Marc Degens
aus: "Abweichen"
der büchermörder
Auf dem Weg in die Masuren lernt ein Tramper aus der DDR im Sommer 1978
in Warschau eine Rucksacktouristin kennen, die, wie sie sagt, aus Frankfurt
am Main kommt. Die zwei reden über die verschiedenen Staatssysteme, doch
das Gespräch ist unaufrichtig und wird von den eigenen Rollenerwartungen
beherrscht. Am Ende lädt sie ihn in ihr Zelt ein, Alkohol fließt, er vergewaltigt
sie. Am anderen Morgen erwacht der Tramper elend: »Felizitas schlief noch,
friedlich: zufrieden. Leise suchte ich meine Sachen zusammen. Angst dabei,
sie würde mich auf der Flucht erschießen. Geradezu selbstgefällig, wie sie
da lag, flüchtig mit einem Schlafsack bedeckt. Dummer Bunditourist! Tourist
wie fast alle! : Politiker werfen noch fliehend Bomben: ich brauchte Westgeld.
Ich brauchte es nicht, doch so einfach weggehen, das kann kein Sieger! Ihre
Umhängetasche. Ihre Briefmappe. Ihr ...: blauer Personalausweis! Blau wie
meiner, ausgestellt in Potsdam. Felizitas Kannegießer, Juri-Gagarin-Allee.«
Die vierzehnseitige Geschichte »Fliehend Bomben« von Detlef Opitz ist eine
der verstörendsten Erzählungen über die Befindlichkeiten zwischen Ost- und
Westdeutschen vor dem Mauerfall. Der Autor wurde 1956 in Steinheidel im
Erzgebirge geboren, lebte als Schriftsteller ohne Werk in der DDR, und verdiente
seinen Lebensunterhalt als Bibliothekstechniker, Buchhändler, Kellner, Puppenspieler,
Verkäufer und Briefträger. Die Geschichte »Fliehend Bomben« wurde bereits
Anfang der achtziger Jahre geschrieben, erschien aber erst 1990 mit weiteren
Erzählungen und Kurztexten in Detlef Opitz’ Prosadebüt »Idyll« im Mitteldeutschen
Verlag. Über die vergeblichen Mühen, seine Texte zuvor in der DDR erscheinen
zu lassen, gibt nicht nur das Nachwort, sondern auch der im Buch abgedruckte,
aberwitzige, knapp vierzigseitige Auszug aus dem mehrjährigen Briefkrieg
zwischen Opitz und verschiedenen Behörden der DDR Auskunft. Es ist ein unfaßbares
und unfreiwillig komisches Dokument aus einer Kunst und Künstler zerstörenden
Zeit, die Opitz sogar eine Verurteilung wegen »gesellschaftlichen Mißverhaltens«
einbrachte.
1996, rechtzeitig zum 450. Todestag des Reformators, erschien im Göttinger
Steidl Verlag Opitz’ Romanerstling, die Martin-Luther-Phantasie »Klio, ein
Wirbel um L.«. Es ist ein knapp 200 Seiten langer, wild zusammengeflunkerter
Biographie-Entwurf voll derbem Spott und wüsten Zoten und einem ebenso umfangreichen,
gelehrig-dreisten Anmerkungsapparat mit vielen Anspielungen auf Schriftstellerkollegen
und Seitenhieben auf die Nachwende-Gegen-wart. Die arnoschmidtsche Diktion
der früheren Werke ist zugunsten eines kräftigen, freien und äußerst erfindungsreichen
Luther-Deutsches zurückgetreten, ein Stil, den auch Thomas Kapielski in
seinen Büchern oft und meisterhaft verwendet. Ohne Zweifel zählt »Klio,
ein Wirbel um L.« mit seinen zwei Lesebändchen zu den bemerkenswertesten,
eigenwilligsten und hübsch gestaltetsten deutschsprachigen Romanen der letzten
Dekade, der seinerzeit aber leider nur wenig und kaum außerhalb des Literaturbetriebs
wahrgenommen wurde. Ähnlich erging es übrigens auch Opitz’ Verlagskollegen
Michael Rutschky mit dem meisterhaften Großessay »Lebensromane« (1998) und
Stephan Wackwitz mit seinem satirischen Roman »Walkers Gleichung« (1996).
Maßgeblichen Anteil am Entstehen von Detlef Opitz’ zweitem, 2005 im Eichborn
Verlag Berlin erschienenen Roman hat, wie der Leser zu Beginn des Buches
erfährt, sein alter Verleger. Im Laufe der Nachforschungen zu einem von
Gerhard Steidl angeforderten kurzen Text über Goethe stieß Opitz auf Johann
Georg Tinius (1764-1846), einen sächsischen Pfarrer und laut Lexikon »Räuber
und Mörder aus Büchersammelwuth«. Sieben Jahre lang recherchierte Detlef
Opitz zu diesem Thema, besuchte Archive, studierte Gerichtsakten ... Den
Text über Goethe lieferte Opitz nicht ab, dafür, neun Jahre nach Erscheinen
seines ersten Romans, diesen wundervollen und wunderlichen, rund 350 Seiten
dicken Schmöker.
»Der Büchermörder« nähert sich dem kriminellen Bibliophilen, der zur Finanzierung
seiner Sammelsucht nicht nur Kirchengelder unterschlagen, sondern auch zwei
Morde begangen haben soll und in einem spektakulären, mehr als zehnjährigen
Indizienprozeß 1823 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, auf vielerlei
Weise. Zum einen rollt Opitz in seinem Roman den Fall neu auf, präsentiert
Zeugenaussagen, Vernehmungsprotokolle und belastende Kassiber des die Taten
zeitlebens leugnenden Angeklagten, andererseits aber bemüht sich Opitz auch
um eine Typisierung von Tinius’ Charakter und präsentiert Zeitungsartikel
über mordende Pfarrer, beschreibt andere Büchersammler und verfolgt die
Spuren früherer Tinius-Forscher bis nach Amerika. Und zu guter Letzt ist
Detlef Opitz selbst ein Bücherschwärmer und begeistert sich in seinem Buch
für einzelne Stücke der Sammlung des Magister Tinius, die nach dessen Verurteilung
zwangsversteigert und in alle Winde verstreut wurde.
Ebenso abwechslungsreich ist der stilistische Reichtum des Buches. Opitz
spricht viele Sprachen, Dialekte und Stimmen, er springt vom Amts- und Kanzleideutsch
zum Kneipengespräch der Gegenwart und eröffnet auf vielen Druckseiten mit
Randbemerkungen zusätzliche Sprach- und Textebenen. »Der Büchermörder« ist
zwar kein geradliniger Kriminalroman, ganz im Gegenteil, aber ein spielerisches
»Criminal« und für Freunde der Literatur und deutschen Sprache ein großer
Spaß. Das Buch beginnt mit einem lateinischen Vorsatz, es folgen ein Schopenhauer-Zitat
in Spiegelschrift, eine Widmung, ein Motto, zwei Prologe ... So vergehen
dreißig Seiten. Selbst die klein- und enggeschriebene Danksagung am Ende
des Romans beansprucht gut acht Seiten für sich und ist der letzte der vielen
Höhepunkte des Buches. In ihr findet Opitz Gelegenheit, auf die »blutlosen
feuilletonschnecken und -pimmel« zu schimpfen, sich über einen früheren
Leiter des New Yorker Goethe-Instituts, der ihn um einen Teil seines zugesagten
Honorars geprellt haben soll, zu beklagen, und sogar eine persönliche Verfehlung
– den Aktendiebstahl während eines Archivbesuchs – zu gestehen: »das für
mich wichtigste [Dokument] darunter war die scheidungsklage der frau tinius.
leider mußte ich sie stehlen, weil, wie gesagt, meine zeit nicht für die
entzifferung & eine zuverlässige übertragung ins heutige schriftdeutsch
reichte. die klageschrift liegt heute, in feines tuch gehüllt, in einer
häßlichen und überproportional großen dokumentenmappe, die ich eigens dafür
anschaffte, sie wartet derart wohlbehütet auf eine gelegenheit, zurückgeschmuggelt
zu werden.« Angesichts der vermeintlichen Verbrechen des Magister Tinius
nimmt sich diese Untat allerdings harmlos aus.