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Bella Achmadulina

geb. 1937, hat tatarische, russische und italienische Wurzeln, Studium am Maxim-Gorki-Institut, Ehen mit Jewgeni Jewtuschenko, Juri Nagibin, Eldar Kuliev und Boris Messerer, schrieb Lyrik, vielbeachtete Essays und übersetzte, starb 2010.

Veröffentlichung im LLV

Bella Achmadulina - Viele Hunde und der Hund

Bella Achmadulina konnte staunen über die Schönheiten und Wahrheiten des Lebens wie ein Kind. Indem sie
schreibt, versichert sie sich dieser Wunder, der tröstlichen wie der traurigen, und sie findet Worte – oft alte, aus früherer Zeit überkommene –, um uns teilhaben zu lassen, uns unser Staunen aus Kindheitstagen zurückzugeben. Eine Reihe von Gedichten beschreibt die herbe Schönheit der Küsten- und Seenlandschaft nördlich von Sankt Petersburg. Themen zu behandeln, die den Leser bewegen, wie Freundschaft, Trauer um menschlichen Verlust beim Weggang vertrauter Menschen, Achtung vor der Schöpfung, Verteidigung gewachsenen alten Kulturguts, das im Zuge der Moderne vernichtet wird – das ist Dichtung, die von der Welt Kenntnis nimmt und die sich an die Welt wendet. Dabei setzt die Dichterin sich hohe Maßstäbe, quält sich, sie will die Dinge nicht mit raschen Worten benennen, sie nicht einfach beschreiben: sie will das Geheime,
fast Unaussprechliche in ihnen finden.

In der Prosa fasziniert besonders die Erzählung Viele Hunde und der Hund. Sie erinnert an einen Schelmenroman, dessen Hauptgestalt Schelaputow ist, der unter rätselhaften Umständen schwachsinnig wurde. Die Dinge aus seiner kindlichen Perspektive zu sehen, erlaubt der Autorin eine naive Erzählweise: schlicht und poetisch. Auch geschichtliche Ereignisse kommen ins Bild: die Vertreibung der Griechen im Osmanischen Reich oder, in der zweiten Erzählung, die Hinopferung von Menschen für Stalins Großbauten. So reiht sich Bella Achmadulina ein unter die großen russischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts: Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa. Zu glauben, sie verdiene die dritte in dieser Reihe zu sein, war sie selbst zu bescheiden. Doch sie gehört in diese Tradition.

Stimmen

Verschmolzen mit Menschen und ihren Worten
von Volker Strebel, fixpoetry

Mit ihren Werken und ihrem Verhalten eckte sie immer wieder an
Karlheinz Kasper, in: Osteuropa, 1-2014, S. 9f.

Nach Achmatova und Cvetaeva war Bella Achmadulina (1937–2010) die dritte Grande Dame der russischen Poesie des 20. Jahrhunderts. Mit ihren Werken und ihrem Verhalten eckte sie immer wieder an: weil sie die Verleihung des Nobelpreises an Pasternak nicht verurteilte, weil der Gedichtband Schüttelfrost 1968 in Frankfurt
am Main erschien, weil sie sich für Solženicyn, Sacharov, Kopelev, Aksenov und Vojnovič einsetzte, weil ihre Erzählung Viele Hunde und der Hund 1979 in dem illegalen Almanach Metropol’ abgedruckt wurde. Für ihr Lebenswerk erhielt sie 1994 den russischen Triumph-Kunstpreis und den Puškin-Preis der Alfred Toepfer Stiftung.

Achmadulinas Vater, ein Tatare, war ein hoher Sowjetbeamter, ihre Mutter, russischitalienischer Herkunft, Übersetzerin beim KGB. Bella, radikal in ihrem Lebensanspruch, war mit den Schriftstellern Evgenij Evtušenko, Jurij Nagibin und Gennadij Mamlin, dem Filmproduzenten Ėl’dar Kuliev und dem Bühnenbildner Boris Messerer
verheiratet. Ihre Werke wurden in vielen Ländern übersetzt. Auf Deutsch lagen bisher zwei Gedichtbände vor: Musikstunden (Volk & Welt, 1974) und Das Geräusch des Verlusts (Institut für Buchkunst Leipzig, 1995). Erich Ahrndt, der sich schon mit seinen Achmatova-, Cvetaeva- und Esenin-Übertragungen einen Namen gemacht hat, stellt in dem Band Viele Hunde und der Hund aus dem Leipziger Literaturverlag jetzt 34 Gedichte und zwei Erzählungen vor. Die junge Achmadulina liebt den elegischen Ton, wie er etwa das Gedicht In meiner Straße schon so manches Jahr prägt. Es beklagt den Verlust der Freunde, das Erkalten der Liebe, die Angst vor der Einsamkeit und wurde populär, nachdem Alla Pugačeva es in Ėl’dar Rjazanovs Film Ironie des
Schicksals sang. Ahrndt hat für seine Ausgabe zahlreiche Widmungsgedichte ausgewählt:

Es langweilt schon, auch kommt mir’s nicht gelegen, / zu reden über den berühmten Freund, in dem Achmadulina ihre Eigenständigkeit gegenüber ihrem Mann und Dichterkollegen Evgenij Evtušenko verteidigt, Dem Gedenken an Boris Pasternak, in dem die Dichterin sich vor dem verehrten Idol verneigt, oder Die Zeile, worin sie Achmatova und deren 1958 in Komarovo geschriebenes Sonett vom Meeresstrand würdigt. Dass sie Achmatova, die ihr nicht gerade freundlich begegnete, nicht nur positive Gefühle entgegenbrachte, beweist das Gedicht Ich beneide sie. Das Marina Cvetaeva zugeeignete Gedicht Musikstunden mündet in dem Wunsch, „dass ich es schaffe, einmal nur, dies eine / Mal laut zu schrein: ich bin wie du, wie du! / Ich schrie es ja auch gerne – doch ich weine.

Wie ihre Lyrik ist auch Achmadulinas Prosa stark verfremdet. Viele Hunde und der Hund, Vasilij Aksenov gewidmet, ist ein surrealistischer Text, der an Aksenovs „Novelle mit Übertreibungen und Traumgesichten“ Defizitposten Fassleergut erinnert. Handlungsort ist das an der Schwarzmeerküste
gelegene Dioskuria. Šelaputov, der Protagonist, hat Verstand, Sprache, Gehör, Geruchssinn und Gedächtnis verloren, seine Wahrnehmungen und Handlungen widersprechen der gewöhnlichen Logik. Das gilt in Bezug auf die den Text bevölkernden Hunde und den Hund Ingurka ebenso wie für das in nebelhaften Konturen
belassene historische Geschehen.

Die Erzählung Betrachtung einer Glaskugel beschwört eine gläserne Kugel, die die Fähigkeit besitzt, „des Schicksals Nebel zu lösen“. Ein „deutscher Dichter“ (der Leipziger Lyriker Peter Gosse) hat sie der Autorin in Münster geschenkt. Diese Glaskugel regt Achmadulina zu dem Gedanken an, dass „alle Schicksale und Ereignisse, Wesen und Stoffe“ des Interesses und der künstlerischen Darstellung wert seien – ein Satz, der die Grundformel ihrer Poetik sein dürfte.

 

 

 

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