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Patrik Beck zu "Vendelzeit" von Katrin Heinau

Konstruktion einer Legende

Katrin Heinau hatte ihren ersten Roman, die an ein Palimpsest erinnernde »Evakuierung«, in Dresden angesiedelt. In dieser zukünftigen Legende überschrieb sie die vergangene Stadt mit der gegenwärtigen und vor allem mit der zukünftigen zu einer Jetztrealität der Autorin. Sie, selbst auftretend, fasste dort eine kaum überschaubare Zahl von Personen, fiktionale wie auch im Klarnamen genannte tatsächlich existierende, in eine streng-verspielte, außer zum Kennzeichnen der direkten Rede auf Kommata verzichtenden Sprache. Die einsam ins Scheinwerferlicht gestellten Figuren hatten keine Schatten, keine Bühne außerhalb des verschieden geweiteten Lichtkreises, die Welt des Romans, war, ob imaginiert oder wirklich, ob zukünftig oder vergangen, kühl und ohne Geheimnis, war eine Welt, die ohne jegliche Spekulation auskam.

»Vendelzeit«, ihr erstes Hörspiel, hat Katrin Heinau in Berlin verortet. Wieder verschmilzt sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, doch diesmal ist die Zukunft die aus der Vergangenheit betrachtete Gegenwart. Die Vergangenheit wiederum wird von der Gegenwart bestimmt: »Es war nie so, wie es war, es war immer so, wie es jetzt ist.«. Nachdem Albrecht der Bär mit seinem Sieg die Voraussetzung zur Gründung Berlins und Brandenburg-Preußens geschaffen hatte, begegnet Katrin dem unterlegenen Jaxa. Dieser aus der Geschichte verschwundene spreewanische Fürst belagert, sein Erbe anzutreten, die Brandenburg des gerade verstorbenen Onkels Heinrich-Pribislaw, der sie heimlich an den Askanier Albrecht vermacht hatte. Jaxa erfährt, den toten Onkel verhörend: »Eine Stadt wurde gegründet. / Wann? / In ein paar Jahren.« Von wem, sagt der Onkel nicht, aber Jaxa hofft auf seine noch ungezeugten Stammhalter. Er beginnt eine passende Mutter zu suchen, bindet sich an einen Baum, verfolgt die Weichseleiszeit und die Entstehung des Berliner Urstromtals und wird vom Ritter Ystralowe losgebunden. Ystralowe erzählt, dass Jaxa die Burg von Albrecht zurückerobert hatte, lehnt es aber ab, gemeinsam mit Jaxa die Hauptstadt zu gründen. Jaxa trifft auf einer Parkbank Katrin, sie haben eine Affäre, Katrin wird schwanger, Jaxa errichtet eine Burg am Spreeufer und wird zum heimlichen Herrscher von Köpenick.

»Vendelzeit« ist die Erkundung einer möglichen Geschichte, eine moderne Legende. Man weiß wenig über den historischen Jaxa, nicht einmal, wie viele Personen sich hinter diesem Namen verbergen. Katrin Heinau hat die wenigen überlieferten Fakten kunstvoll in ihr Hörspiel eingewoben, ihre Realität dabei hinterfragend und in der Schwebe lassend. Die Möglichkeiten eines Hörspiels werden souverän genutzt, mehr noch als Orte zeigen die Geräusche die Zeiten an. Mehrere Zeichnungen des Berliner Künstlers Jan Brokof im Booklet runden die gelungene Produktion ab. Ob das Bild der Vergangenheit das tatsächlich Geschehene abbildet, oder ob es lediglich eine Konstruktion der Gegenwart ist, ist in der Geschichtswissenschaft umstritten. Inwieweit unsere Lebenswelt wirklich ist oder das Produkt unserer Wahrnehmung, ist eine der großen philosophischen Fragen. Wie schon in der »Evakuierung« ist eine etwas geringere Aufmerksamkeit der Ich-Erzählerin für die realen Personen der Gegenwart als für die fiktiven Figuren zu verzeichnen. Es scheint, dass Katrin Heinau die Frage so beantwortet, dass ein imaginiertes Geschehen wichtiger ist als ein tatsächliches. »Vendelzeit« ist als Legende der Gründung Brandenburgs nicht weniger gültig als die, die in unseren Geschichtsbüchern zu finden ist.

in: Ostragehege 51, Herbst 2008

 


Textprobe
aus: Vier Männer, Evakuierung

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Interview mit Katrin Heinau