Paul Tillard
ERSTER TEIL
KAPITEL I
Es wäre mir an jenem Morgen nicht in den Sinn gekommen, zu erkennen, seit
wann der Regen fiel, fein, dünn, hartnäckig, der die Sicht auf hundert Meter
versperrte, die über das Tal ragenden Berge verdeckte und den Eindruck ver-mittelte,
aus dem tiefsten Inneren einer Wolke zu kommen. Er rief mir zu viele Erinnerungen
ins Gedächtnis und mein Geist verlor sich in einem Rinnen ohne Ende. Es
war ein wenig, als ob meine Seele sich ertränke. Wenn man mich ge-fragt
hätte, seit wann dieser Regen fiel, ich hätte vielleicht geantwortet, daß
es schon seit aller Ewigkeit so war, daß es immer so sein würde an diesem
Ort, daß es sich um eine Weltuntergangs-Sintflut handelte und niemals die
Sonne in die-sem Tal erstrahlen könnte ...
Es wäre mir unmöglich gewesen, in diesem Augenblick anders zu antwor-ten,
und zweifelsohne wäre mir dann klar geworden, daß ich log, genauer noch,
daß ich mich belog; denn ich wußte, zumal ich sie ja kennen gelernt hatte,
daß es manchmal in diesem Bergdekor im Frühling so schöne Tage gab, so daß
es uns eine Sekunde lang widerfuhr, teilweise zu vergessen, was wir da auf
der Er-de machten, dieses ganze Unglück der Hölle. Eine Gurgel voller Luft
reicht aus, um einem das Leben wieder zurückzugeben, ein Lächeln, um ins
Gedächtnis zu rufen, daß die Freude existiert ...
Ich hätte trotzdem nicht anders antworten können, selbst wenn mir die Er-innerung
an einen schwindelerregend klaren Himmel in den Sinn gekommen wäre; denn
die Wirklichkeit des Augenblicks war für mich, daß eben an diesem Ort für
immer der Regen auf eben diese Weise fallen mußte, erdrückend, meine Brust
mit seiner Feuchtigkeit durchtränkend, lastend auf den Schultern, die Er-de
in Morast verwandelnd, in dem meine Füße stecken blieben. Es war eine Hommage
des Himmels an meine Erinnerungen, genauer gesagt an jene, welche meinen
Körper bis zum Überlaufen voll füllte, den Kopf, die Brust, den Bauch ...
und ich schämte mich trotz des Ansturms der wahrheitsgetreuen Erinnerungen,
empfand eine Scham, mich an diesem verlorenen Friedhof mit den verfaulten
Kreuzen am hinteren Ende einer Schlucht in Tirol wohlauf zu fin-den, Scham,
die beiden österreichischen Totengräber zu meinen Füßen zu be-trachten,
die schon mit halbem Körper in dem Grab verkrochen waren, welches sie öffneten.
„Zwanzig Jahre!“, brach plötzlich Gustave an meiner Seite hervor, „sie hät-ten
ihn doch wenigstens in Frieden lassen können!“
Er schien wütend, und ich wunderte mich darüber. Ich fühlte mich unfähig
zur geringsten Entrüstung.
„Und dabei denke ich noch gar nicht daran,“ fügte er hinzu, „daß ich mich
schon frage, was man nach der ganzen Zeit da drinnen schon noch finden wird!“
*
* *
Es war eine Exhumierung, die nicht in unserem Programm vorgesehen war.
Wir waren in das Land gekommen, Gustave und ich, so wie wir es alle zwei,
drei Jah-re taten, einfach, um uns damit zu begnügen, nachzusehen, ob das
Mahnmal, welches vor etwa fünfzehn Jahren mitten auf dem ehemaligen Appellplatz
des Lagers errichtet wurde, sich in einem guten Zustand befand, von der
Gemeinde des Nachbardorfes gebührend gepflegt wurde und die Goldbuchstaben
sorgfäl-tig nachgezogen wurden. Mit der Zeit wurde das eine Art Pilgerfahrt,
die immer mehr ihre Bedeutung verlor, und jedes Mal stärker zog es uns das
Herz zusam-men, als wir feststellten, daß sich die Wolken immer zahlreicher
an den Berg-flanken auftürmten.
„Wir sehen aus wie zwei alte Deppen“, sagte Gustave in diesen Augenblicken.
Das war sein Wort. Er tröstete sich mit kräftigen Kognakschlucken, die er
gleich aus der Flasche hinunterkippte; ich tat es ihm gleich, soweit ich
es konnte, und wir fuhren in einer einzigen Nacht die Strecke nach Paris
zurück, Gusta-ve am Steuer, der voll aufs Gas drückte, und ich, der es vorzog
zu schlafen, um mir nicht vorstellen zu müssen, daß jede Kurve, die sich
vor uns abzeichnete, die letzte sein konnte.
Diesmal hatten wir in der Gaststätte des Marktfleckens, wo wir am Vor-abend
abgestiegen waren, zwei französische Ärzte vorgefunden, die bereits vor
einem Bauernschmaus zu Tische saßen. Mehr noch als an ihrem allgemeinen
Auftreten und an ihrer Kleidung errieten wir ihre Nationalität an der Art,
wie sie die Kellnerin in Augenschein nahmen. Sie mochten noch keine dreißig
sein, das Alter, welches auch wir, Gustave und ich, vor zwanzig Jahren hatten.
Nach dem Essen hatten wir uns an einen Tisch zusammengesetzt, eine Flasche
Mira-bellenschnaps in unserer Mitte. Als Projektbeauftragte des Ministeriums
für ehemalige Kriegsteilnehmer waren sie gekommen, um die Exhumierung des
Leichnams eines ehemaligen Deportierten vorzunehmen; mit einem Schlag be-merkten
wir, daß eine Barriere uns trennte, als ob die Deportation eine so alte
Sache wäre, daß wir in ihren Augen ein wenig so wie Geister erschienen,
trotz unseres offensichtlichen Geschmacksinns, besonders bei Gustave, für
die Mira-belle. Der Größere mit einem leicht roten Kinnbart fragte mich
nach einer lan-gen Zeit, ob ich ein paar von den Toten des Friedhofs gekannt
habe.
„Einige“, antwortete ich.
Er zog ein Dossier aus einer Aktentasche, die er unter seinem Sessel liegen
hatte und überprüfte darin einige Blätter.
„Ein gewisser Bordier“ , präzisierte er, „sagt Ihnen der etwas?“
Zunächst erschien es mir, als ob ich mich verhört hätte. Der bärtige Arzt
prüfte immer noch seine Papiere, aber der Andere sah mich an; seine Nase,
ziemlich groß, war mit Sommersprossen bedeckt; es fehlte ihm wohl weder
an Intelligenz, noch an Güte: sein Auge strahlte lebhaft in einem grobschlächtigen
Gesicht; aber ich entdeckte, daß er niemals verstehen können würde, was
dieser Name Bordier bei mir hervorrief. Es war Gustave, der an meiner Stelle
antwor-tete:
„Wir haben zusammen gelebt, mehr als sechs Monate, Tag für Tag.“
„Sein Vater war General!“ präzisierte der bärtige Arzt, die Nase immer noch
in seinem Dossier.
„Ja, genau, General! ...“, sagte Gustave, und seine Stimme hielt schwebend
inne. Wir wußten allerdings noch manches mehr über seinen Fall; er selbst
hat-te es uns gesagt: so waren wir vor allem nicht in Unkenntnis darüber,
daß seine Frau ihn mit einem deutschen Offizier betrog, daß sie es war,
die ihn verhaften ließ ...
„Wenn ich davonkomme“, hatte er uns öfter gesagt, „dann weiß ich nicht,
wie ich diese Sache regeln kann; wegen meines Sohns! ...“ Denn er hatte
auch einen Jungen von sechs oder sieben Jahren. Es ist schwer, einem Kind
beizu-bringen, daß seine Mutter eine Schlampe ist.
„Das war ein ganz brillanter Typ“, sagte noch der bärtige Arzt, „ein Poly-technicien!“
„Ganz brillant!“ erwiderte Gustave.
Die Stimmen schienen mir fern. Mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch trank
ich meine Mirabelle in kleinen Schlucken. War das ein Glücks- oder ein Un-glücksfall,
der mir da dargeboten wurde? Bordier starb genau bei der Ankunft der Amerikaner,
ohne vielleicht zu wissen, daß er in Freiheit starb.
Die Verbrennungsöfen waren erloschen. Deshalb wurde sein Körper nicht verbrannt,
und er wurde nach dem Sieg mit fünfhundert anderen Toten in dem Bergkessel
beerdigt, wo wir uns jetzt befanden . Mehr als zehn Mal seit diesem Tag
war ich gekommen, um an seinem Grab seiner zu gedenken. Das war ich ihm
wirklich schuldig. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen, aber wenn ich genau
darüber nachdachte, fühlte ich mich ein wenig verantwortlich für seinen
Tod. Niemals hatte ich mir jedoch vorgestellt, daß ich nach so vielen Jahren
eines Tages seiner Exhumierung beiwohnen würde.
aus:
Das Brot der verfluchten Zeiten. Roman. Aus dem Französischen von Jürgen Strasser