht den wirklichen Fortschritt, der die soziale Gerechtigkeit mit sich bringen muß. Und das setzt sich jetzt fort in der Frage der Emigranten aus Afrika, aus Brasilien und nun auch aus Osteuropa. Die Emigranten müssen mit Liebe aufgenommen, angenommen werden, auf gerechte Weise und mit Respekt. Natürlich geschieht das nicht immer. Das ist der neue Kampf. Das sind alles Fragen der Gerechtigkeit.

Viktor Kalinke: Was hat die Revolution verändert für dein Schreiben und das Veröffentlichen?

Yvette Centeno: Es war danach viel einfacher. Zum Beispiel hatte ich ein Manuskript mit Theaterstücken, das verboten war. Nach der Revolution wurde es sofort herausgegeben. Ja, Freiheit ist ein sehr wertvolles Gut. Freiheit ist etwas Wunderbares. Man konnte plötzlich erzählen, man konnte sagen, was man dachte und wollte. Es erschienen nach der Revolution sehr viele Tageszeitungen, die frei waren. Vorher waren die Tageszeitungen natürlich die des Regimes. Interessant ist auch, daß es nach der Revolution sehr, sehr viele Scheidungsfälle gab. In meinem Falle nicht, ich war glücklich verheiratet und bin es immer noch, aber diese gesellschaftliche Veränderung hat dazu geführt, daß viele Paare meiner Generation sich haben scheiden lassen. Das war erstaunlich in diesem Augenblick und schön. Ich bin natürlich neugierig und aufmerksam der Gesellschaft gegenüber, die um mich ist, auch in der Welt. Mein Interesse für Politik ist sehr stark, auch jetzt – Irak, Nordkorea. Ich interessiere mich für Politik, aber ich mache keine. Ich meine, ich gehöre zu keiner Partei, obwohl ich eingeladen war von der sozialistischen Partei. Ich brauche Freiheit zu denken und zu sprechen.

Viktor Kalinke: Soll die Dichterin, soll der Dichter heute in der Gesellschaft noch eine Rolle spielen oder soll sie unpolitisch sein? Und wenn sie eine Rolle spielen soll, wie? Wie soll sie sich einmischen?

Yvette Centeno: Kein Mensch ist unpolitisch. Wir sind in eine Gesellschaft hinein geboren und sobald du die Augen öffnest, bist du politisch, du hast eine Meinung, du hast eine Erziehung. Auch Beziehung ist politisch. Aber diese Idee, daß du schreibst, um zu politisieren, ist etwas anderes. Nein, das mache ich nicht. Ich schreibe aus Vergnügen, ob es einen Einfluß hat oder nicht. Wenn es einen Einfluß hat, gut, dann bin ich glücklich. Und wenn es keinen Einfluß hat, dann bin ich auch zufrieden. Was ich interessant finde, ist, daß ich, seit ich zwei Blogs im Internet geöffnet habe, viele Antworten auf die Dinge bekommen habe, die ich blogge. Einiges ist von mir, einiges von anderen Dichtern oder Schriftstellern, Philosophen. Dadurch sehe ich, daß alles in Beziehungen existiert. Es gibt keine Leere. Alles ist Beziehung. José Saramago beispielsweise gibt eine politische Lektion in jedem Buch, das er schreibt. Das mache ich nicht. Ich schreibe aus Vergnügen. Der Einfluß, den ein Buch haben kann, hat damit zu tun, was in diesem Buch steht. Aber das ist unabhängig von einer politischen Intention, die es vorher gibt. In einigen meiner Theaterstücke, die früher unveröffentlich waren, gab es einige politische Kritik, aber das war in Theaterstücken. Ich habe auch Brecht übersetzt, ich war in dieser Zeit beeinflußt von Brecht. In einer kleinen Menge von Theaterstücken hab ich diese politische Intention gehabt, aber das war vor der Revolution. Nach der Revolution sehe ich nicht mehr die Notwendigkeit, politisch zu kämpfen.

Viktor Kalinke: Welche Aufgabe hat die Literaturkritik für dich? Welche Aufgabe sollte der Kritiker erfüllen? Welche Resonanz haben deine eigenen Werke in Portugal erfahren?

Yvette Centeno: Ich habe keine schlechten Kritiken bekommen, aber ich habe etwas anderes bekommen, was vielleicht schlechter ist – das Ausbleiben einer Reaktion. Schweigen über ein Buch kann tödlich sein. Es ist eine Art, ein Buch zu töten. Ich verstehe, daß man zu meiner Prosa schweigt, weil sie wahrscheinlich schwierig ist. Ich bin nicht modisch. Was ich schreibe, ist am Rand. Ich befinde mich nicht im Fahrwasser von dem, was man schreibt.

Viktor Kalinke: Was würdest du dir von der Kritik wünschen?

Yvette Centeno: Daß die Kritiker lesen und interpretieren für andere Leser. Das ist alles, was ich mir wünschen kann. Das wäre schön.

Viktor Kalinke: Zum Abschluß eine Frage, die mich persönlich interessiert. In einem Roman "Anfang" kommt auch Laozi vor, das "Daodejing". Welche Rolle spielt das chinesische Denken, insbesondere Laozi für dein Denken?

Yvette Centeno: Das spielt eine sehr große Rolle. Ich habe sehr viele fernöstliche Philosophie und Gedanken aufgenommen. Der Daoismus ist die Landschaft der Seele und ich fühle mich wohl in dieser Landschaft. Das "Daodejing" ist eine Lektüre, die auf meinem Nachttisch liegt, immer auch in verschiedenen Sprachen, auch deine Übersetzung, die sehr, sehr schön ist. Die deutsche Sprache eignet sich manchmal sehr gut, um andere Sprachen zu übertragen, weil sie so viele Änderungsmöglichkeiten durch Präfixe und durch Suffixe hat. Man bildet neue Wörter durch ein Suffix oder Präfix. Die besten Übersetzungen, die ich kenne, sind deutsche. Die Franzosen sind gute Übersetzer, aber sie verändern auch leicht den Sinn, das geht sehr schnell, und die Deutschen machen das nicht.

Viktor Kalinke: Vielen Dank.

(Übersetzung der Passagen, in denen Yvette Centeno nicht Deutsch sprach: Markus Sahr)