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Axel Helbig

Idyllen mit Wundrändern: Jakob Haringer (1898 – 1948)

Jakob Haringer ist Sachse durch Zufall. Am 16. März 1898 kommt der Sohn einer Zigarrenverkäuferin und eines ambulanten Buchhändlers auf einer Reise seiner Eltern in einem Eisenbahnzug kurz vor Dresden zur Welt. Diese Geburt mag ein Omen gewesen sein. Haringer bleibt zeitlebens ein Reisender. Vagant, treibt er durch Deutschland, die Schweiz, Österreich, Tschechien und das Elsaß.
In Gedichten ruft und flucht er – Lästerer und Lastträger Got­tes – seinen Privatgott an, bettelnd um Glück – sein “eigenes Versuchskarnickel” und “ekelhaftestes Laboratorium”. “Kann nicht schwimmen und schlafe unterm Wasser”, heißt es im Gedicht “Ernüchterung”:

“... Zerreiße die tausend Pulsschläge wie ein Kind sein
Bilderbuch,
Überquere die Ozeane mit einem Besenstiel –
Ich meines Herzens gräßlichster Lust- und Raubmörder,
Alle Gaskessel des Hirns zünd ich an –
alle Tunnels verschütt ich, Alles töt ich;
Und immer noch hängt an der Decke explodiertes Hirn.”

Haringer fand für seine schamlos deftigen Gedichte oft keine Verleger. Mittels Bettelbriefen an die Kollegen, deren Anschriften er “Kürschners Deutschem Literaturkalender” entnahm, verschaffte er sich die nötigen Mittel, um die Gedichte im Eigenverlag zu publizieren. Als Verlagsbezeichnung wählte er: Verlag Christof Brundel, Amsterdam (später Paris). Unter diesem Signet erschien auch sein bester Gedichtband “Das Schnarchen Gottes”.
Haringer gilt der deutschen Literaturkritik um 1930 als “Stern der Verheißung”, als “einer der genialsten Dichter des neuen Deutschland”. 1938 setzen die Nazis seine Werke auf die “Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums”. Heute darf er als weitestgehend unbekannt gelten.
Für Alfred Döblin ist Haringer der “lyrische Poet, ins Heute verschlagen, ständig hintapsender Träumer; der wirkliche, komplette, kranke, verängstigte, psychopatische Romantiker.” Döblin ist es, der die Dichtungen Haringers dem renommierten Kiepenheuer-Verlag anträgt, der als Nervenarzt für seinen “Patienten Harin­ger” Gutachten fertigt, die diesen vor Staatsanwaltschaft und Polizei schützen helfen, und der immer wieder Adressat rührender Schnorrbriefe Haringers ist.
Haringer steht jenseits aller Schulen und Moden und ist ganz er selbst, dem Expressionismus kann er allenfalls als Randgänger zugerechnet werden. Neben einfachen, oft religiös inspirierten Liedern stehen grelle, obszöne Aufschreie anarchischer Angriffslust:

“Wenn du nichts zu fressen hast, interessiert dich nichts.
Gottes Denksofa fraßen unsre Herzwanzen.
Mein Körper, du faules Vieh! geh weg!”

Ahnherr Haringers ist Francois Villon, den er auch, neben Rimbaud und einigen chinesischen Gedichten, ins Haringersche Deutsch überträgt. Gleich Villon bettelt, betet und flucht er, sagt “betend seine Zeilen auf, bis ihn aus allen Erfahrungen die Vergeblichkeit anstiert und er in Hohn ausbricht” (Peter Härtling). Gleich Villon ist ihm alles Geordnete, Maßvolle ein Dorn im Auge. Gleich Villon lernt er die Gefängnisse von innen kennen. (Später Arbeitslager, Internierungslager und Nervenheilanstalten.) Gleich Villon hat er immer dann Glück und Gönner auf seiner Seite, wenn die Lage schier hoffnungslos scheint.
Von der Gestapo gesucht und als “übler Vertreter des jüdischen Kulturbolschewismus” gebrandmarkt, flieht er über Tschechien und Frankreich in die Schweiz, wird dort interniert, kommt ins Zuchthaus, flieht und wird wieder gefaßt. Der “Kreuzritter-Dienst”, eine Organisation, die sich für Emigranten einsetzt, erreicht, daß der schwer herzkranke Dichter als Privatinternierter in Bern untergebracht wird. Hilfe erfährt er von dem Züricher Professor Rudolf Bernoulli, Fürsprache von Albert Einstein und Heinrich Mann. Ein Brief Thomas Manns bewirkt jedoch, daß Haringer die erbetene finanzielle Unterstützung durch die “American Guild For German Cultural Freedom” nicht erhält.
Am 3. April 1948 starb Jakob Haringer in Zürich an Herzversagen. In der Schreibmaschine fand man seine letzten Zeilen: “Und die weiße Landschaft lag unberührt vor mir – wie der Weg ins Paradies.”

(aus: Annäherung an das Unsagbare. 33 Verführungen zur Literatur der Moderne, © ERATA 2006)

 

 


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