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Herta Müller

geb. 1953 in Nitzkydorf, Banat, in Rumänien Arbeits- und Publikationsverbot, 1987 Übersiedlung in die BRD. 1982 Debüt "Niederungen" in Rumänien (1984 ungekürzt in Deutschland)

Im Leipziger Literaturverlag ist ein Gespräch erschienen, das Axel Helbig mit Herta Müller geführt hat und im Band "Der eigene Ton" erschienen ist:

 

Das Leben läßt sich nicht fangen

Axel Helbig im Gespräch mit Herta Müller

Ich traf Herta Müller am 23. März 2003 in ihrer Wohnung in Berlin-Friedenau. Das Gespräch wurde sehr offen geführt. Ich glaube: Nie wieder bin ich dem, was man das sprachmagische Innenleben eines Autors nennen könnte, so nahe gekommen wie während dieses Gesprächs. Es war wie die Teilnahme an einer „Reise ins Ich“. Herta Müller hat ein nahezu magisches Verhältnis zu Reimen, Lauten, Worten, Sätzen und Formen. „Das diktiert einem etwas“, sagt sie. Für ihr Schreiben hat sie den Begriff der „erfundenen Wahrnehmung“ geprägt. Das heißt, es wird nichts berichtet oder dokumentiert. Für das existentiell Erfahrene wird eine poetische Sprache gefunden, die die Weite der Parabel anstrebt. Das Schreiben von Prosa ist für sie ein rauschhafter, Kraft aufzehrender Prozeß, bei dem alles mitschreibt. Ein Zustand, den man weder herbeiführen noch dauernd aushalten könnte, auf den man nur warten kann, um ihm dann vollständig ausgeliefert zu sein. Die Beschäftigung mit der von ihr entwickelten Form der Gedichtcollage ist so gesehen für Herta Müller eine Art Erholung von der Anstrengung des Schrei-bens von Prosa. Allerdings hat auch diese Beschäftigung für sie etwas Obsessives. In der weiträumigen hellen Wohnung gibt es eine Art Collagen-Werkstatt. Aus Illustrierten und Zeitschriften werden Bilder und Worte ausgeschnitten. Das ausgeschnittene Wortmaterial wird in einer Wortevorratskammer, beste-hend aus zahlreichen Schubfächern, archiviert. Aus diesem schier unerschöpflichen Reservoir entstehen surreal anmutende Gedichtcollagen, die die Größe einer Postkarte nicht überschreiten dürfen. Die Arbeit an einer Collage kann sich über Wochen hinziehen, ehe ein Ergebnis fixiert werden kann. Mitunter streut Herta Müller wie eine Pythia Wörter aus, um ein Orakel aus deren Strahlkraft zu empfangen. Automatismen, wie von den Surrealisten beschworen, meidet sie. Jeder Text ist in der eigenen Biographie verortet und wächst langsam aus diesem Erfahrungshintergrund heraus. Auf das vermeintlich Surreale in ihren Texten angesprochen, entgegnet sie: „Auch jede Realität hat einen Anteil an Surrealem. Man einigt sich ja nur auf die Realität.“

Axel Helbig: Frau Müller, Sie haben einmal gesagt: „Es ist nicht wahr, daß es für alles Worte gibt.“ ... „Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dort hin, wo sich Wörter nicht aufhalten können. Oft kann über das Entscheidende nichts mehr gesagt werden.“ Wie können die inne-ren Bereiche, wie kann das Unsagbare dennoch in einen Kontext gebracht und damit Bestandteil des Textes werden?

Herta Müller: Ich will, ich versuche dies. Das ist ja auch die Ursache, weshalb man sich so kapriziert zu schreiben. Diese ständige Besessenheit, es sagen zu wollen. Aber, ich habe es sehr oft erlebt, daß ich gerade an den Stellen, wo ich die größte Verwüstung um mich herum gesehen habe – seinerzeit in Rumänien, wo ich gesehen habe, daß Leute zerbre-chen, wo ich gesehen habe, daß Unglück passiert – daß gerade an diesen Stellen, nichts mehr, das ich hätte finden können, dem gewachsen gewesen wäre, um es zu zeigen. Und ich habe mich gefragt: Verdammt noch mal, wie kann man dieses Drama darstellen, auf-grund dessen ein Menschen zerbrochen ist und aus dem Unglück nicht mehr herausge-funden hat. Ich habe lange in einer Fabrik gearbeitet. Dort hat mich beeindruckt, wie wenig Menschen, die mit Literatur nichts zu tun haben, über ihre inneren Dinge reden müssen. Was für eine Souveränität im Schweigen steht. Nicht so wie wir, die wir immer irgendwie den Worten nachlaufen. Auch meine Mutter, die fünf Jahre deportiert war, hat geschwiegen. Natürlich beschäftigte sie das ununterbrochen, und sie ist auch für immer davon beschädigt. Aber, da kommt nichts, weil es nicht übereinstimmt, weil das Wort ihr nicht das gibt, was sie bräuchte, um sich zu helfen. Für das Schlimmste gibt es nicht im-mer Wörter. Es gibt sie wahrscheinlich überhaupt nicht. Das war in Rumänien vielleicht noch auffälliger, weil ich eine größere Distanz hatte. Die Landessprache war Rumänisch. Ich habe das gewissermaßen von außen gesehen. Dabei ist mir aufgefallen, daß die Leute, die nicht in Wörter vernarrt sind – und das ist ja nicht normal, daß man in Wörter ver-narrt ist – ihren Ausdruck in ganz anderen Bereichen finden, außerhalb der Sprache. Die müssen es nicht sagen. Ich glaube auch nicht, daß das Reden über alles etwas hilft. Das kenne ich nur aus dem Westen, daß man meint, daß etwas wieder gut sei, wenn man dar-über geredet hat. Nein, mit dem Reden kann man auch noch mehr kaputt machen, als wenn man nichts sagt. Ich halte das Schweigen für eine sehr komplizierte Sache. Das Schweigen kann hilfreich sein. Nicht das Verschweigen oder das Schweigen aus Angst. Sondern das Schweigen vor sich selbst, daß man sich nicht ständig alles, was einen um-gibt, im Kopf gegenwärtig macht. Wenn ich das in Rumänien gemacht hätte, hätte ich das gar nicht ausgehalten. Ich glaube, im Kopf gibt es einen Kompaß, der beurteilt, wieviel eine Person aushält. Und das, was sie nicht aushält, das verschweigt sich der Kopf. Er nimmt es vielleicht wahr, in Einzelheiten, aber er setzt es nicht zusammen. Es gibt nicht das ganze große Bild, es gibt nicht das ganze Ausmaß der Dinge. Sonst wäre ich irre geworden. Schon die Einzelheiten waren schwer genug, um jeden Tag damit zu leben. Wenn sich das alles noch zusammengesetzt hätte? ... Das kann ich jetzt machen, zeitlich und räumlich versetzt.

Axel Helbig: Sie weisen oft darauf hin, daß der verschwiegene (ausgelassene) Satz mit der gleichen Lautstärke sprechen müsse wie der geschriebene Satz. Wie erhält der verschwiegene Satz Gewicht?

Herta Müller: Literatur ist, was man das Poetische nennt. Das Poetische entsteht durch die Präsenz des verschwiegenen Satzes. Das denkt sich in den Kopf, gerade weil es nicht da steht. Wenn alles gesagt würde, dann wäre kein Geheimnis mehr da, dann wäre auch der poetische Schock weg oder er entstünde gar nicht erst. Wo sich zwischen den Sätzen nichts auftut, das ist für mich keine gute Literatur. Zwischen den Sätzen muß etwas herausschlagen, das mitreißt. Ich glaube, das ist bei jedem Autor so. Ob man das bewußt macht oder nicht. Ich mache das ja auch nicht bewußt bei jedem Satz. Aber, wenn ich einen Text wieder lese, und wenn ich merke, daß er mit etwas überfüllt ist, dann weiß ich, da muß etwas raus. Zwischen den Dingen muß dieser Atem stehen, diese Luft, wo der verschwiegene Satz seinen Platz hat.

Axel Helbig: Mir fällt auf, daß Sie den Sätzen – und wahrscheinlich auch den Worten – ein Eigenleben, ja fast einen eigenen Willen zuschreiben. Z. B. wenn Sie sagen, „der Satz weiß, wie er auszusehen hat“ oder „der Satz weiß, wo er hin will“.

Herta Müller: Das ist gar nichts Abgehobenes. Für mich bewegt sich das auf der Ebene der Praxis, des praktischen Umgangs mit Worten und Sätzen. Denn, warum suche ich so viel, warum suche ich so lange und warum mißlingt es so oft. Warum glaube ich dann irgendwann, jetzt ist es okay, jetzt kann ich’s nicht mehr anders machen, so muß es jetzt sein. Dann glaube ich wirklich, der Satz sieht jetzt so aus, wie er sich selber sieht. Der Satz sagt selber, ich bin jetzt in Ordnung, laß mich jetzt in Ruhe, ab jetzt kannst du nur noch kaputt machen. Das ist ja immer auch eine Sache des Wartens. Und es ist immer zweischneidig. Wenn ich zuviel daran ändere, dient es der Sache nicht. Wenn ich zu wenig suche, dient es ihr auch nicht. Ich muß immer diesen Punkt finden, wo es stehen bleibt. Wenn man sieht, daß es nicht weiter geht, muß man aufhören können. Wenn ich schon gar kein Urteil mehr haben kann, weil ich schon ganze Schlangen von Varianten im Kopf habe, dann muß ich mich mindestens ein zwei Tage frei machen davon. Das erfordert oft mehr Geduld, als ich habe. Für mich muß es immer eine Mischung aus Laxheit und Besessenheit werden. Diese Mischung ist jedoch schwer einzuhalten. Immer wieder ist entweder zuviel von dem einen oder zuviel von dem anderen da.

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Lesen Sie das gesamte Gespräch im Interviewband "Der eigene Ton", hg. von Axel Helbig.

 

 

 


Zum Interview-Band:
- Der eigene Ton

Herta Müller über Rumänien

Nobelpreis für Herta Müller