Utz Rachowski
Die einzige Fahne (Ausschnitt)
An diesem Tag fiel ein Regen wie schwarzes Bier und Großmutter hatte nur
ein dünnes blaues Kleid an mit einer Küchenschürze darüber, sie nahm keinen
Regenschirm mit auf den Weg. Schon früh, früh am Morgen, war die Nachricht
gekommen, die Mitteilung, die Botschaft, der Ruf und hatte sich wie eine
Legende verbreitet. „So ist das immer“, sagt sie jetzt, „erst heißt es,
die Russen kommen und wir sollen ihnen Pfeffer in die Augen streuen, kochendes
Wasser bereit halten, sie überschütten und verbrühen. Dann klopft eines
Tages ein Mann an die Tür, der hinkt, er sagt mir, mein Mann sei gefallen.
Am Morgen reiten sie in die Schlacht, am Abend kommen die Pferde wieder,
mit leeren
Rücken, die Reiter liegen draußen im Feld. Dann sagen sie, es gibt Melonen
vorn an der Straße. Kommt man hin, gibt es keine. Das merke dir, mein Junge“,
sagt Großmutter, „solchen Nachrichten darfst du keinen Glauben schenken,
ohne selbst geprüft zu haben. Die erfinden sie nur, um uns zu quälen, das
ganze Leben lang. Prüfe die Nachricht, ehe du sie frißt, das mußt du dir
merken.“ Da geht sie, sie geht ohne Schirm in den schwarzen Regen. So geht
sie immer mit ihrer Küchenschürze darüber. So sehe ich sie, ihr blaues Kleid
weht mit allen Unterzipfeln in meine Kindheit. Der Saum schlägt mir den
Sinn vor die Stirn, dieses Blau ist die einzige Fahne, auf die ich je schwor
...
(aus: Meine
Sommer, meine Winter und das andere – Hörbuch, © ERATA 2006)