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Peter Gehrisch


Hans-Theodor wird durch brennende Straßen getragen, wo er des aberwitzigsten Karnevals ansichtig wird, den man sich vorstellen kann. Dem Inferno entkommt er auf einem Narrenschiff.

Eines Nachts – schwere Traumphantasien beherrschten das Kind – reißt es das Schicksal in den Rachen einer unbeschreiblichen Feuersbrunst. Im Nachtkleid, so blau wie der Karnevalshimmel, flüchtig von einer Decke umhüllt, wird es Teil heilloser Hast. In der Obhut von Vater- und Muttertier stürzt es, während die Mauern von Bombenschlägen erbeben, Hals über Kopf von oben über alle Etagen hinunter ins Kellerloch. Der Putz bricht vom Deckengewölbe. Die Glühbirnen flackern, verlöschen. Das, was alle Tage Sicherheit bot, der Raum, das festgefügte Gemäuer, gerät alarmierend ins Wanken. Draußen, über dem Fluchtort, tobt eine unbegreifliche Macht auf Dächern und in den Straßen, brüllt jähes Verderben, rüttelt, rumort, rüttelt, rumort, erschüttert den Schutzort, das Fundament – und jenes noch unter dem Fundament. Ein Crescendo, gewaltig und so elementar, daß die Menschen zu einem klumpigen Etwas verschmelzen, in dem erstickende Herztöne ticken. Klammes Warten, gefolgt von einem Sich-Verkriechen in innerste tiefste Bereiche des Seins, Lähmung, atemlose Ohnmacht wie bei einem Feldtier, über dem der Greifvogel kreist.

Endlich, ehe das Fragen von einem zum anderen fliegt, zieht bedrückende Stille, und in die Stille eine schwache Erlösung in das Verharre-Loch. Die Sirene schickt einen langgezogenen Dehnlaut: Bis auf weiteres ist ein Angriff nicht zu erwarten. Banges Fragen erhebt sich: Ist die Wohnung noch heil? Steht denn das Haus noch über dem Fluchtort? Die übrig gebliebene Welt, wie sieht sie nun aus? – Das Familienhaupt an der Spitze der kleinen Equipe erklimmt die Stufen zum Obergeschoß, durch die von Geisterstille erfüllten Etagen, entlang an tatsächlich noch existierenden Wänden, Staffage, keiner Trugwelt entsprungen, vorgegaukelt von einem Gott, der seine Lust daran hatte, die Toten zu äffen. Der Führer des Ausflugs nach oben, von Fragen genarrt, erklimmt die heil gebliebenen Stufen: Ist das, was ich sehe, kein Traum geendigter Wirklichkeit? Existiert es oder ist an seine Stelle ein Truglicht getreten, der Spott eines Gottes, demjenigen als Gruß zugedacht, der die Eingangspforte ins Land der Toten passiert? Vielleicht spielte dieser Gott mit ihm wie mit Puppen. Vielleicht spielte er überhaupt immer nur Karneval, und dieses Spiel hier war eine Klimax seines Prinzips, jenes carne vale, von dem man Fleisch, lebe wohl sagt. Waren die Menschenvögel nicht genügend mit unterhaltsamem Beiwerk versorgt, und träufelte er nicht fortgesetzt Adrenalin in die Adernstraßen, um ihre Reaktion zu studieren, ihren Krampf, ihr Erstarren? Sicher: Gegen Ende des höllischen Karnevals hatte sich die Absicht zu einer höheren Dosis zu finden, die das Herz galoppieren ließ bis dicht heran an die Grenze zum Großen Tod. Er war der Herr über Fleisch, Leib und Leben, um es ihnen, die lebten – vale! –, wieder zu nehmen. Unleugbar: Die Angst war eine achtbare Schöpfertat.

Eine beflügelnde Neugier treibt den Mosch hinauf, zur Wohnungstür, oben, im letzten Stockwerksgeschoß, gleich unter dem Dach. An seinem Körper das Kind, mit dem Blick durch den Vorsaal hindurch auf den gegen­­überliegenden Schrank, das Gestell mit Papieren und Nippgegenständen. Das Ticken der Wanduhr über dem Sofa scheint überdeutlich im Zimmer zu liegen. Die Möbel, noch unberührt vom Umsichgreifen der Flammen, die vertraute Alltagskulisse, Regale, Gerätschaft, Glas, Porzellan, alles steht herausfordernd da: Ergreift uns, tragt uns hinfort! – Hinter dem Loch, das der Phosphor in den Zimmerboden gefressen hat, entdeckt das Kind den zappelnden Hampelmann, den Kasper, den Teddybären, einen Riesen mit schielenden Augen. Es sieht die Figuren nach oben steigen und bedächtig, sacht, zeitlupensanft, mit dem Feuer Ringelreihn tanzen, das ihre Gesichter ergreift und die Kleiderschöße mit lustigen Leuchtzipfeln schmückt. Daunenleicht treiben die Tänzer gegen die Decke, die, von den Flammenspitzen beleckt, ein bräunliches Blasengebirge entwickelt. Das Kind streckt den Zeigefinger nach vorn in der törichten Absicht, seine Gefährten an sich zu bringen. Aber Feuerrasen und Qualm nehmen ihm wie seinem Lasttier den Atem. Es hustet, bäumt sich, streckt die Hände zum Körper des Muttertieres, das, verzweifelt und starr wie ein Holz, vor dem Luft und Leben verzehrenden Hindernis steht. Die kleine Gesellschaft taumelt zurück, steigt die Stufen hinab, betäubt und ohne die geringste Habseligkeit.

Mit schwankenden Schritten gelangt sie durch den Durchlaß des Hauses vor die Kulisse einer unbeschreiblichen Fremdartigkeit, taghellem Gemäuer unter dem diffusen Glutbaldachin. Für das Bewußtsein des Kindes sind die Dinge geisterhaft nah, als habe sein Leben hier schon den Gipfel gefunden, im Dämmern, im Keim übermenschlicher Wahrnehmung. Glosten dringt ein auf das Kind, beraubt es des Atems, versetzt es in eine Ekstase, das Übermaß eines Nicht-zu-erfassen. Zwischen Brust und Arme geklemmt, hängt es am Leib von Moder Marlene. Mit aufgesperrten Augen starrt es auf das lodernde Dachgebälk, glutrotes, schwelendes Sparrengeäst, und empfindet den Augenblick wie ein einziges, ungeteiltes, donnerndes Wort, das es am Körper seiner Beschützer durchquert, nahezu nackt.

Nach einer Zeit aus ratlosem Hin und Zurück setzt der zermürbende Ton wieder ein, das Auf und Ab der Sirene, das die Menschen in Fieber versetzt. Flüchtig in Mäntel und Decken gehüllt, hasten sie über Straßen und Plätze, um sich in die Kellergründe, bis zum Bersten gefüllte Gewölbe, zu drängen. Den drei Personen gelingt es, sich einen Platz zu ergattern. Wieder sitzen die Vögel, ihre Gesichter auf die imaginäre Leere gerichtet, auf Bänken und Kisten, knieen mit eingezogenen Köpfen über dem gepflasterten Grund, lehnen an Wänden, stehen und warten. Für das kleine Geschöpf ist die Flucht zur Gewöhnung geworden. Es hockt, zusammengeduckt, auf dem Schoß der Mutter und ergibt sich dämmernd verworrenen Bildern. – Da rollt die tödliche Last von neuem über die Häuser, donnert zur Erde, daß sie bis in alle Tiefen erzittert. Starker Rauch dringt in das Kellergelaß, treibt die beengte Gesellschaft gegen Türen und Wände. Der Atem erreicht eine Kargheit, daß er seinen Kümmerlingsbruder, den Husten, ausschickt, der die Beschwernis mit letzten Kräften aus der Lunge hinausbellt. So stolpert man mit trockenem Staub auf der Zunge im Dunkeln umher, tastet sich vorwärts, ein nasses Tuch vor dem Mund. Endlich ermöglicht eine durchbrochene Mauer den Ausgang ins Freie. Die Straße ist in taghelles Glutlicht getaucht. Mit aufgerissenen Augen starrt das Kind auf die phosphoreszierende Szenerie. Auf ungeheure Weise scheint seine Seele von der gewaltigen Predigt des Feuers geweckt.

In der Freßsucht der Flammen, die in den Fenstern der Häuser tobt, demonstriert die so ungewohnt fremd erscheinende Welt ihren Reichtum an überraschender Aktivität, streckt den fliehenden Menschen riesige rote Zungen entgegen, überschüttet sie mit Funkenkonfetti und rußigen Feuerfladen. Das Kind, in seiner, alle Sinne erobernden Euphorie, hängt einige Zeit am Körper Moder Marlenes. Seine Beschützer, von der stickigen Luft am Vorwärtskommen gehindert, treibt es über jedes Gefühl einer Lähmung davon. Sie laufen und laufen mit wimpernverzehrten, weit aufgerissenen Augen, das bis zur Ermüdung staunende Kind wechselseitig im Arm. Nur fort! so treibt sie das Sengen. Weiter und weiter auf einen stilleren Ort zu, den Park, der die Hoffnung auf Sicherheit nährt vor der Last jener die Brände erregenden Bombenkörper, obwohl dort die Dächer nur aus winterdürren Ästen errichtet sind.

Ein Funkenteppich rauscht beeindruckend dicht durch die Luft. Stichflammen dringen aus einer Remise. Auch die Bäume haben Feuer gefangen, stehen, atemberaubende Kandelaber, über dem Straßengrund, ächzen und schmettern der fliehenden Narrengesellschaft ihren üppigen Ballast, schwarze, schmorende Äste, vor die Füße. Von überallher ertönen die Schreie irrender Obdachloser. Das Gespenst eines deckenumhüllten Mannes huscht durch die Glut. Ein anderer, glühende Fetzen am Körper, stürmt aus einem lichterloh brennenden Kuppelbau. Seine Hände krallen sich um einen Feuerwehrschlauch. Unter Krämpfen stürzt er zu Boden. Über das krebsrot verbrühte Gesicht, entstellt von unsäglich zusammengebissenen Zähnen, läuft schmerzliches Zucken. Tierischer Schrei entfährt seinem Mund, und schon liegt er da, stumm, ein grotesker, von kochendem Wasser gebackener Alraune. Faunvolk hastet vorbei, Menschen mit vom Brand erzeugten Hörnern am Kopf, glutversengten Gesichtern, zerrissenen, staub­überzogenen Kleidern. Eine Alte trägt einen Vogelbauer, in dem sich erregte Flügel bewegen. Menschen, verwirrt, zu Tode verängstigt, in den Händen nutzlos erscheinende Gegenstände. Eine Frau preßt ein Plättbrett an ihre Brust, als sei es ihr Kind. Eine andere führt einen Nachttopf spazieren. Ein Ehepaar zieht einen brennenden Leiterwagen hinter sich her, der Sekunden später in hellem Flammenspiel steht. Zwei aus einem Hause stürzende Fackeln erweisen sich als kreischende Frauen, an deren Kleidern das Feuer sitzt. Ein Uniformierter, von einem brennenden Ast zu Boden gerissen, liegt auf dem Straßenpflaster und gibt ein bestialisches Gurgeln von sich, rauh, rissig, als bräche ein mürbes Stück Eisen. Um eine reglos verharrende Frau tanzt ein Kind mit gottserbärmlichem Rufen: Ma-ma, Ma-ma. An der Vorderfront eines Hauses tauchen Gäuche ihre qualmenden Narrenkostüme in einen Wasserbehälter und schlingen sie sich erneut um den Leib. Mit versengten Schädeln fliehen sie weiter, dem Parkgehölz entgegen.

Danteske Gestalten bevölkern die Hölle, von Schmerz und Grauen Verzückte mit schrillen Stimmen, vom Verlust ihrer Nächsten gepeinigt, Hindernisläufer, Sünder, verdammt, riesige Steine beiseite zu rollen, rußüberzogene Schreckgespenster aus der Mitte des Grauens, dorther, wo der Feuersturm alles Lebendige restlos verzehrt.

Blasen treibender, flammenzüngelnder Straßenbelag hindert die Menschen am Vorwärtskommen. Gepeinigte Leiber stecken im heißen Asphaltbrei. Andere wandeln mit bloßen, kohldunklen Füßen über die noch gangbaren Wege. Der Führer der kleinen Equipe schickt die Augen nach einem hilfreichen Gegenstand aus, irrt an der Hauswand entlang, verschwindet durch ein eisernes Tor und schleppt ein langes, klobiges Brett über den brodelnden Grund als Brücke, um mit den Seinen eine graziöse Zirkusnummer zu absolvieren. Hastig führt er sie über die Lava hinweg, während hinter ihnen eine Mauer zu Boden bricht, Geröll und rußdunkle Qualmflut erzeugend, die sich schwer über die Straße schiebt. Hinter dem rauchenden Trümmerberg sind Köpfe und zusammengesunkene Rümpfe zu sehen, Schuhe, festgehalten vom zähen Asphalt. Das Hasten läßt keine Zeit für eine Bestimmung, wem die Körperteile gehören, herabgestürzten Skulpturen oder stumm gewordenem Menschenfleisch.

Die Kraft des Kindes, zu staunen, weicht mehr und mehr einem Traum, erfüllt von grellen Illuminaten. Hin und wider nur dringt die Wildheit der Bilder zwischen seine halb geöffneten Augenschlitze. Das Prasseln und Stürzen brennender Balkengerippe, der aus Luken und Fenstern dringende Rauch, die unerträgliche Augenbeize, das Hasten der Menschen; alles geschieht irgendwo, außerhalb der familiären Dreiheiligkeit, die sich als Schutzschild über sein Dasein erhebt, in das die Realität nicht eindringen kann.

Von neuen blumigen Feuerfladen geweckt, wird das kleine Geschöpf apathisch hockender Menschen mit blutigem Kopfschmuck gewahr. Immer mehr Leiber liegen auf dem Straßenbelag mit offenen, gegen den Himmel glotzenden Augen. Andere wieder, ebenso still wie die Gaffer, halten ihr Ohr an die Erde, um, tief unten, in die irdische Stille hineinzuhorchen. Die große Stunde der stummen und schlafenden Körper scheint angebrochen. Jeder, der unterwegs ist, befindet sich in Gefahr, von diesem Schweigen ergriffen zu werden. Die Wahrheit ist stark und unerträglich. Moder Marlene drückt ihren Arm auf die Augen des Kindes, wo das Licht sich in stechende Flecken verwandelt.

Und weiter führt der Fluchtweg über gefällte Platanen, Schutt und Ziegelgeröll, vorüber an herabgestürzten Gebäudeteilen, als das heilig unheilige Bild einer in zwei Hälften hindurch geschnittenen Frau zu erkennen ist. Ihr Oberkörper mit dem noch immer zu Rede fähigen Kopf liegt über der leblosen unteren Hälfte. In ihren Armen hält sie zwei Kinder, links einen Säugling, rechts ein wenige Jahre zählendes Mädchen. Helft, helft meinen Kindern! stöhnt sie mit schwächer werdendem Atem. Der Lotse der kleinen Gesellschaft, bislang um gangbare Wege für die Seinen bemüht, übermannt von der vor Augen liegenden Not, will schnellen Fußes zu Hilfe eilen, da ereignet sich eine gewaltige Detonation. Grelles Gleißen in Brand geratener Flüssigkeiten von einem Fahrzeugdepot, begleitet von dichtestem Qualm, quillt an den Wänden entlang, rast über das Pflaster des Innenhofs, erreicht die Bodenfläche der Straße, prallt an die Hauswand, vor der sich die am Gehen und Leben gehinderte Mutter mit ihren Kindern befindet, als das Gemäuer mit lautem Getöse zusammenbricht und die hilflosen Menschen begräbt. Als reichte ihr die Zahl der Opfer noch nicht, greift die Feuerwalze weiter nach Beinen und Körpern, schmückt die Kleidung des Narrenvolkes mit Flammenzipfeln und -schößen, erstickt den Atem der flüchtigen Vögel, verschlingt ihre ins Groteske sich hebenden Körper. Der Mosch, auf halbem Wege zur anderen Straßenseite, ist hinter den Feuerwolken verschwunden. Seine Begleiterin steht, den Kopf ihres Schützlings fest gegen den Mantel gepreßt, zur Säule erstarrt, faßt sich dann bald, läuft, vom Unmaß der Hitze getrieben, in einen verschont gebliebenen Seitenschacht, verharrt wiederum, wirft den Kopf in die Richtung, aus der der grelle Feuerschein kommt, und schickt, vom Absurden der Lage genarrt, ihre verzweifelten Schreie in die unpassierbar gewordene Gegend: Michel, Michel, Mi­chel! ... Ihr freier Arm streicht steil in der Dunstluft umher. – Haben Sie ihn nicht gesehen? fragt sie die Nächsten, die vorüberhasten ohne Aufmerksamkeit für den Schmerz dieser Frau. Das Kind an der Brust, biegt sie in ein von den Bränden erfaßtes Wohnviertel ein, Villen und schlichtere Häuser, von Einschlagskratern und Trümmerstücken entstellt. Hier hat die Schwester ihr Domizil. Entschlossen kämpft sich Moder Marlene durch den beizenden Qualm, erspäht das gesuchte, inzwischen in sich zusammengebrochene Haus, über dem der dämonischste Flammenkegel bizarre Formen beschreibt. Aus einer Versenkung ertönen angstgepeinigte Schreie. Hinter vergitterten Fenstern blicken ihr grausige Fratzen entgegen, Gesichter, entstellt von Hitze, beizendem Rauch und der sinnlosen Hoffnung, den Keller verlassen zu können: Teile des Deckengewölbes sind hinunter gestürzt und haben sich, ein unüberwindbares Hindernis, am Ausgang aus dem Gefängnis aufgetürmt.

Während die Frau ihre Augen umherschickt, stürzen weitere Ziegel zu Boden, eine entschiedene Warnung, schleunigst das Weite zu suchen.

Mit dem Kind auf dem Arm, flieht sie, sucht einen Schutz vor den stürzenden Mauerbrocken, erspäht eine Treppe, die sie zusammen mit anderen Flüchtlingen hinunter stürmt, um einen unterirdischen Schacht zu erreichen, vollgepfropft mit Männern, Frauen und Kindern. Wimmern liegt über der zusammengeduckt hockenden Schar, hin und wider durchschnitten von einem gellenden Aufschrei.

Moder Marlene läßt sich auf einer der Steinstufen nieder, zieht das Kind dicht an sich heran und stiert auf die Reihe ihrer Schicksalsgenossen. Jungen und Mädchen mit riesigen, gottfernen Augen stehen am Eingang, einige übergeben sich. Jetzt passiert ein Mann das Portal, von Strapazen gezeichnet und über und über von Staub. Moder Marlene springt auf, läuft und sinkt vor sinnloser Freude zu Boden: Es ist der Mosch, ihr Ehegefährte, der vor noch einer halben Stunde hinter der Feuerwolke verschwunden war. In seinen Armen ein lebloser Körper. Stoisch steigt er über die kauernden Menschen und setzt die Kinderleiche vor dem zu dürftiger Hilfe beorderten Arzt ab.

Vor dem sich nähernden Ufer des Parks liegt glutrot ein schwelendes Straßenbahnwrack. Dahinter stehen die Bäume des Großen Gartens versammelt, andere liegen mit ihrem Riesengeäst ausgebreitet über dem Weg. Dazwischen Gewimmel von Obdachlosen mit Säcken, Koffern, diversem Gerät. Menschen, oft auch mit notdürftig zusammengebundenen, in nasses, üppiges Rot getränkten Tüchern und Binden, irren ratlos umher. In der Mitte des Parks dominiert der majestätische Feuerbrand des großen Gebäudes mit schrillem phosphoreszierendem Farbenspiel. Ein Krater rückt in das Blickfeld, umgeben von aufgeworfener Erde, bloßem, zerrissenem Fleisch und blutbesudelten Lumpen.

Das Kind registriert das Geschehen, fragt nicht, weint nicht. An weniger verdrießlichen Orten von der Blende des Armes befreit, erblickt es zwischen Bäumen und im Gesträuch die verwirrten Augen von Tieren. Eine hundeähnliche Kreatur mit merkwürdig eingefallenen Flanken sieht es aus irritierten Augen an. Gott, ein Wolf! hört es die Stimme über sich flüstern. Eine Wegstrecke weiter hockt ein Panther zusammengeduckt auf dem Baum. Ein Löwe streicht mit niedergedrücktem Gesäß an einer Mauer entlang. Tiere aus dem zoologischen Garten hier, in der Nähe, Obdachlose wie die versammelten Menschen, die, mit Taschen, Körben, Koffern, Säcken, Matratzen, Betten, Nähmaschinen, vollgepfropften Leiter-, Kinder-, selbst Puppenwagen die Wege bevölkern, ratlos, wohin sie sich wenden sollen.

Im Rücken den riesigen Kegel aus Glut, gelangt das Trio auf die landwärts gerichtete Straße. Ein aus den Angeln gehobenes, mit einem Blechschild versehenes Tor bildet den Ausgang aus dem äußersten Höllenbezirk, hinter dem, auf einem Platz, umstanden von unbeschädigten Häusern, ein Meer sich drängenden Volkes wogt. Umbrandet von Stimmen, tuckern hier, zur Abfahrt bereit, einige Lastkraftwagen, bis zum Bersten gefüllt mit entkommenen Narren. Und immer noch begehren törichte Kletterer den Aufgang zur Ladefläche. Auch die kleine Gesellschaft drängt sich in das Gewühl, von wimmernden Stimmen durchdrungen, durchs Dickicht von Beinen und Leibern und gelangt vor den Bug eines Fahrzeugs, vor dem ein entschlossener Charon sein Fähramt versieht. Nur noch Leute mit Kindern! ruft er, reicht Moder Marlene die Hand, so daß sie mit ihren Begleitern auf das Narrenschiff hinaufklettern kann, zu einer Gesellschaft mit rußschwarzen Larven, brandgezeichneten Armen und Beinen, angetan mit den Fetzen einer durch Schutt, Qualm und Feuer gewaschenen Kleidung, flammengebackenen, drolligen Schnabelschuhen oder dunkel gefärbten Binden an Füßen und Waden, zusammengesunkene, von den Wirbeln des Totentanzes erschlaffte Gestalten.

(aus: Hans-Theodors Karneval, © ERATA 2006)

 

 


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