Jean-Michel Maulpoix
Nous connaissons par ouï-dire l’existence de l’amour.
Assis sur un rocher ou sous un parasol rouge, allongés dans le pré bourdonnant
d’insectes, les deux mains sous la nuque, agenouillés dans la fraîcheur
et l’obscurité d’une église, ou tassés sur une chaise de paille entre les
quatre murs de la chambre, tête basse, les yeux fixés sur un rectangle de
papier blanc, nous rêvons à des es-tuaires, des tumultes, des ressacs, des
embellies et des marées. Nous écoutons monter en nous le chant inépuisable
de la mer qui dans nos têtes afflue puis se retire, comme revient puis s’éloigne
le curieux désir que nous avons du ciel, de l’amour, et de tout ce que nous
ne pourrons jamais toucher des mains.
Vom Hörensagen wissen wir, dass es die Liebe gibt.
Auf einem Felsen sitzend oder unter einem roten Sonnenschirm, in der Wiese
liegend, in der Insekten summen, die Hände unter dem Nacken verschränkt,
im kühlen Dunkel einer Kirche kniend, oder auf einem Strohsessel kauernd
im Zimmer eingeschlossen, mit gesenktem Kopf, die Augen auf ein weißes Blatt
Papier gehef-tet, träumen wir von Flussmündungen, Stürmen, Brandungen, Windstille
und Gezeiten. Wir hören in uns den unerschöpflichen Gesang des Meeres aufsteigen,
in unsere Köpfe strömen und sich wieder zurückziehen, wie das ständige Kommen
und Gehen unse-rer seltsamen Sehnsucht nach dem Himmel und nach der Liebe
und nach allem, was wir niemals mit Händen greifen können.
Aus dem Französischen von Margret Millischer, © LLV 2009
aus: Der Geistschreiber
ICH BIN IN DER RUE HAUTEFEUILLE in Paris am 9. April 1821 geboren, dann
ein zweites Mal im Spital von Rouen, am 12. Dezember des gleichen Jahres.
Ebenso bin ich zweimal gestorben, zunächst in Marseille am 10. November
1891 um 10 Uhr morgens, dann im Abstand von einer Woche, jedoch ein halbes
Jahrhundert später, um 9 Uhr am 18. November 1952 in der Avenue de Grevelle
in Charenton.
Diese Daten sind nicht sicher, genauso wenig wie diese Orte und Uhrzeiten.
Ich habe das Licht der Welt erblickt und habe sie dann verlassen. Ein Nichts
reicht, um mich glauben zu machen, daß mein Leben begonnen oder mit einem
Schlag sein Ende gefunden hat. Ich habe nie aufgehört zu entstehen, dann
zu vergehen und weiß nicht mehr viel über meine eigene Geschichte. Die paar
Bücher, die ich geschrieben habe, haben mehr Realität als ich. Vielleicht
ist ja das Leben eines Menschen alles in allem allein das: eine schlecht
definierte Abfolge von imaginären Geburten und Hinscheiden. Man begreift
es gerne als einmalig und stetig, ähnlich einem Fluß, der von seiner Quelle
zu seiner Mündung hinabfließt, man verleiht ihm eine Orientierung und ein
Geschick, man nennt es glorreich oder verdammt, wo es doch letzten Endes
nur ein Haufen von zerknüllten, mit Streichungen und Flekken bedeckten Papieren
ist.
Ich weiß nicht wirklich, wessen Sohn ich bin. Ich habe meine Eltern kaum
gekannt. Manche erzählen, daß mein Vater ein sehr kultivierter Mann von
tadelloser Vornehmheit gewesen sei, der unter dem Ancien Régime eine feine
Erziehung genossen hatte. Seine Lektüre der Philosophen und sein Sinn für
die Künste hatten ihn von der Religion abgewandt, welcher er sich in seiner
Jugend zu verschreiben gedacht hatte. Andere meinen, daß er Vorstand der
Anatomie gewesen sei, bevor er, obwohl er Titel und Akademien verabscheute,
Chefmediziner geworden sei. Andere wieder meinen, daß er Kapitän gewesen
sei, von eher mittlerer Körpergröße, mit blauen Augen, hoher Stirn, kurzer
und leichter Stupsnase und einen Schnurrbart nach der Mode des Kaisers getragen
habe. Noch andere meinen, daß er Buchhalter, später Warenhändler in Aulnay-sous-Bois
gewesen sei.
Meine Mutter, so sagt man, war eine Schneiderin, die aus armen Verhältnissen
stammte. Sie kannte die Not und fürchtete stets, wieder dorthin zurückzufallen.
Man sagt auch, daß sie die häuslichen Pflichten ihr ganzes Leben lang voll
in Beschlag genommen hatten, und daß ihr Sinn für Moral keinerlei Schwächen
hatte. Wenn sie meinen Vater nicht getroffen hätte, wäre sie zweifellos
eine alte Jungfer geblieben, verdammt zur Mittelmäßigkeit. Ihre Totenmaske
ist heute in der Bibliothek von R. aufbewahrt: sie sieht dem Gesicht Charles
Baudelaires ähnlich, wie Carjat es photographiert hat.
Als Kind war ich gemütlich. Als Jugendlicher wurde ich schwierig, mißtrauisch
und stets bereit zu rebellieren. Meine Studien sollten sich nicht lange
fortsetzen. Die Mittelschule schätzte ich kaum, und die Spötteleien meiner
Kameraden konnte ich schlecht ertragen. Ich mochte jedoch Latein, die berühmten
Männer der Antike und die Fabeln von La Fontaine. Mit dreizehn träumte ich
davon, einen Roman über Isabella von Bayern zu schreiben. Mit sechzehn hatte
ich bereits den Kopf voller Titel: Der Maskenball, Die rote Geschichte,
Die schöne Dorothee, Die Karodame, Komödie des Dursts* ... Ich dichtete
einige schwülstige Oden zu Ehren der Märtyrer verflossener Zeiten und skizzierte
mehrere Tragödien in Alexandrinern.
Ich machte ohne Überzeugung ein bißchen Medizin und Jus. Meine Professoren
erschienen mir grau und farblos. Die Langeweile packte mich zur gleichen
Zeit wie die Freude am Müßiggang und am Flanieren. Bald durchstreifte ich
die Straßen von Paris.
Ich übte verschiedene Berufe aus, darunter jenen des Großhändlers. Aber
eigentlich habe ich nur mit Wörtern Handel getrieben. Ich schrieb Bücher,
in Versen oder in Prosa. Ich mochte die Wolken, schöne Sätze, seltene Werke
und Gravuren.
Ich bin mit Malern und Musikern in Verbindung gestanden. Ich habe meine
Pfeife verkehrt herum geraucht. Ich habe zahlreiche Gifte gekostet. Ich
habe mich selten früh zu Bett gelegt.
Ich konnte mir nicht vorstellen, anderswo als in Paris zu leben, wenngleich
ich mich fallweise für einige Tage nach Lothringen oder in die Normandie
aufs Land zurückzog, wohin ich mir einige Bande bewahrt hatte, im vertrauten
Schatten einer Linde, zwischen Schafen und Hühnern.
Ich mochte die Straßen der Hauptstadt gerne und wollte, daß die Menschenmenge
dort nicht meine Einsamkeit störe. Ich mochte ihre seltsamen Waren, ihre
Lichter, ihre Halbstunden-Freundschaften und ihre Fünfminuten-Maitressen.
Zur Abenddämmerung führten mich meine Schritte oft zu irgendeinem leichten
Mädchen am Ende einer Sackgasse. Nachmittags folgte ich bisweilen aus Untätigkeit
den Leichenzügen oder den Hochzeitsgesellschaften. Meine Tage endeten oft
im Halbschatten eines Männer-Boudoirs, wo man raucht, bis spät in die Nacht
trinkt, alte Liebschaften erzählt und immer wieder Gründe sucht, weiterzulieben.
Aus
dem Französischen von Jürgen Strasser, LLV 2009