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Oliver Bendel

aus: Nachrückende Generationen

Nelli liegt im Bett, man sieht sie ruhig schlafen, halb zusammengerollt, wie ein Tier. Die Bettdecke ist auf den Boden gerutscht, ein weicher, noch etwas warmer Haufen. Es ist ihre Wärme, die darin steckt. Gleich wird sie aufwachen, weil ein neuer Tag angebrochen ist.
Sie ist 14 Jahre alt, 165 cm groß und 48 Kilo schwer, hat lange braune Haare, grüne Augen und ein Bauchnabelpiercing. Ihr weißer Arsch zeigt zum Fenster, vor das nachlässig die roten Vorhänge gezogen sind. Unten ein grüner Baum, ein Blumenbeet, eine Hecke, dahinter gleich die anderen Häuser, aufgereiht an einer kleinen, langen Straße.
Als sie erwacht, ist sie erschöpft. Sie überlegt, ob sie schlecht geträumt hat, erinnert sich aber an nichts. Sie streckt sich, bis sich ihre Glieder besser anfühlen. Dann lauscht sie in die Stille des Morgens. Die Mutter ist schon aus dem Haus. Sie wird vielleicht abends oder nachts heimkommen, wer weiß.
Nelli wird heute eine Entschuldigung schreiben für die Schule und die Unterschrift ihrer Mutter daruntersetzen. Sie versteht nicht, warum man einer Unterschrift glaubt: Es sind ein paar Zentimeter Farbe, mit einem Kugelschreiber aufs Papier gebracht. Und darauf war die Welt gebaut.
Sie geht ins Bad nebenan und steigt in die Dusche. Die Wassertropfen in der Wanne sind von ihrer Mutter, aber sie könnten auch von ihr selbst sein vom vorhergehenden Tag. Keine Ahnung, wie alt Tropfen werden. Sie lässt heißes Wasser über ihren Körper laufen, bis er sich allmählich rötet. Die Haut an den Fingerspitzen bleibt weiß und zieht sich zusammen. Wenn Nelli ihr Gesicht betastet, fühlt sie alte Hände. Sie nimmt den Brauskopf und richtet ihn wie eine Waffe gegen einzelne Körperteile. Das Wasser schießt heraus und trifft auf ihren Bauch. Der wird hart nach einer Weile, gefühllos, wie von einem anderen Menschen.
Nach dem Duschen rasiert sie sich. Sie hat keinen starken Haarwuchs, aber einmal in der Woche die Beine und die Muschi, unter den Armen weniger oft. Ob sie mit einem Jungen zusammen ist oder nicht, macht keinen Unterschied. Es ist ein Ritual, das dazugehört, und nun ist es soweit. Wachs kommt nicht in Frage, so viele machen das, aber es kommt nicht in Frage, für die Muschi schon gar nicht.
Zuerst sind die Beine dran, die brauchen Zeit, aber es ist nicht so schlimm, wenn man etwas falsch macht. Große, gleichmäßige Bewegungen, über die immer glatter werdende, noch etwas blasse Haut. Dann die Muschi einschäumen, einen Fuß auf den Badewannenrand, von unterhalb des Bauchnabels und vom Hintern kommend zuerst die größeren Flächen, dann langsam der Mitte zu, wo es gefährlich wird, ganz vorsichtig an der Spalte entlang, balancierend, und schließlich zurück in die Obhut der Schenkel und auf die weiten, glatten Flächen der Haut.
Sie fährt noch mit einem Roll-on in ihren Achselhöhlen herum, sie kontrolliert das Gesicht und trägt das Nötigste auf. In ihrem Zimmer schlüpft sie in einen rosaroten String und zieht eine blaue, enge, dünne Jeans ohne Gesäßtaschen darüber. Ein weißes, bauchfreies Shirt, schon ist sie fertig.
Mit einem Ruck zieht das Mädchen die Vorhänge ganz auf. In der Frühe hat es wohl noch geregnet, sie sieht die großen, hellen, fast rechteckigen Flecken, die von den parkenden Autos zurückgeblieben sind. Die Sonne kommt heraus, die Straße beginnt zu dampfen, die Flecken scheinen sich auszubreiten, die ganze Straße als heller, grauer Fleck, nur hier und da mit dem Schatten eines Baums.
Sie nimmt ihr Handy, keine SMS seit gestern Abend, bis auf eine von ihrer Freundin Sara. Sie simst zurück, jetzt fliegt die Nachricht durch die Luft, jetzt kommt sie an.
Dann fährt Nelli ihr Notebook hoch, schaut kurz in ihren Lieblingschat, als schlampe14, sie ist schon zwei Jahre dabei, damals hat sie sich den Nick geholt, der zum Glück noch frei war und der sie mit einem Schlag zwei Jahre älter gemacht hat. Zwei Jahre, die nun eingeholt sind. Sie geht auch mit anderen Nicks hinein, aber diesen mag sie am liebsten.
Ein Bot hat sie eben begrüßt, willkommen schlampe14. Am Anfang hat Nelli zurückgegrüßt, dann hat sie begriffen, dass es Maschinen sind. Der Bot ist zu schnell beim Grüßen, kaum taucht der Name im Raum auf, kommt die Begrüßung. Wenn man den Chat verlässt, wird man nicht verabschiedet. Man ist zu schnell für den Bot. Er kann das Verschwinden nicht voraussehen. Außer, er ist selbst für das Verschwinden verantwortlich. Dann sagt er etwas Böses und wirft einen hinaus.
Sie fängt mit einem Jungen eine Partie Schiffeversenken an, aber er geht, nachdem sie seinen Flugzeugträger gefunden hat. Sie klickt noch ein paar andere im Chat an, Jungen und Mädchen, Alterslose, Geschlechtslose, Unbekannte, aber alle sind beschäftigt, alle in den Dias, die die anderen nicht sehen.
meld dich später nochmals ok
ok
bye
cu
Danach geht sie aus ihrem Zimmer und links die hölzerne Treppe hinunter. Sie streift durch die Küche und findet einen Rest Auflauf, den sie sich irgendwann aufwärmen kann. Zum Frühstück ist Brot zum Aufbacken da, Butter, Marmelade, aber sie hat keinen Hunger, ein Müsli und ein Glas Saft genügen.
Sie nimmt die Sachen mit ins Wohnzimmer und legt sich auf das Sofa. Die Möbel sind dort hingestellt, wo sie Platz haben. In regelmäßigen Abständen hängen Bilder an der Wand. Ein Bild fehlt, man sieht nur einen kleinen, hellen, rechteckigen Fleck stattdessen. In einem Regal stehen ein paar hundert Bücher, alle wie früher einmal gelesen und dann nie wieder.
Sie isst und trinkt hastig und steckt sich eine an. Ihre Mutter raucht auch, ab und zu lüften, dann passt das schon, auf jeden Fall im Wohnzimmer. Nebenbei laufen Videoclips, sie zappt von Kanal zu Kanal, nichts gefällt ihr richtig. Sie singt einmal mit, auf Englisch, aber der Text ist immer ein anderer. Auch die Nachrichten und Fotos am unteren oder linken Bildrand interessieren sie nicht. Sie weiß nicht, wer das textet und wer sich das anschaut. Sie nicht. So vergeht die Zeit.

aus: „Nachrückende Generationen“, Roman, © ERATA 2006


aus: Künstliche Kreaturen

Was für ein Glück, hoffentlich, hier zu sein. Die Wohnung ist immer noch kleiner als die in ihrem Kopf, im dritten Zimmer vermisst Anna die Türe zum vierten. Sicher wird bald das deutliche Nichtvorhandene an der Wand zugewachsen sein vom undeutlichen Vorhandenen. Die Wohnung ist nur nach innen klein, nach außen ist sie groß durch den Blick aus dem zweiten Zimmer auf den Berg. Der Berg ist nicht weit, aber weit genug, dass er in den Rahmen passt zusammen mit den zwei Fahnen des Himmels und der um ihn kreisenden Sonne, zusammen mit den Fahnenhaltern, den Hügeln zu beiden Seiten, und den Ausläufern der Stadt im Tal. Die Stadt ist nah, unter ihr, der Berg dort, nicht fern.
Sie räumt Bücher aus den noch am besten erhaltenen Kartons in die Regale. In jedes Buch schaut sie hinein, sucht nach Zeichnungen, Kaffeeflecken, Notizen. Die meisten Bücher sind leer, irgendwann hat sie aufgehört, etwas neben die Texte zu schreiben. Oder etwas zu verschütten. Oder etwas an den Rand zu zeichnen, als Studentin hat sie das zuletzt getan, an der Universität in Fachbüchern und zu Hause in Dichtungen. Etwas zum Inhalt oder zur Geschichte, wenn die Gedanken noch nah, oder ein Tier oder eine Pflanze, wenn sie schon weit weg waren.
Obwohl sie promovierte und habilitierte Informatikerin ist, werden bloß zwei Regalbretter voll mit Fachbüchern sein, die restlichen Bretter mit Romanen und Gedichtbänden bestückt, dazu noch Mythen, Sagen und Legenden, die sie früher eher zögerlich gelesen hat und in der Zwischenzeit für eine Vorlesung braucht. Wieder kommt in der Reihe ein leeres Buch da-zu, das mit seiner beschriebenen Rückseite die beschriebene Vorderseite des letzten bedeckt. Allmählich kann der Blick über die Buchrücken schweifen, die Autoren und Titel erah-nen. Nur die ausländischen Bücher lassen innehalten, den Kopf um 180 Grad drehen.
Wenn sie nachts zur Toilette geht, findet sie die Lichtschalter nicht oder nicht auf Anhieb. Sie drückt an der falschen Stelle, dort, wo bisher der Schalter war. Es ist seltsam, die Tapete zu spüren, wenn man Plastik erwartet, aber noch seltsamer, wenn sich nichts drücken lässt, sondern beinahe etwas ande-res drückt. So bleibt jeder Raum, den sie durchquert, dunkel, bis zum Klo, wo sie nach einiger Suche das Licht an-, dann aber wieder ausmacht, weil sie gern im Dunkeln pinkelt. Im Dunkeln tappt sie auch zurück, bis sie auf das Bett trifft, das sie verlassen müssen hat.
Es ist das erste Mal, dass sie im Ausland arbeitet. Es ist nur die Schweiz, aber man hat ihr gesagt, dass die Schweiz ein Ausland ist, nicht nur eine Fortsetzung des eigenen Lands im Süden. Sie hat erstmals eine Aufenthaltsgenehmigung gebraucht. Die Universität, an der sie in einer Woche anfangen wird, erklärte und half. Auf dem Ausländeramt hat sie unbeholfen wirken wollen, obwohl sie sich eigentlich beholfen gefühlt hat. Einzig in der Sprache fühlt sie sich tatsächlich unsicher, selbst wenn sie ihren eigenen Namen sagt, Anna Wede. Das andere ist fast wie Urlaub.
Die Wohnung hat Anna gesehen und geliebt. Das aus dem vorletzten Jahrhundert stammende, stellenweise mit sichtbarem Fachwerk durchsetzte und von einem mächtigen Dach geschützte Haus. Der lichtdurchflutete Hausflur mit der emporsteigenden, läuferbelegten Holztreppe. Im ersten Zimmer, das ein geräumiges Entrée mit Einbauschränken ist, eine Ahnung von Glück. Im zweiten Raum das die Wand auflösende Fenster, der auf den Berg zufallende Blick, das mühsame Sicheinstellen des Auges auf das nahe Weite. Dann durch das Drehen des Kopfs das Erkennen der hohen Decke, der halb-hohen Täfelungen, des alten Parketts. Im dritten, schmalen Zimmer der Erker, den sie von außen und unten betrachtet hat und den sie jetzt oben wie nackt sieht, mehr noch, von innen. Das Licht, das von den schmalen Scheiben des Erkers durchgelassen wird und nicht bis in die hintersten Ecken dringt, aber bis zur Mitte der Wand. Dorthin, wohin sie nun zeigt und sagt: Kein viertes Zimmer? Keine Tür, die weiterführt? Nein, aber auf der anderen Seite noch ein Bad und eine Küche.
Küche und Bad blicken mit ihren Fenstern, das eine riesig, das andere winzig, zur Holztreppe hin, die von der Stadt zu ihr hinauf und bis zur Spitze ihres Bergs reicht. Sie wohnt also auch auf einem Berg, ein kleiner Berg, wie er direkt vor einer Stadt sein kann, ohne diese einzuengen. Das Tal, in dem die Stadt liegt, ist eines, das diese jederzeit verlassen könnte. Das tut sie in der Tat an der einen oder anderen Stelle, sie tritt über die Ufer des Tals, benetzt die Hügel auf der gegenüberliegenden Seite mit ihren Häusern.
Die Holztreppe bringt einen nach oben zu einem Internat, dessen Gebäude von rosaroten Zäunen eingefasst und durch teilweise nur für Befugte betretbare Wege miteinander verbunden sind. Wenn man weitergeht, sieht man auf der einen Seite den Berg, auf der anderen den See. Auf der Spitze des Bergs der erste frische Schnee, obwohl erst September ist, die Oberfläche des Sees bedeckt von unzähligen Segeln. Der Weg führt auf dem Kamm entlang, als müsste man sich bei jedem Schritt entscheiden. Weiter ist sie nicht vorgedrungen, an den drei Tagen, an denen sie am Rande der Stadt zu wohnen gekommen ist.

aus: „Künstliche Kreaturen“, Roman © ERATA 2008

 

 


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