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Robert Hodel (Hg.)

Aus dem Vorwort

Die vorliegende zweisprachige Anthologie vereinigt zum ersten Mal eine ganze Generation zeitgenössischer serbischer Dichter in einem Band. Damit öffnet sie Raum für sehr unterschiedliche ästhetische wie auch ethisch-ideologische Zugänge. Mit dieser Breite ist ein wichtiges Anliegen des Gedichtbandes verbunden: Er soll ein Bild Serbiens und der serbischen Dichtung vermitteln, das möglichst wenig durch eigene Überzeugungen und Vorlieben geprägt ist. Leitend für die Auswahl der Dichter war deshalb die Rezeption in Serbien selbst, die aufgrund von bestehenden Anthologien, literaturhistorischen Artikeln und Vorschlägen namhafter Kritiker und Dichter erschlossen worden ist.

Ein zweites Anliegen der Anthologie erwächst aus den tragischen Ereignissen der 1990er Jahre und ihrer dominanten Wahrnehmung in der westlichen (insbesondere auch deutschsprachigen) Welt: Alle Autoren sind mit sieben Gedichten vertreten, die einen Einblick in die Gesamtentwicklung ihres dichterischen Werks ermöglichen. Da die älteren, in den 1940er Jahren geborenen Autoren bereits in den frühen sechziger Jahren zu schreiben begannen, stellen die versammelten Texte so ein Panorama der letzten fünf Jahrzehnte dar. Es liegt also in einem gewissen Sinne ein Geschichtsbuch über ein halbes Jahrhundert vor.

Diese Geschichte setzt in den liberal und dezidiert jugoslawisch geprägten sechziger Jahren ein und mündet nach Titos Tod in einen fatalen Wettlauf national-religiöser Identitäten, der auch das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch maßgeblich als „Nachkriegszeit“ erscheinen lässt. Freilich handelt es sich bei diesem Panorama nicht um jene „objektive“ Geschichte, die weiträumig ganze Netze von Ereignissen und Personen zu erfassen versucht, sondern um zerstückelte, vom individuellen Erleben geprägte und sich ihrer Beschränkung bewusste Wahrnehmungsmomente. Diese schillernden und wechselseitig oft unvereinbaren Innensichten setzen nun dort ein, wo die Berichterstattung der neunziger Jahre meist aufgehört hat. Gemeint sind nicht nur selbstkritische Befragungen der eigenen historischen Rolle, die Nöte eines Deserteurs oder die Fremdheit eines Emigranten in Gast- wie Heimatland, sondern auch der weitgehend kanonisierte und dennoch persönliche Blick auf die Geschichte des Kosovo, die Erfahrungen eines Vertriebenen aus der kroatischen Krajina, die mentale Wirkung der Bombardierung der Heimatstadt oder das Empfinden eines heimgekehrten Soldaten. So stehen ländlich-patriarchalisch geprägte Vorstellungen von Familie, Arbeit und Religion in unmittelbarer Nähe zur kämpferischen Profanisierung und ironisch-sarkastischen Unterwanderung eben dieser Werte, um insgesamt ein Bild eines Landes zu vermitteln, dessen schillernde Meinungsvielfalt sich kaum von andern Ländern Europas unterscheiden dürfte. Vor allem aber zeigt sich in dieser schillernden Vielfalt Eines: Die Gedichttexte repräsentieren viel weniger Serbien als das Allgemeinmenschliche, das, wie Nastasijević es formulierte, über dem Nationalen blüht und unter dem Nationalen wurzelt.

Dennoch erscheint es notwendig, auch etwas näher auf jene „objektive“ Geschichte einzugehen, die in den Gedichten zwar nur sporadisch aufscheint, nichtsdestoweniger aber jenen Hintergrund abgibt, vor dem man die Texte unweigerlich liest. Hierbei muss ein besonderes Augenmerk der jugoslawischen Periode gelten, da sie manchem Leser weniger präsent sein dürfte als die jüngste Vergangenheit. Im Folgenden sollen dabei die Wechselwirkungen zur Entwicklung der Literatur kurz skizziert werden, wobei die Literaturgeschichtsschreibung der jugoslawischen Periode als weitgehend kanonisiert gelten kann, während die letzten beiden Jahrzehnte in dieser Hinsicht erst ansatzweise Entwicklungslinien erkennen lassen.

Noch bevor die zwischen 1940 und 1960 geborenen Dichter zu schreiben begannen, hatten sich die Literaturen Jugoslawiens von den kollektiven Themen der ersten Nachkriegsjahre – vom Volksbefreiungskrieg und vom sozialistischen Aufbau – befreit. Entscheidende Voraussetzung für die Abkehr von diesen sozrealistischen Prämissen war Titos Bruch mit Stalin (1948), der den Beginn eines „jugoslawischen Sonderwegs“ markierte. Damit waren auch die Grundlagen für einen wirtschaftlichen Aufschwung gelegt, der weit über die Grenzen der „blockfreien Staaten“ hinaus Anerkennung fand.

Die Liberalisierung der FNRJ (Federativna Narodna Republika Jugoslavija/Föderative Volksrepublik Jugoslawien) setzte bereits Anfang der fünfziger Jahre ein, als die Zwangskollektivierung abgebrochen und die rechtliche Stellung der Glaubensgemeinschaften verankert wurde. Neben der Blockfreiheit gründete der eigenständige sozialistische Weg in einem transnationalen Jugoslawismus und einem Selbstverwaltungssystem, das in den 1960-1970er Jahren – in Tuchfühlung mit der Frankfurter Schule – in ganz Europa diskutiert wurde. Die Resultate waren, vor allem in der Zeit der FNRJ, beachtlich. So erhöhte sich das Sozialprodukt von 1953 bis 1965 im Durchschnitt um 8,1 % , Bauern und Arbeiter rückten zu geachteten Staatsbürgern auf, die Gleichstellung der Frau wurde gesetzlich verankert (1946), die Abtreibung liberalisiert und die Beschäftigung im Ausland legalisiert. Jugoslawien, das 1963 zur „Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“ (SFRJ: Socialistička Federativna Republika Jugoslavija) umbenannt wurde, war damit das einzige sozialistische Land Europas, dessen Bürger mehr oder weniger frei reisen konnten. Entsprechend intensiv war auch der Einfluss westlicher Kultur in Literatur (Existenzialismus, Verismus, Neoavantgarde, Postmoderne), Musik (Jazz, Blues, Pop, Flower-Power, Rock ’n’ Roll), Film (Hollywood, Film noir, Italienischer Neorealismus), Mode (Jeans, Lederjacke), Verhalten (Auflösung patriarchalischer Normen, sexuelle Revolution)…

Als Vorläuferin der in diesem Band versammelten Dichtung ist die emotional geprägte, zum Intimen und persönlichen Bekenntnis hin geöffnete Lyrik zu nennen, die eine erste Reaktion auf die sozrealistische Literatur der Nachkriegszeit darstellte. Diese Aufkündigung des Primats des Kollektiven fand im serbischen Bereich eine besondere Ausprägung bei Stevan Raičković, in Kroatien bei Autoren um die Zeitschrift „Krugovi“ (Kreise): Slavko Mihalić, Milivoj Slaviček, Ivan Slamnig, Antun Šoljan, und bereits auch bei deren Vorläufern Vesna Parun und Jure Kaštelan.

Auf diese „neoromantische“ Strömung folgten im serbischen Kontext mit Vasko Popa und Miodrag Pavlović zwei Dichter, die mit der Poesie „der weichen und zärtlichen Stimmung“ (Jovan Deretić) radikal brachen und damit eine „zweite Moderne“ initiierten. Diese Strömung, die sich auf Dichter der „ersten Moderne“ wie Miloš Crnjanski, Momčilo Nastasijević, Ivo Andrić, Miroslav Krleža oder Marko Ristić berief, prägte die 1950-60er Jahre maßgeblich und blieb auch in späteren Jahren wichtiger Orientierungspunkt.

Als in den Sechzigern die ersten hier vertretenen Dichter (Ivan Rastegorac, Milutin Petrović, Milan Milišić, Ismet Rebronja, Rajko Petrov Nogo, Raša Livada, Jovan Zivlak) zu publizieren begannen, sahen sie sich im serbischen Bereich vor allem mit zwei Ausrichtungen der „zweiten Moderne“ konfrontiert. Die erste (mit Borislav Radović und Velimir Lukić) trug neosymbolistische Züge und war der Natur und der reinen Lyrik zugewandt, die zweite (mit Miodrag Pavlović’s zweiter Schaffensphase, Ivan V. Lalić und Jovan Hristić) zeigte neoklassizistische Züge und legte den Fokus auf die Geschichte. Für beide Ausrichtungen war die Auseinandersetzung mit dem Existenzialismus von hoher Wichtigkeit. Die neoklassizistische Dichtung gewann dabei an solchem Einfluss, dass sie ihrerseits wieder vehemente Reaktionen evozier-te. An prominenter Stelle stehen hier Matija Bećković’s frühe, sinnlich-heitere Liebeslyrik und Poesie der Estrade wie auch die populär vertonte Dichtung eines Duško Trifunović.

Wie bereits mit der Zeitschrift „Krugovi“ angedeutet, ist es kaum vertretbar, die literarische Entwicklung dieser Jahrzehnte ausschließlich innerhalb einer Nationalliteratur beschreiben zu wollen. So stand etwa Bećković’s Estradendichtung der bosnische Autor Izet Sarajlić zur Seite, der, wie Bećković, eine enthusiastische Rezeption in ganz Jugoslawien erfuhr.

Analoges gilt auch für die hier vertretene Dichtergeneration. Auch sie schrieb in einem weitgehend gemeinsamen Kulturraum, der innerhalb des Serbokroatischen eine besondere Intensität erreichte. An die Seite der hier vertretenen serbischen Autoren wären also auch kroatische und bosnisch-herzegowinische zu stellen: Ivan Kordić, Josip Osti, Ivan Rogić Nehajev, Mile Stojić, Goran Babić, Krešimir Bagić, Zvonko Kovač bzw. Džemaludin Alić, Sead Begović, Abdulah Sidran, Irfan Horozović, Ferida Duraković, Branko Maleš, Zilhad Ključanin, Marko Vešović, Admiral Mahić, Enver Kazaz oder Semezdin Mehmedinović. Ihre weitgehend geteilte soziokulturelle Herkunft würde es zweifellos rechtfertigen, sämtliche Autoren in einem Band zu vereinigen.

Ungeachtet des zunächst unverkennbaren Aufschwungs der FNRJ traten bereits in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ökonomische Defizite und ungelöste politische Fragen zum Vorschein. Das Parteimonopol, das im Vorsitzenden Tito für dessen Lebenszeit verkörpert war, verhinderte eine grundlegende Erneuerung der Wirtschaft. Dies änderte sich auch nicht, als sich 1964/65 die Modernisierer mit dem „Selbstverwaltungssystem“ und der „sozialistischen Marktwirtschaft“ gegen die Zentristen durchsetzten. Die Außenhandelsbilanz blieb defizitär, die Auslandsverschuldung stieg kontinuierlich an, sodass die SFRJ Ende der siebziger Jahre zu den höchst verschuldeten Ländern Europas gehörte. Vor allem aber konnte das Nord-Süd-Gefälle nicht ausgeglichen werden. So schrumpfte die Analphabetenrate bis 1971 zwar in Slowenien auf 1,8 %, im Kosovo aber betrug sie noch immer 44 %. Mitte der siebziger Jahre war das Bruttosozialprodukt in Slowenien doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt (und in Zentralserbien) und sechsmal so hoch wie im Kosovo.

Bereits 1964 sah sich Tito gezwungen, mit der Vorstellung des Jugoslawentums, das die einzelnen Nationen und Nationalitäten ablösen sollte, zu brechen. Nach 1969 vollzog sich die Föderalisierung des Staates nach dem Prinzip der nationalen Parität. Ein wichtiges Ereignis dieses Wandels war die Anerkennung der Muslime als „Nation“ (narod, 1969). Parallele Forderungen der Albaner wurden hingegen abgewiesen, sodass es im Herbst 1968 zu blutig aufgelösten Demonstrationen kam. Ungeachtet dessen verstärkte sich in der seit 1963 autonomen Provinz Kosovo die Dominanz der rasant anwachsenden albanischen Mehrheit und damit auch die Abwanderung der serbischen Bevölkerung.

Den Demonstrationen im Kosovo gingen unmittelbar Studentenunruhen in Belgrad und Zagreb voraus. Hierbei handelte es sich zunächst um Proteste einer jungen Generation gegen das „Establishment“ und das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis der selbstverwalteten Arbeiterräte. Die Revolte hatte einen basisdemokratischen Anspruch und stand im ‘Zeichen der Utopie einer besseren und gerechteren Welt’“ (Stevan Tontić). Aus dieser Bewegung heraus formierte sich in Serbien und Kroatien (um die Zeitschrift „Praxis“) eine „Neue Linke“, während sich der „Kroatische Frühling“ immer deutlicher zu einem Forum nationaler Kundgebungen entwickelte. Als 1971 schließlich die Forderung eines kroatischen Nationalstaates erhoben wurde, griff Tito rigoros ein, indem er die Parteikader „säuberte“ und die Parteiorganisation straffte. Freilich wandte sich Tito nicht mehr nur gegen nationale und nationalchauvinistische Tendenzen, immer mehr hatte er seine Position auch gegen die Vertreter des Liberalismus und der „Neuen Linken“ zu behaupten, die Marcuse, Adorno und Horkheimer lasen.

Während die junge Dichtergeneration in den sechziger Jahren enthusiastisch enttabuisierte, profanisierte und sich nicht nur dem gesamten jugoslawischen Raum, sondern auch über ihn hinaus öffnete (vgl. z. B. Raša Livadas Gedichte „Blick auf den Fluss“ und „Blick auf den Blick“), begann in den siebziger Jahren eine verstärkte Rückorientierung und Rückbesinnung auf die eigene Tradition. Diese Tradition erschloss sich dem Dichter in einer erhabenen Diktion und einer hermetischen Bildlichkeit, die oft Rurales und Sakrales verband (Darinka Jevrić: „Fresko“, Tanja Kragujević: „Die Sommer“, Rajko Petrov Nogo: „Aus Gottes Achselhöhle“). Eine deutlich neosymbolistische Prägung erlangte diese Tendenz bei Milan Milišić („Trauung“).

Gleichzeitig etablierte sich in den Siebzigern auch eine engagierte Dichtung, die in Äsopscher Manier soziale und politische Missstände anprangerte (Raša Livada: „Hafenamt“, Novica Tadić: „Finsterer Kletterer“). Insofern stellte die unverfrorene Beschimpfung der Partei in Branko Čučaks Gedicht „Schock“ tatsächlich etwas Schockierendes dar. Sehr oft ging das soziale Engagement dabei mit der Vorliebe für das Alltägliche und dessen unprätentiöse Sprache zusammen.

Ein solcher „Verismus“ trat in der Prosa als sog. Wirklichkeitsprosa hervor und fand in Dragoslav Mihailović’s Roman „Als die Kürbisse blühten“ einen besonderen – am Rotwelsch orientierten – sprachlichen Ausdruck. (Die Theaterfassung des Romans wurde aufgrund der Erwähnung der Gefangeneninsel Goli Otok 1969 verboten). Veristische Tendenzen in der Dichtung vertraten insbesondere Novica Tadić, Miloš Komadina („Mutter“), Duško Novaković („Küche“) und – in den achtziger Jahren – Nebojša Vasović („Fliegen auf Wegen“) und Miroslav Maksimović („In jedem Büro“).

Ungeachtet des Umstands, dass es bis zu Titos Tod 1980 sehr wohl tabuisierte Themen und eine gewisse Selbstzensur gab, war die jugoslawische Literaturszene in keiner Weise mit einer Zensur nach Art der Ostblockländer konfrontiert. Wer etwas zu sagen hatte und, vor allem, wer Qualität aufwies, konnte grundsätzlich veröffentlichen. Ausdruck dieser Offenheit ist auch jene Literatur, die schonungslos Desillusionierung und Ausweglosigkeit thematisierte (Stevan Tontić: „Moment in den blauen Bergen“, Jovan Zivlak: „Ich schließe das Fenster“). Die schöpferische Freiheit schlug sich aber ebenso sehr in der Form nieder. Parallel zu den kolloquialen Tönen der Veristen etablierte sich in den Siebzigern mit Milutin Petrović („Der Schwan schaut, bewegt den Kopf nicht“) und Vojislav Despotov („zweites Gedicht“) eine neoavantgardistische Lyrik, der auch Vladimir Kopicl und teilweise Stevan Tontić („Verb sterben“) zuzurechnen sind. Diese Autoren, die vorwiegend aus dem urbanen Sein heraus schrieben, pflegten einen radikalen Sprachreduktionismus, den sie bewusst an die Grenze der Verständlichkeit führten.

Gegen Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre mauserte sich mancher dieser Neoavantgardisten fast unmerklich zu einem Postmodernisten (Vladimir Kopicl: „Sex Angels“, Vojislav Despotov: „Ich muss in den Brunnen springen“). Das Sprechen einer eigenen Sprache, war sie nun hoch kultiviert oder soziolektal und dialektal eingefärbt (vgl. die im südserbischen Dialekt von Vranje verfassten und hier auf Schweizerdeutsch wiedergegebenen Gedichte „Weder“ und „Nou (Null)“ von Miroslav Cera Mihailović), wurde zugunsten eines Diskurses aufgegeben, der die authentische Dichtersprache durch Formelhaftigkeit (Nebojša Vasović: „Schalmeien/Wind“) oder Zitathäufung unterwanderte (Nikola Vujčić: „Rhetorische Fra-ge“). Mit dieser Absage an einen eigenständigen Ausdruck fiel als eine der letzten Bastionen modernistischer Sakralität auch die Vorstellung des genialen Schöpfungsakts (Nebojša Vasović: „Schnee“). Wie Slobodan Zubanović’s Gedicht „Und das ist“ nahelegt, konnte eine solche Entweihung dabei sehr wohl mit einer gewissen Poetisierung des Alltags zusammengehen.

Parallel zu dieser radikalen Ironisierung und Relativierung jeglicher Werte schrieb sich indessen auch jene literarische Linie der siebziger Jahre weiter, die Rückhalt in Tradition und Moral suchte. Bei Ismet Rebronja trägt diese Rückbesinnung ein folkloristisch-mythisches Gewand („Eben geborener Mensch“ und „Haus“), Miroslav Maksimović hingegen bindet sein ethisches und zugleich mit leichter Ironie beschlagenes Pathos an eine klassische Form (vgl. das Sonett „Blatt“).

Wie sich die Dichtung der 1960-1970er Jahre vor dem Hintergrund der SFRJ lesen lässt, so ist man auch geneigt, die postmoderne wie auch neotraditionalistische Tendenz mit dem Nach-Tito-Jugoslawien zusammenzubringen. Die schleichende Auflösung des Ostblocks, die sich in der polnischen Solidarność 1980 Bahn brach, warf ihre Schatten auch auf Jugoslawien und das Verhältnis des westlichen Bündnisses zu dem „blockfreien“ Staat. Dies war umso gravierender, als die wirtschaftlich angeschlagene SFRJ hoch verschuldet war. Die Lebenshaltungskosten stiegen zwischen 1979 und 1985 ums Neunfache, während die Arbeitsproduktivität um 9 % sank. Es kam hinzu, dass die nationalen Kräfte immer mehr an Boden gewannen. Ein frühes einschneidendes Ereignis war der 1981 neu aufgeflammte Kosovo-Konflikt, den man mit Panzereinsatz und Massenverhaftungen einzudämmen versuchte. Besiegelt wurde der fortschreitende Zerfall des Landes schließlich in den Wahlen von 1990, die in den einzelnen Republiken die nationalen Kräfte an die Macht spülten.
Mit den neuen Staatsgrenzen, die Deutschland zunächst im Alleingang – und im Falle Kroatiens wider die europäischen Völkerrechtskriterien – anerkannte, verän-derte sich in empfindlicher Weise auch der Status der Minderheiten. Wie sich die über eineinhalb Millionen Kosovo-Albaner einem nun serbisch dominierten Staat gegenüber sahen und 1991 die Unabhängigkeit ausriefen, waren auch die knapp 600.000 serbischen Bürger Kroatiens mit einem Staat konfrontiert, der sie vom zweiten Staatsvolk zur Minderheit herabstufte. Die ersten Auseinandersetzungen bahn-ten sich unmittelbar nach den Wahlen in den mehrheitlich serbisch besiedelten Gebieten Kroatiens an, um sich ein Jahr später zu Kriegshandlungen auszudehnen. Noch 1991 schwappte der serbisch-kroatische Konflikt auf Bosnien-Herzegowina über, dessen Territorium Gegenstand wiederholter Verhandlungen zwischen Milošević und Tuđman gewesen war. Für Serbien folgten Mobilisierung, Embargo, Mas-senarbeitslosigkeit (1996 lag die Quote bei 50 %), Inflation (1996 bei 100 %), Kosovo-Krieg (1999) und schließlich der Sturz Milošević’s in der friedlichen Revolution vom Oktober 2000.

Doch war die Ära Milošević nicht nur durch Aggression, Kriegsverbrechen, Vertreibungen, UN-Sanktionen, Bombardierungen von serbischen Stellungen und Städten geprägt, die Bürger Serbiens reagierten auch mit Protesten und Massenkundgebungen, die bereits im März 1991 das Regime ernsthaft bedrohten. Und des Weite-ren reagierten sie mit Flucht, innerer Emigration und Resignation. Allein nach dem Beginn der Kämpfe in Kroatien sollen sich 200.000 Serben durch Flucht ins Ausland dem Einberufungsbefehl entzogen haben und 50.000 von der Front desertiert sein.

Diese Zeit der militärischen und paramilitärischen Gewalt, der Vertreibung, der Flucht, der wirtschaftlichen Misere, des Protests und der allgemeinen Perspektivlo-sigkeit wird in der Dichtung meist nur sehr verschlüsselt, und wenn direkt, dann von einem dezidiert subjektiven Standpunkt dargestellt: als Klage über das Schicksal eines Obstgartens (Zlata Kocić: „Kerbholz“), als Vergegenwärtigung eines drei Jahre alten „Kollateralschadens“ (Dragan Jovanović Danilov: „Gott, es tagt der Kriegsrat im Leib eines Keilers“), als Reflexionen über die moralische Natur des Menschen und die Trugbilder der Wirklichkeit (Jovan Zivlak: „Leine“), als Anklage des aus-schließenden Patriotismus (Duško Novaković: „Das Ding an sich“ und „Musen und Musen“), als Anschreiben gegen patriarchalische Traditionen (Radmila Lazić: „Psalm“ und „Weiblicher Brief“), als Befragung der eigenen Schuld (Đorđo Sladoje: „Vaters Hände“, Novica Tadić: „Der siebte Bruder“), als Selbstverzweiflung (Milutin Petrović: „1990, 21. Mai, 11 59' 59", Belgrader Metro“), als radikale Desorientierung (Snežana Minić: „Niemandsland“) oder als groteske Heimatlosigkeit (Milan Milišić: „Besonderer Fall“).

In Ivan Negrišorac’s „Umsiedlung“ (1995), das auf der Vorlage von Miloš Crnjanskis gleichnamigen Romanwerk geschrieben ist, zieht das lyrische Ich nicht in eine ersehnte Heimat, die vor Übergriffen übermächtiger Nachbarn schützen soll, wie bei Crnjanski, sondern schlicht ins Bad, um sich von allem Unrat zu befreien. In Milosav Tešić’s „Belgrad: Bahnhof“ wird die muffige Bahnhofsatmosphäre eines verkommenen Landes durch die Sonettform konterkariert und zugleich unterstrichen.

Und führen wir noch ein Beispiel an, das den Unterschied zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Geschichte besonders anschaulich macht: In Duško Novaković’s „Insert aus der gemeinsame Parole ‘Wir wollen den Wechsel’“ sorgt sich eine Oma am Fenster um ihre Schützlinge: auf der einen Seite ist ihr Sohn, der gegen das Regime demonstriert, auf der anderen ihr Schwiegersohn, der im Panzerwagen auf den Einsatzbefehl wartet. Die größte Sorge aber gilt zwei Enkeln, die im Park spielen: „zwischen ihren Vätern und Vätern“.

 

Text- und Übersetzungsprobe: Branko Čučak

Šok

Ako ste muško pretvorite se u
žensko
Ako ste žensko pretvorite se u
muško
Popenjite se na prvi, drugi, treći,
četvrti, ili bilo koji sprat neke
kuće
Namrštite se u licu
tako da ono pokazuje
gnjev, mržnju, podlost i kriminal, istovremeno
Energično pritisnete zvonce kraj
vrata
Kada se na vratima pojavi
nečija majka, nečiji otac, nečija
sestra, rođak ili bilo ko,
energično mu skrešite u lice iz
sveg glasa,
gledajući nepoznatom ravno u oči:
JEBENA STRANKO!
Naglo se okrenite (bez daljih riječi)
Spustite se niz stepenice, dođite sebi,
Stresite ramenima
Ako ste toga časa još uvijek bili
muško
pretvorite se u žensko
Ako ste bili žensko
pretvorite se u mušk

 

Schock

Wenn ihr ein Mann seid, verwandelt euch in
eine Frau
Wenn ihr eine Frau seid, verwandelt euch in
einen Mann
Steigt in den ersten, zweiten, dritten,
vierten oder irgendeinen Stock
eines Hauses
Verfinstert euer Gesicht,
dass auf ihm Zorn, Hass,
Niedertracht und Verbrechen zu lesen sind, und drückt
im gleichen Moment energisch
die Türklingel
Wenn an der Tür von irgendwem
die Mutter, der Vater, die Schwester, ein
Verwandter oder wer auch immer erscheint,
schleudert dem Unbekannten energisch
aus voller Kehle ins Gesicht,
und schaut ihm dabei direkt in die Augen:
DU SCHEISSPARTEI!
Wendet euch jäh ab (ohne weitere Worte),
geht die Treppen runter, kommt zu euch,
schüttelt euch
Wenn ihr zu dieser Stunde noch immer
Mann gewesen seid,
verwandelt euch in eine Frau
Wenn ihr Frau gewesen seid,
verwandelt euch in einen Mann


Divlja Nataša

Pustila me s lanca divlja Nataša
Ona voli svog psa
Zato sam lajao cijelu noć

Gađam je bodežima
dok me posmatra ledenim pogledom

I nikad je ne pogodim

Sve je tako normalno
Sve je tako jednostavno
Osim malog prisustva delirijuma tremensa
i hladne vode na prevreloj glavi

Zna to divlja Nataša

Ne čini gluposti sa konjima
i mokrim pijevcima
Ne srči surutku i ne žvači mekinje

Napasi se trave na pašnjacima
i nahrani svu menažeriju
kroz svojih pet sisa

Prikopčaj me molim te po povratku
i prekriži moje ime u almanahu
sa datumom od desetog februara



Wilde Natascha

Die wilde Natascha ließ mich von der Kette
Sie liebt ihren Hund
Deshalb bellte ich die ganze Nacht

Ich werfe Dolche nach ihr
während sie mich mit eisigem Blick betrachtet

Und niemals treffe ich sie

Alles ist so normal
Alles ist so einfach
Außer die kurze Dauer des Deliriums tremens
und des kalten Wassers am siedend heißen Kopf

Die wilde Natascha weiß davon

Treib keinen Unfug mit den Pferden
und den nassen Hähnen
Schlürf keine Molke und kau kein Haferschrot

Weide dich satt am Wiesengras
und versorg mit deinen fünf Zitzen
die ganze Menagerie

Zurr mich bitte nach der Rückkehr fest
und streich meinen Namen aus dem Almanach
mit dem Datum vom zehnten Februar


Ručni šipak Gavrila Principa

Svojim ste ušima čuli:
narod strašno voli da psuje.
Baš sad je nekom otišla
krvava majka.
Baš je neko
u uho, u nos, u grlo, u usta.
Narod strašno voli da psuje,
samo pipnite žilu kucavicu
samo stavite ruku na srce.

Rođak moj, recimo, Gavrilo
čim je čuo riječi Ričarda drugog:
„u ime Boga, posjedajmo na zemlju
i pričajmo tužne priče o smrti kraljeva“
toliko se naljutio na Ferdinanda
da ga je ispsovao u Sarajevu
na mrtvo ime.

Volim takve reakcije:
kad se ljuti on psuje, udara šakom o sto
ili pljuje.
Mogu se zakleti da mu još
ručni šipak viri iz zemlje
i da mu se vidi
crno ispod nokta.


Der Mittelfinger des Gavrilo Princip

Ihr habt es mit eigenen Ohren gehört:
das Volk liebt es ungemein zu schimpfen.
Gerade eben ist jemandem die Mutter
blutig weggegangen.
Eben hat jemand
ins Ohr, in die Nase, in den Hals, in den Mund.
Das Volk liebt es ungemein zu schimpfen,
rührt nur die Schlagader an
legt nur die Hand aufs Herz.

Mein Verwandter Gavrilo zum Beispiel
kaum hatte er die Worte Richards des Zweiten gehört:
„im Namen Gottes, lasst uns auf die Erde niedersetzen
und traurige Geschichten vom Tod der Könige erzählen“,
da erzürnte er sich derart über Ferdinand,
dass er ihn in Sarajevo
zu Tode schalt.

Ich mag solche Reaktionen:
wenn er sich ärgert, schimpft er, haut mit der Faust auf den Tisch
oder spuckt.
Ich kann es beschwören, dass ihm noch immer
der Mittelfinger aus der Erde ragt
und man unter dem Fingernagel
das Schwarze sieht.

aus: Hundert Gramm Seele. Serbische Poesie aus einem halben Jahrhundert.
Ausgewählt und übertragen von Robert Hodel, LLV 2011

 

 

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